Mittwoch, 20. August 2014

Rückblick (4): Zuschauerzahlen 2013/14

Die aufmerksamen Stammzuschauer des Badischen Staatstheaters waren von den Besucherzahlen der Spielzeit 2013/14 überrascht und irritiert. Und tatsächlich scheint es diskutabel, wie seriös sich das Badische Staatstheater mit seinen Zahlen präsentiert.

Im Vorwort zum Magazin Nr. 12 schreibt Peter Spuhler: "Zum Ende der vergangenen Spielzeit konnten wir uns erneut über gestiegene Besucherzahlen freuen (335.000)."

Bei den langjährigen Besuchern des Badischen Staatstheaters wurde die Freude wahrscheinlich schnell durch Skepsis überlagert. Und tatsächlich: Besucherzahlen sind keine Zuschauerzahlen. In Karlsruhe hat man in der Spielzeit 2013/14 ca. 305.000 Eintrittskarten für Vorstellungen des Badischen Staatstheaters abgesetzt.

Wie kommt die Fehldifferenz von ca. 30.000 Besuchern zustande?
Einerseits sind das Abonnenten und Zuschauer anderer Theater, die Gastspiele des Badischen Staatstheaters in anderen Städten besucht haben, auch die thailändischen Besucher, die das Gastspiel des Badischen Staatsballetts in Bangkok sahen oder den Tannhäuser in Korea. Dazu kommen all die Besucher, die ohne Eintrittskarte bei kostenlosen Veranstaltungen, Begleitprogrammen und Führungen zugegen waren. In den offiziellen Statistiken und Jahrbüchern zählt das meines Wissens nicht: dort wird man die oben genannte niedrigere Zahl finden.

Zahlen im Überblick
305.000 Eintrittskarten für Vorstellungen des Badischen Staatstheaters in Karlsruhe und dennoch ist die Auslastung auf ca. 80% gesunken (2012/13: 85%, ca. 300.00 Eintrittskarten / 2011/12: 81%, ca. 275.500 Eintrittskarten / 2010/11: 84%, ca. 277.000 Eintrittskarten)
Der Grund für die gesunkene Auslastung liegt darin, daß die Anzahl der Vorstellungen massiv gestiegen ist. Gab es 2011/12 noch 786, waren es 2012/13 bereits 883 und in der letzten Saison 985 Aufführungen. (Zum Vergleich: 1989/1990: 554 Vorstellungen mit ca. 365.000 Zuschauer und 90% Auslastung.) Es gibt also so viele Vorstellungen wie noch nie, der Besucherzuwachs ist quantitativ erzeugt.

Im Kritik-Kreuzfeuer
Wieso diese seltsame und mit früheren Jahren nicht vergleichbare "Besucherzahl"? Ist das nur Public Relations? Die Zahl wird aber nur von wenigen wahrgenommen und selten hinterfragt. Die Karlsruher Intendanz fühlt sich anscheinend nicht fest im Sattel sitzend. Man könnte den Eindruck haben, als ob es sich um eine geschönte Gesamtzahl handelt, die der Intendanz etwas Luft und Zustimmung verschaffen soll. Peter Spuhler hat noch einen Vertrag für die nächsten sieben Jahre, um die Sanierung und den Neubau zu erledigen. Doch mit einer anderen Baustelle scheint es mehr Mühe zu geben: die Hebung der künstlerische Leistungsfähigkeit in Schauspiel und Oper sollte endlich stärkere Aufmerksamkeit bekommen und Resultate zeigen. Es fehlt an Souveränität in beiden Sparten.

Fazit: Das Badische Staatstheater gibt ein gutes Beispiel, wie aussageschwach Statistiken sein können. Belastbare und aussagefähige Zahlen sind in Karlsruhe nicht transparent. Was quantitativ positiv erscheinen mag, kaschiert aktuell nur die Probleme und qualitativen Defizite am Haus.

Freitag, 25. Juli 2014

Rückblick (3) - Die Spielzeit 2013/14 des Badischen Staatstheaters

Die Kunst ist, das Gesamtpaket zu schnüren
Das Badische Staatstheater ist auch drei Jahre nach dem Intendanzwechsel noch nicht auf dem angemessenen Leistungsniveau angekommen und vor allem künstlerisch hat die Intendanz Spuhler weiterhin ihre Defizite. Doch am Ende einer langen Spielzeit soll etwas anderes zu Beginn stehen:

Viel Lob für Ballett, Orchester, Chor und Einzelkünstler

Wieder einmal glänzte das Karlsruher Ballett und der Höhepunkt war Reginald Oliveiras spannende Choreographie in der Mythos-Trilogie. Viele Opernsänger und einige Schauspieler konnten Ausrufezeichen setzen, die Händel Festspiele waren im besten und schönsten Sinne Festspiele. Viele leisten Abend für Abend Besonderes und folgende möchte ich hervorheben:

And the Oscar goes to......
  • Bruna  Andrade und Flavio Salamanka in Reginaldo Oliveriras Der Fall M. des Mythos Ballettabends!
  • Armin Kolarczyk als Oppenheimer in Dr. Atomic und Beckmesser in den Meistersingern - für mich der Sänger der Spielzeit!
  • großartige Sänger im Maskenball: Ewa Wolak und Barbara Dobrzanska sowie Andrea Shin und Seung-Gi Jung boten hochspannende Aufführungen!
  • Franco Fagioli für sein Solo-Konzert und seinen Auftritt im unvergesslichen Riccardo Primo!
  • Lisa Schlegel als unersetzbare und unvergleichliche Darstellerin in Richtfest und Benefiz!
  • Gunnar Schmidt schuf für mich mit seiner großartigen Interpretation des Soziologieprofessors Ludger in Richtfest die Figur der Saison - komisch mit jeder Faser. Bravo!
  • Chor und Orchester, die konstant ihr Potential abrufen!
  • den Kartenvorverkauf, der mir seit Jahr und Tag kompetent hilft, meine vielen Eintrittskarten zu bekommen!
 
Publikumsliebling Ballett   

Der tänzerischen und körperlichen Leistungsfähigkeit des Karlsruher Staatsballetts kann man nur höchsten Respekt zollen. Und tatsächlich hat man die Besucherzahlen um sensationelle 9% gesteigert. Das Ballett Birgit Keils ist die Vorzeigesparte bei der das Gesamtpaket aus Qualität, Anspruch und Umsetzung stimmt.

Oper im Abseits

Die Besucherzahlen der Oper stagnieren (trotz oder wegen der Programmgestaltung, je nach Standpunkt) in den letzten drei Jahren auf niedrigem Niveau. Zum Glück hat man immer noch ein sehr treues Publikum in Karlsruhe. Wenn es nur nach Zahlen gehen würde, müsste man zwar nicht den (jetzt kommenden) Abgang der Opernleitung fordern, aber ein Überdenken der bisherigen Planungsweise erscheint notwendig. Für Opern-Liebhaber war es in den letzten drei Jahren ein Programm, das viel Neues und Ungehörtes nach Karlsruhe brachte, aber zu selten restlos begeisterte: programmatisch oft zu ernst und zu sperrig, mit teilweise wenig variablen Monatsprogrammen und zu wenig Fokus auf die Sänger. Man kann gespannt sein, welche Änderungen der neue Operndirektor vornehmen wird und welche Sänger er austauscht bzw. holt.

In der Oper gab es in der abgelaufenen Spielzeit die ganze Bandbreite an Erlebnissen. Das Jahr bot einen stabil inszenierten Maskenball, die Fledermaus war hingegen nur ein Hörerlebnis, das visuell keine mehrfachen Besuche lohnte. Dr. Atomic lag zwischen Hochspannung / Begeisterung (1.Akt) und Langeweile (2.Akt). Die Händel Festspiele waren das Highlight der Spielzeit mit einer fast perfekten Zusammenstellung und einem Riccardo Primo, der überregional viel für das Badische Staatstheater erreichte. Wagners Meistersinger erwiesen sich als grandios und sehr speziell: umstritten, spannend und selbstbezüglich. Der Doppelabend Ravel/Strawinsky zeigte Ordentliches. Gerade erst erfolgte mit Boris Godunow die letzte, wieder nur musikalisch überzeugende Premiere.

Die kommende Spielzeit liegt noch überwiegend in der Verantwortung von Schaback/Feuchtner. Folgende Programmlinien lassen sich über die vergangen drei Jahre und die kommende Spielzeit identifizieren:
  • Wagner: Lohengrin - Tannhäuser - Meistersinger -> Parsifal
  • Französische Oper: Berlioz - Spontini - Ravel/Strawinsky  -> Gluck
  • Oper des 20. Jahrhunderts: Delius - Britten - Ravel/Strawinsky -> Krása
  • Politische Oper: Wallenberg - Die Passagierin - Dr. Atomic -> Fantasio
  • Operette: Offenbach - Künneke - Strauss -> Offenbach
  • Verdi: Rigoletto -  / - Maskenball -> Falstaff
  • Händel Festspiele: Alessandro - Triumph of ... - Riccardo I. ->Teseo
Der neue Operndirektor Michael Fichtenholz hat bereits angekündigt, daß Wagner-Opern und zeitgenössische Werke weiterhin einen Programmbestandteil ausmachen sollen. Aber wen überrascht das? Die langjährigen Stammzuschauer kennen die Erfolgsformel und Hausgötter: Händel - Mozart - Wagner - R. Strauss, dazu ausgewogen Modernes, Italienisches und Französisches, Bekanntes und Ausgrabungen. Die Kunst ist, das Gesamtpaket zu schnüren.

Konzertprogramm mit Handschrift
Auch bei den Konzerten hat sich in den letzten Jahren einiges getan und vor allem wurde hier bisher der Mut belohnt, weniger Bekanntes und Neues zu spielen. Die Zuschauerzahlen sind auf hohem Niveau fast konstant. Vorbildlich und spannend auch in der kommenden Konzertsaison, auf die man sich freuen kann. Bravo!

Weniger Lob
Zur vermeintlichen Halbzeit der damals noch nicht verlängerten Intendanz hatte ich einige Kritikpunkte (die sich hier befinden). Vielleicht lege ich heutzutage einfach den falschen Maßstab an, wenn ich vom Badischen Staatstheater erwarte, mich zum Nachdenken zu bringen, mich zu inspirieren, zu begeistern oder zu verblüffen, um mich Jahre später noch an besondere Momente, Aufführungen und Inszenierungen lebhaft erinnern zu können. Intendanz (mehr hier im ersten Teil des Rückblicks) und Schauspiel (mehr auch hier in Teil 2) bewegen sich bisher nicht auf der Höhe meiner Erwartungen, dem Gesamtpaket mangelt es (noch) an Substanz.

Besucherzahlen steigen um 3%!
Bei den Gesamtbesucherzahlen (ca 310.000) kann man sich glücklicherweise dennoch weiter stabilisieren. Das Ballett ist weiterhin mit 90% Auslastung Spitzenreiter (ca 52.500 Zuschauer) und hat den größten Zuwachs. Quasi stagnierende Besucherzahlen haben 2013/14 Oper (ca 104.500 Besucher ), Konzert (ca 36.000) und das Kindertheater (ca 33.000). Auch im Schauspiel (ca 85.000) legte man trotz weiterhin bestehender Defizite zu, doch hier hat man am stärksten aus seinen Fehlern gelernt. Das Karlsruher Schauspiel ist allerdings auch das beste Beispiel, daß gute Zahlen kein Beleg für gute Qualität sind.
Es heißt zu Recht, man solle nur der Statistik glauben, die man selber erstellt hat. Leider agiert man am Badischen Staatstheater immer noch nicht transparent: komplette und belastbare Statistiken werden (noch) nicht veröffentlicht. Anscheinend konnte sich das Schauspiel durch die konsequenten Besuche von Schulklassen in den letzten beiden Jahren deutlich nach oben bewegen. Auch die Anzahl der Aufführungen hat man wahrscheinlich gesteigert und die bisherigen Mißerfolge wurden schneller aus dem Spielplan genommen. Interessant wäre in allen Sparten eine Aufgliederung der Besucherzahlen nach Vollpreis/Ermäßigungen/Stehplätzen, Abo/freier Verkauf, Anzahl der Aufführungen und Auslastung.

FAZIT: Das Ballett ist weiterhin die Lieblingssparte der Karlsruher, der Oper fehlen die Zuschauer, die es aufgrund seiner Bedeutung und Leistungsfähigkeit benötigt, während das Schauspiel vordergründig gut dasteht, obwohl es sich immer wieder hilf- und ratlos präsentierte und es an guten Hauptrollenschauspielern mangelt. Die Bemühungen und Anstrengungen um Normalisierung sind vorhanden, aber es mangelt der Intendanz bisher (noch) an künstlerischem Format.
Im Hinblick auf die notwendigen Veränderungen am Badischen Staatstheater kann man nur hoffen, daß Öffentlichkeit und Presse sich nicht mit oberflächlichen Analysen und vordergründigen Wertigkeiten abspeisen lassen. Erfolg ist Nachhaltigkeit ist Qualität. An einigen Stellen hat man in den letzten drei Jahren Strohfeuer entzündet, an deren Nachhaltigkeit man Zweifel haben muß.

In eigener Sache:

HERZLICHEN DANK für Ihr Interesse und Ihre Kommentare. Über 85.000 Seitenaufrufe in der abgelaufenen Spielzeit und überregionale Leser, die das Badische Staatstheater mit seinen Stärken und Schwächen, seinen Künstlern und treuem Publikum verstärkt wahrnehmen, sind weiterhin eine Verpflichtung dieses Tagebuch öffentlich zu halten.


ÜBERSICHT:
Oper:

Adams - Dr. Atomic
Britten - Peter Grimes
Händel - Riccardo Primo
Händel - Rinaldo
Mussorgsky - Boris Godunow
Ravel - Das Kind und die Zauberdinge
Strauß - Die Fledermaus
Strawinsky - Die Nachtigall
Verdi - Ein Maskenball
Wagner - Der fliegende Holländer
Wagner - Die Meistersinger von Nürnberg
Weinberg - Die Passagierin

Ballett:
Ballett-Gala
Mythos
Sissi (Gastspiel des Balletts Hannover)
Tschaikowsky - Dornröschen
Tschaikowsky - Nußknacker

Schauspiel:
Hübner/Nemitz - Richtfest 
Kaiser - Gas I/II
Lausund - Benefiz
Schiller - Kabale und Liebe
Schnitzler - Der einsame Weg
Shakespeare - Ein Sommernachtstraum
Williams - Endstation Sehnsucht

    
Konzerte:
8 Symphoniekonzerte
Franco Fagioli - Arien für Caffarelli

Diverses:
Händel Festspiele 2014
Theaterfest 2013


PS: Nur zum privaten Gebrauch / persönliche Statistik für die Spielzeit 2013/2014:
19 Opernbesuche / 11 Produktionen
9 Konzertbesuche / 9 Konzerte
8 Schauspielbesuche / 7 Produktionen
5 Ballettbesuche / 5 Produktionen
Theaterfest
Fazit: 42 Abende im Badischen Staatstheater. Es gab halt schon schönere Jahre: spannender, inspirierender, künstlerisch erfüllter ....

Donnerstag, 24. Juli 2014

Mussorgsky - Boris Godunow, 23.07.2014

Die Premiere (mehr dazu hier) kam beim Publikum gut an. Allerdings ist diese Zustimmung nur musikalisch berechtigt, denn gegen die Inszenierung kann man Vorbehalte anmelden.

Kein Haifischbecken, keine Unterprivilegierten
Man konnte mehr erwarten, vor allem nachdem Regisseur Hermann im Karlsruher Theatermagazin Nr. 11 ambitionierte Pläne hatte:

"Das Geniale bei Mussorgsky scheint mir, daß er die persönliche Situation von Boris unmittelbar mit einer politischen verbindet. Wir erleben diesen schwachen Zaren inmitten eines politischen Haifischbeckens und wissen nicht, ob wir ihn lieben oder hassen sollen. Genau diese Ambivalenz macht das Werk so faszinierend, die Sympathien des Publikums für einen vermeidlichen Mörder zu erwecken – ist er Opfer oder Täter? Und das unterdrückte russische Volk? Ich glaube schon, daß man versuchen muß, die Verlorenheit der weltweit Unterprivilegierten unserer Zeit darzustellen. Es scheint mir, als gebe es etwas wie eine Art internationale Armut, ein schwieriger Begriff; mal sehen, ob man das deutlich auf die Bühne bringen kann."

Für den Chor fand der Regisseur keine zufriedenstellenden Antworten. Das unterdrückte russische Volk hat hier keine Bedeutung und der Chor ist darstellerisch unterfordert. Auch das politische Haifischbecken ist eher ein Kleinfisch-Aquarium. Schuiski gewinnt nur durch die Darstellungskraft Matthias Wohlbrechts Profil, ansonsten verleiht ihm die Regie keine Haifischzähne. Auch Dimitri wird im Ur-Boris nicht zum Gegenspieler.

Der Feind ist die eigene Frage als Gestalt
Was bleibt? Die Karlsruher Inszenierung stellt die Titelfigur in den Mittelpunkt eines zu konturenlosen Umfelds. Anderes ist besser getroffen: verängstigte Kinder, dominante Amme und eine offene Gewaltbereitschaft Godunows zu Beginn. Mussorgsky zeigt Boris bereits mit seiner Auftrittsarie als unsicher und zweifelnd. Deshalb hatte die Regie den guten Einfall, die Rolle des Polizisten auch vom Darsteller des Boris singen zu lassen. Es heißt, der Feind ist die eigene Frage als Gestalt. Boris Godunow ist dieser Frage nicht gewachsen: seine Sorge um Legitimation und Machterhalt, um das Erbe und die Sicherheit seiner Kinder, um die Wohlfahrt der Bevölkerung, die von Hungersnöten geplagt werden - Boris muß sich von unlösbaren Fragen und damit teilweise unangreifbaren Feinden umzingelt fühlen und zerbricht daran. Die psychische Zerrüttung deutet an, daß Boris Godunow nicht hemmungs- und gewissenlos seine Pläne verfolgte. Godunow ist ein Herrscher mit Skrupeln und Gewissen. Sein Versuch ein guter Zar zu sein scheitert an den Umständen und Zeitläufen. Auch das hätte die Regie tragischer darlegen sollen. Der Regisseur wollte die Unentschiedenheit betonen, seine Regie spricht aber mehr über die eigene Unentschlossenheit des Ausdrucks.

Auf der Habenseite: Gorny, Kaspeli, Wohlbrecht, Shin und Weinschenk - die zentralen Figuren sind bestens durch hauseigene Sänger besetzt

Wer ihn nur in anderer Version kennt, muß sich an den unrunden Ur-Boris erst gewöhnen.  Schade, daß die Regie nicht stärker formt. So wirkt der Ur-Boris in seiner Gesamtarchitektur doch ein wenig holprig. Spätere Fassungen scheinen fürs Publikum attraktiver zu sein. Dennoch lohnt der Besuch zum Kennenlernen, denn musiziert und gesungen wird hörenswert.

Sonntag, 20. Juli 2014

Mussorgsky - Boris Godunow, 19.07.2014

Boris Godunow -ein zentrales Meisterwerk der russischen Oper- bekam gestern viel Applaus nach einer erfolgreichen und guten Premiere im Badischen Staatstheater. Leider blieb die Inszenierung zu konturenlos, viele Fragen bleiben nicht nur offen, sie werden gar nicht erst gestellt.

Geschichtlicher Hintergrund
Fast 40 Jahre lang hatte Iwan der Schreckliche (†1584) Rußland geknechtet, ihm folgte Iwans schwachsinniger Sohn Fjodor, für den Boris Godunow bis zu seinem Tod die Geschäfte führte, bevor er selber für sieben Jahre als Zar folgte, aber erst nachdem auch Iwans jüngster Sohn Dimitri im Alter von 8 Jahren tot mit einer Wunde am Hals gefunden wurde. Ob es sich um einen Auftragsmord oder einen Zufall der Geschichte handelte, konnte nie geklärt werden. Boris Godunow hatte später den Ruf des Prinzenmörders und mußte sich aber zu Lebzeiten mit einem falschen Dimitri beschäftigen - einem Hochstapler, der Anspruch auf den Thron erhob und die Legitimität Godunows infrage stellte.
Es war eine "Zeit der Wirren" für Rußland: schwach und zerstritten, wirtschaftlich verarmt und verwüstet. Godunow stabilisierte das Land, förderte den Handel und doch blieb es aufgrund der unklaren Machtverhältnisse anfällig und unsicher. Godunow starb aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands im Jahr 1605 in unruhigen Zeiten. Der falsche Dimitri kam danach kurz auf den Thron und wurde ermordet. Erst 1613 stabilisierte sich Rußland mit dem ersten Zaren aus der Dynastie der Romanows.

Versionsfrage
Mussorgsky hinterließ eine Ur-Fassung, eine später überarbeite Original-Fassung (bei der ein Bild fehlte und drei neue hinzugefügt wurden) und noch einen Klavierauszug letzter Hand. Dazu kommen noch verschiedene Umarbeitungen, Mischfassung und Neuorchestrierungen von Rimsky-Korsakow und Schostakowitsch. Über Vor- und Nachteile zu diskutieren, ist müßig. In Karlsruhe entschloss man sich für die erste Fassung, den Ur-Boris von 1869 in Mussorgskys eigener Instrumentierung, denn laut Regisseur  David Hermann: "Die Urfassung kommt den ursprünglichen Absichten des Komponisten am nächsten. Die späteren Fassungen haben auch ihre Meriten, aber sie kamen doch zu erheblichen Teilen durch Anregungen von Außen zustande".

Worum geht es? Oder in diesem Fall besser: Worum geht es nicht?
Der scheidende Chefdramaturg Dr. Bernd Feuchtner hat erneut ein hochinformatives Programmheft zusammengestellt. (Im Internet findet es sich zur Zeit hier als pdf).
Der Regisseur Hermann gibt die Idee vor: "Wie komme ich an die Macht und was macht sie dann mit mir – damit setzt Boris Godunow sich auseinander. Es gibt starke Parallelen zwischen dieser Oper und Macbeth. Beide Hauptfiguren sind innerlich beschädigt durch einen Mord und gehen an dieser Schuldfrage letztlich kaputt." Diese Vorgabe ist gut, bleibt aber leider zu blaß. Der Inszenierung fehlt der rote Faden: Der Ur-Boris erscheint handlungsarm und mit nur schwachen Zusammenhängen, Episodisches überwiegt. Die Urfassung endet nicht mit der sonst bekannten und üblichen Klage des Narren, sondern mit Godunows Tod.

Die Parallelen des damaligen Zars zum heutigen russischen Präsidenten und seiner Selbstinszenierung durch die Medien meidet der Regisseur und auch eine Wertung Godunows nimmt er nicht aktiv vor. Es bleibt für den Zuschauer eine offene Frage, ob der Mörder Godunow nur zum Wohle des Volkes handeln wollte oder ob er der starke Mann zu sein scheint, der sich zum Herrscher ernennen lässt, die Bojaren entmachtet und als Retter und Wohltäter gesehen werden will, bei dem das Beste für das Land wie so oft auch das Beste für die Herrschenden, ihre Macht und ihre Geldbörsen ist. Eine aktuelle Parabel der prä- und postdemokratischen "starken Männer" bringt Hermann nicht auf die Bühne. Godunows Zerrissenheit zwischen Zweifel und Machtanspruch bleibt diffus; im 5. Bild stellt ein langer Tisch mit Holzfiguren keine überzeugende Metapher dar.

Rimsky-Korsakow nannte die Oper nach seiner Umarbeitung ein „musikalisches Volksdrama“. Der Charakter der Erstfassung ist anders. Dazu der Regisseur: "In der Karlsruher Aufführung versuchen wir vor allem, möglichst nahe an die Psyche des Boris heran zu kommen. Der Chor bildet in der Urfassung nur den – wichtigen – Hintergrund des Geschehens. In unserer Aufführung wird er erst am Ende eine aktive Rolle einnehmen".  Bei der Urfassung des Boris geht es also weniger um russische Geschichtsbilder, um farbige Episoden oder anschauliche Milieustudien. Das wahre Drama ist auch nicht das das Leid der Bevölkerung während der Zeit der Wirren - kein Volksdrama, kein Drama der Ohnmacht, der Verführbarkeit, der Parteinahme, der Irrtümer und der Machtkämpfe, die auf dem Rücken des Volks ausgetragen werden. Auch im Schlußbild gewinnt der Chor in der neuen Karlsruher Inszenierung kein zusätzliches Format.

Was ist zu sehen?
Überwiegend schön bebilderte Szenen, atmosphärisch in passender Düsterheit mit Kostümen aus der Jetztzeit. Im 4. Bild, der Schänke an der litauischen Grenze, wechselt die Inszenierung vorübergehend ihre Form und wir seltsam skurril, ohne originell oder pointiert zu sein; wie ein Fremdkörper wirkt sie unpassend und zusammenhanglos.

Was ist zu hören?
Zwei Bässe bekamen gestern den meisten Applaus: Godunow ist eine Parade- und Wunsch-Rolle für Publikumsliebling Konstantin Gorny, der die Bühne mit seiner Ausstrahlung und Stimme beherrscht und mit seinen Monologen immer wieder für Spannung sorgt. Herausragend ergänzt wird Gorny durch Avtandil Kaspeli, der einen ganz starken Auftritt als Pimen hat und sich sichtbar über die vielen Bravos und den Jubel des Karlsruher Publikums freute. Mit Pimen hat Kaspeli in Karlsruhe seine erste Paraderolle gefunden. Bravo!
Und auch die Tenöre überzeugten: Otrepjew wird stimmschön von Andrea Shin gesungen, der zwielichtige Schujski wird von Matthias Wohlbrecht zur profilierten Figur und Hans-Jörg Weinschenk ist zwar offiziell im Ruhestand, aber das merkte man ihm gestern in der Rolle des Narrs nicht an. Überhaupt verdienten sich alle Sänger und Musiker ein Bravo! für eine tadellose Leistung. Ein großes Lob geht erneut an den Badischen Staatsopernchor und Extrachor, der von Ulrich Wagner und Stefan Neubert perfekt vorbereitet erschien, und den Kinderchor des Cantus Juvenum, der wieder einen schönen kleinen Auftritt hat.
Entgegen der ursprünglichen Ankündigung dirigiert nicht Justin Brown, sondern Johannes Willig die Neuinszenierung mit sicherer Hand.

Fazit: Musikalisch hochwertig und überzeugend, inszenatorisch ist man überwiegend unauffällig. Man kann nicht beeindrucken und schon gar nicht begeistern. Der ganzen Inszenierung fehlt etwas: sie gewinnt szenisch zu wenig hinzu und bleibt seltsam unentschlossen in der Aussage. Dieser Ur-Boris setzt sich gegen spätere Fassungen der Oper nicht durch.

PS: Kurzer Blick zurück - Intendant Günter Könemann inszenierte eigenhändig den letzten Karlsruher Boris Godunow in der Spielzeit 1988/89 als Koproduktion mit der Straßburger Opera du Rhin. Damals wurde Rimsky-Korsakows Bearbeitung gespielt und in Deutsch gesungen. Hans-Jörg Weinschenk war schon damals mit dabei (und zwar als Missail; Edward Gauntt als Schtschelkalow). Ansonsten waren u.a. folgende Premieren-Besetzungen zu hören: Gabor Andrasy (Boris Godunow), Frode Olsen (Pimen), Ingrid Lehmann-Bartz (Fjodor), Nemi Rouilly-Bertagni (Xenia), Mario Muraro (Otrepjew).
Bei der Neueinstudierung 1994 gab es Änderungen: im Rahmen einer Zusammenarbeit mit der Oper in Nowosibirsk wurde die von Schostakowitsch instrumentierte Version in russischer Sprache gespielt. Es sangen u.a.: Alexander Morosov (Boris Godunow), Simon Yang (Pimen), Clara O'Brien (Fjodor), Zsuzsanna Bazsinska (Xenia) sowie weitere Sänger aus Nowosibirsk.
Als 1992 Chowanschtschina als Gastspiel des Estonia Theater Tallinn in Karlsruhe gegeben wurde, war ebenfalls die von Schostakowitsch instrumentiere Fassung zu hören.

Besetzung & Team
Boris Godunow / Nikititsch: Konstantin Gorny    
Fjodor: Dilara Baştar
Wassili Iwanowitsch Schuiski: Matthias Wohlbrecht
Grigori Otrepjew: Andrea Shin
Missail: Max Friedrich Schäffer
Warlaam: Lucas Harbour
Pimen: Avtandil Kaspeli
Xenia: Larissa Wäspy
Xenias Amme: Rebecca Raffell
Wirtin: Stefanie Schaefer
Andrei Schtschelkalow: Gabriel Urrutia Benet
Narr: Hans-Jörg Weinschenk
Ein Leibbojar & Bojar Chrustschow: Nando Zickgraf
Mitjuch: Andreas Netzner
Polizist: Yang Xu

Musikalische Leitung: Johannes Willig
Regie: David Hermann
Bühne und Kostüme: Christof Hetzer
Chorleitung: Ulrich Wagner
Einstudierung Kinderchor: Anette Schneider

Freitag, 11. Juli 2014

Edith Haller als Elsa von Brabant in Bayreuth

Man muß immer wieder respektvoll anerkennen, was für eine starke Sänger-Auswahl der frühere stellvertretende Karlsruher Operndirektor Thomas Brux für das Ensemble des Badischen Staatstheaters getroffen hat:  bspw. Barbara Dobrzanska, Walter Donati, Armin Kolarczyk und Sabina Willeit. Lance Ryan und Edith Haller sind seitdem auch Stammgäste bei Bayreuther Aufführungen.

Edith Haller singt nun dieses Jahr für die sich im Mutterschutz befindende Annette Dasch die Elsa im Bayreuther Lohengrin von Hans Neuenfels (mehr zur Inszenierung hier). Klaus Florian Vogt singt den Lohengrin. Haller und Vogt traten bereits in Karlsruhe zusammen als Siegmund und Sieglinde in der Walküre auf. Thomas Brux hatte wirklich eine glückliche Hand bei seiner Arbeit für das Badische Staatstheater.

Mehr zu Edith Haller auch hier: https://www.bayreuther-festspiele.de/fsdb/personen/14376/index.htm
Und Lance Ryan: https://www.bayreuther-festspiele.de/fsdb/personen/14693/index.htm

Sonntag, 6. Juli 2014

Rückblick (2): Auf Langzeit-Diät. Das Karlsruher Schauspiel in der Spielzeit 2013/14

Was ist bloß mit dem Karlsruher Schauspiel los?
Gerade mal noch 11 Premieren im Schauspiel (einschließlich Projekt-Theaters, aber abzüglich Doku- und Volkstheaters) wird man in der kommenden Saison auf die Beine stellen, vor zwei Jahren waren es noch 15, Knut Weber brachte 2004/2005 sogar 18 einschließlich vier Downtown-Projekte. Dazu kommen nun nach drei Jahren viele Abgänge und Wechsel im Ensemble - von einem eingespielten Team ist man weit entfernt und es fehlen Hauptrollendarsteller.

Dienstag, 1. Juli 2014

8.Symphoniekonzert, 30.06.2014

Eine schöne Symphoniekonzertsaison geht zu Ende. Das letzte Konzert der Spielzeit stand im Zeichen der unterlaufenen Erwartungen. Große Namen mit eher weniger bekannten Werken standen im Mittelpunkt.
Zu Beginn allerdings Zeitgenössisches. Georg Friedrich Haas' (*1953) Bearbeitung aus dem Jahr 2003 der 9. Klaviersonate von Alexander Skrjabin. Haas nannte seine Instrumentierung Opus 68 und das Programmheft versprach nicht zu viel: "Was im Klavierklang versteckt lag, entfesselt er zu einem Kosmos an Farbigkeit." Tatsächlich ein Stück voller orchestraler Feinheiten, das beim Publikum gut ankam.

Boris Berezovsky ist ein Star der Klavierszene und von Statur, Technik und Spiel der richtige Pianist für die großen, ausdauerfordernden und schweren Klavierkonzerte. Brahms (den er letzte Spielzeit in Karlsruhe spielte) und Rachmaninow scheinen für ihn prädestiniert, besonders das 2. und 3. Klavierkonzert des Russen sind diesbezüglich beliebte Bravourstücke. Aber Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 4? Was hat es denn mit dem auf sich? Ein wenig Filmmusik, ein wenig Bravour, ein wenig Show, auch ein wenig Leere, aber das auf spielfreudig hohen Niveau - das konnte man erwarten. Doch es kam besser: Berezovsky und Brown legten oft ein hohes Tempo vor und musizierten ein rasantes und virtuoses Plädoyer für dieses Konzert, das zwar nicht die Dichte seiner Vorgänger hat, aber doch nur relativ schwächer ist und jenseits dieser Relation gestern das Publikum begeisterte. Als Zugabe gab es etwas Ungewöhnliches: Winterabend - ein Lied von Nikolai Medtner. Zusammen mit einer Sängerin wurde der Winterabend von Berezovsky eher untypisch präsentiert, denn Winterlandschaft und Dunkelheit waren nicht zu hören, sondern Wärme und Leidenschaft.

Dimitri Schostakowitsch hat große Symphonien geschrieben, einige davon waren lange nicht mehr in Karlsruhe zu hören (bspw. Nr. 4, 6, 7, 8 und die 5. kann man gerne öfters live erleben).  Nun wählte Justin Brown nach der spröden 14. im Jahr 2011 (mehr hier) die Symphonie Nr. 15. Späte und letzte Werke haben oft etwas Rätselhaftes, das man je nach Standpunkt als Vermächtnis, Botschaft oder einfach auch im Sinne nachlassender Kreativität eines gealterten Komponisten begreifen kann. Schostakowitschs 15. Symphonie zitiert Rossini und Wagner und benötigt eigentlich nur zwei Satzbezeichnungen (Adagio und Allegretto). Besonders die orchestral verdichteten Höhepunkte in den Adagios und die vielen solistischen Passagen für verschiedene Instrumente blieben gestern in Erinnerung und bildeten einen sehr guten Abschluß einer immer wieder positiv überraschenden Konzertsaison. So gab es am Ende viele Bravos für Justin Brown und die Badische Staatskapelle.
Und auch von der kommenden Saison kann man einiges erwarten. Brown hat diesbezüglich nachvollziehbar und richtig darauf hingewiesen: „Diese Konzertsaison ist die für mich schönste und inhaltlich überzeugendste meiner Zeit in Karlsruhe". 2014/15 wird spannend!

Montag, 16. Juni 2014

Rückblick (1): Standortbestimmung. Eine Kritik der Intendanz Spuhler

2011 mit Beginn dieses Besucher-Tagebuchs hätte ich nicht gedacht, daß ich mal eine Intendanz erlebe, die mir gerade zu Beginn so wenig Freude, Spaß, Spannung und Inspiration gibt. Wie fasst man Unbehagen in Worte? In der Übertreibung liegt die Anschauung! Das Folgende ist oft subjektiv zugespitzt und verarbeitet und beschreibt persönliche Eindrücke und Erfahrungen.

Sonntag, 15. Juni 2014

Ravel - Das Kind und die Zauberdinge / Strawinsky - Die Nachtigall, 14.06.2014

Großes Desinteresse beim Publikum gegenüber Ravel und Strawinsky: selten sieht man in einer Karlsruher Premiere so viele leere Plätze im Rang und Balkon. Attraktiv wirkt die Kombination der beiden Kurzopern anscheinend nicht: zu leicht, zu unbedeutend, zu belanglos? Dabei sollten es doch gerade zwei sommerlich-leichte Mini-Opern (beide jeweils ca 45 Minuten) sein, die den richtigen Kontrast zu den vermeintlich schweren und langen Opern bieten können, mit denen man sich in letzter Zeit in Karlsruhe vorwiegend beschäftigt hat. Die beiden Kurzopern haben deutlich mehr Aufmerksamkeit verdient, auch wenn es einen guten Grund gibt, wieso beide selten zu hören sind: es sind eher Meisterwerke auf dem Papier als auf der Bühne.

Donnerstag, 12. Juni 2014

Birgit Keil im Interview

Die Stuttgarter Zeitung hat ein Interview mit Birgit Keil und Alicia Amatriain, aktuell erste Solistin am Stuttgarter Ballett und Keils erste Stipendiatin, ins Internet gestellt.

Das Gespräch findet sich hier: http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.generationentreff-4-birgit-keil-und-alicia-amatriain-wie-lebt-eine-balletttaenzerin.a2d2879b-ff99-4f40-a5ff-e85aa45e484e.html

Montag, 9. Juni 2014

Wagner - Die Meistersinger von Nürnberg, 08.06.2014

Pfingstsonntag, Meistersinger-Gala bei hochsommerlichen 35°C - da kamen in der Beinahe-Wagner-Festspielhaus-Stadt Karlsruhe schon etwas Bayreuth-Gefühle auf (obwohl der Innenraum zum  Glück sehr gut klimatisiert war), und das um so mehr als es eigentlich -stärker noch als der von Presse als Bayreuth-würdig bezeichnete Tannhäuser- diese Inszenierung der Meistersinger (hier mehr zur Premiere) von Tobias Kratzer ist, die nach Bayreuth passen würde.

Das muß man dem scheidenden Operndirektor Joscha Schaback und dem Dramaturgieleiter Bernd Feuchtner unbedingt attestieren: die beiden Wagner Opern,  Die Passagierin, Dr. Atomic oder z.B. Wallenberg waren spannende Regie-Erfahrungen. Die Meistersinger sind umstritten, in gewissem Sinne aber auch grandios ambivalent und konstruktiv diskutierbar. Viele sind von der Regie begeistert, viele haben auch teilweise massive Einwände, aber einfallsreich ist die Inszenierung sehr oft und was man dem Badischen Staatstheater dabei vorwerfen könnte ist, daß es für eine stark polarisierende und umstrittene Inszenierung vielleicht der falsche Zeitpunkt ist. Ob das die geeignete Positionierung für das Umland ist? Die Türen rannte man dem Karlsruher Staatstheater anscheinend bisher noch nicht ein. Mal schauen, ob die Mund-zu-Mund Werbung erst noch anläuft oder diese "Meistersinger für Insider" nur ein Hit bei Opernspezialisten wird. Dennoch ein Glückwunsch an das Badische Staatstheater: Aufmerksamkeit hat man damit gewonnen.

Viele gute Ideen und doch ist nicht alles inszenatorisch optimal gelöst: die Selbstbezüglichkeit gewisser Szenen ist eine Hürde für ein breites Publikum, der Merker-Szene im ersten Akt fehlt der Humor, Beckmesser quietscht hinter einer verschlossenen Tür, Stolzing wirkt cholerisch und der Szene fehlt der Spaß. Die eigentlich so spannende und witzige Auseinandersetzung Sachs/Beckmesser im zweiten Akt hat man schon pointierter und bühnenwirksamer gesehen. Im dritten Akt will der Beginn nicht so richtig funktionieren, doch es ergibt sich szenisch ein starker Eindruck im Quintett und in der langen Festspielwiesenszene.

Auffällig ist der kühl-analytische und wenig schmeichelhafte Blick, den die Regie auf den heutigen Kunstbetrieb und das Künstler-Innenleben wirft und ernüchternd kommentiert: Meckerer und Übergangene, Besserwisser und Pedanten sind das Personal, die vier Protagonisten erleben kein Happy-End: gedemütigt, verbittert, beleidigt und Eva flüchtet von Liebhaber zu Liebhaber.

War das nun eine Gala gestern? Na ja, halbwegs...  Albert Dohmen ist ein routinierter Sänger der Rolle des Hans Sachs, der Charisma und Persönlichkeit auf die Bühne bringt. Gestern war ihm etwas die plötzliche Hitzewelle anzumerken: einige Konzentrationsschwächen trübten leicht den Eindruck. Dimitry Ivashchenko hinterließ in der kleinen Rolle als Pogner stimmlich einen sehr guten Eindruck. Der Star dieser Meistersinger bleibt Armin Kolarczyk als Beckmesser. Einfach großartig in jeder Hinsicht. BRAVO. Justin Brown und die Badische Staatskapelle und der Staatsopernchor in gewohnter Form. Trotz Hitze, ein spannender Meistersinger-Marathon über sechs Stunden.

Samstag, 7. Juni 2014

Festspielhaus Baden-Baden: Gounod - Faust, 06.06.2014

Gestern hatte ein lang erwartetes Highlight im Baden-Badener Festspielhaus Premiere: sängerisch und musikalisch hielt der Abend, was er versprach. Inszenatorisch ist dieser Faust aber bestenfalls als sehr konventionell und adäquat bebildert zu beschreiben. Gute Einfälle sind leider Mangelware.

Sonntag, 1. Juni 2014

Ballett Gala, 31.05.2014

Das war nun mal wirklich ein Höhepunkt und festlicher Abschluss der 8.Karlsruher Ballettwoche! Wer nicht dabei war, hat was verpasst! Hochkarätige Gäste und so viele besondere Momente, daß man kaum weiß, wie man alle Eindrücke überhaupt angemessen zusammenfassen soll! An einem starken Abend den beeindruckendsten Auftritt hatten Lucia Lacarra und Marlon Dino vom Bayerischen Staatsballett. Es kam Perfektion schon sehr nahe, wie die beiden die Gesetze der Schwerkraft und Physis ignorierten und zu Rachmaninows Préludes die Zeit stehen ließen. Erst staunend, dann begeistert: das Publikum feierte die beiden lang und ausgiebig. (Einen extra Applaus verdiente sich die Pianistin des Abends: Angela Yoffe).

Zwei sehr gut aufeinander abgestimmte Tanzpaare waren zu sehen: Catherine Franco und Denis Piza vom Ballett der Staatsoper Hannover harmonierten wie bereits in Sissi beeindruckend miteinander (auch hier wieder u.a. zu Gustav Mahler, und zwar dem Urlicht aus der 2.Symphonie, schön gesungen von Stefanie Schaefer); Krasina Pavlova und Arshak Ghalumyan vom Staatsballett Berlin zeigten zwei interessante Paarstudien: zuerst ein getanzter Dipolmoment, dann Leidenschaft in sich umkreisender Halbdistanz.

Interessant war der Vergleich der beiden Choreographen Kenneth MacMillan und John Cranko, die mit emotional vergleichbaren Szenen hintereinander gezeigt wurden. Beide haben ja einen sehr ähnlichen Zugang zu Prokofievs Ballett Romeo und Julia (mehr hier) und MacMillan gilt eher als britisch distanziert, aber sein Pas des deux aus Winter Dreams, den Marianela Núñez und Thiago Soares vom Royal Ballet in London tanzten, wirkte auf eine altmodische Weise überdramatisiert und teilweise auf eine unfreiwillig komische Weise pathetisch. Crankos Choreographie aus Onegin (mehr hier), aus dem die Schlußszene von den beiden langjährigen Stars Maria Eichwald und Filip Barankiewicz vom Stuttgarter Ballett präsentiert wurde, wirkte dagegen deutlich geschmackvoller und aktuell zeitloser.

Eric Gauthier ließ sich zur Musik von Kate Bush zu einer kleinteilig-bewegungsreichen und gehetzten Choreographie inspirieren, während Thiago Bordin vom Hamburg Ballett Lebensfreude zu Cello-Musik versprühte. Ein Extra-Bravo geht an den Cellisten der Badischen Staatskapelle Johann Ludwig, der auf der Bühne sitzend mit seinem souveränen Spiel dem Hamburger Tänzer fast ein wenig die Schau stahl.

Das Badische Staatsballett präsentierte zu Beginn den Walzer aus Dornröschen und dann drei weitere Choreographien, darunter zwei Uraufführungen. Eine erschuf Ensemblemitglied Reginaldo Oliveira, der unlängst mit Der Fall M. (mehr hier) im Rahmen des Ballettabends Mythos einen großen Publikumserfolg feierte und dabei ist, sich als "Hauschoreograph" zu etablieren. Sein neues Ballett Attacke ist ein klaustrophobisches Stück, bei dem vier Tänzer vor ungewissen Bedrohungen flüchten: angstvoll und unheilvoll und mit einem visuellen und akustischen Showdown. Oliveira bekam zweifach viel Applaus und Jubel, denn  auch ein bereits bekanntes Publikumslieblingsstück wurde getanzt: Arman Aslizadyan und Reginaldo Oliveira zeigten ihr inzwischen beliebtes und bekanntes Two 4 One mit Tänzer-vervielfachendem Live- Kameramitschnitt.
Zum Abschluß des Abends standen dann 32 Tänzer des Staatsballetts auf der Bühne. Thiago Bordin, der also nicht nur ein Solo tanzte, kreierte auf Musik aus Jean Sibelius' 2. Symphonie ein neues Stück mit viel Humor und großen Ensemble-Szenen.

Die Badische Staatskapelle unter der Leitung von Steven Moore und Justus Thorau trug mit packend gespieltem Max Richter, Tschaikowsky, Glasunow, Mahler, Sibelius und Schostakowitsch viel zum großartigen Eindruck des Abends bei und manch einer wird sich nun das eine oder andere Stück im Symphoniekonzert wünschen.

Fazit: Viel Jubel im Publikum. Birgit Keil schafft es ein ums andere mal, ihr Publikum zu begeistern und mit der sensationellen Freigabe von John Crankos Choreographie zu Der Widerspenstigen Zähmung in der kommenden Saison ist man endgültig im Balletthimmel angekommen. Glückwunsch an Birgit Keil für Ihre großartige Aufbauarbeit und alle Tänzer und Beteiligten des Badischen Staatsballett!

Zusammenfassung der Programmpunkte

Lucia Lacarra und Marlon Dino vom Bayerischen Staatsballett
THREE PRELUDES
Musik Sergej Rachmaninow
Choreografie Ben Stevenson
Klavier Angela Yoffe

Maria Eichwald und Filip Barankiewicz vom Stuttgarter Ballett
HOMMAGE À BOLSCHOI
Musik Alexander Glasunow
Choreografie John Cranko

PAS DE DEUX
aus Onegin (III. Akt)
Musik Peter I. Tschaikowski (eingerichtet von Kurt-Heinz Stolze)
Choreografie John Cranko

Krasina Pavlova und Arshak Ghalumyan vom Staatsballett Berlin
HEUTE IST DAS GESTERN VON MORGEN
Musik Max Richter
Choreografie Raimondo Rebeck

TRANSPARENTE
Musik Arshak Ghalumyan feat. Mariza
Choreografie Roland Savkovic

Catherine Franco und Denis Piza vom Ballett der Staatsoper Hannover
INFERNO
Musik Lisa Gerrard & Andrew Claxton
Choreografie Jörg Mannes

URLICHT
Musik Gustav Mahler
Choreografie Jörg Mannes
Mezzosopran Stefanie Schaefer

Marianela Núñez und Thiago Soares vom Royal Ballet in London
WINTER DREAMS PAS DE DEUX
Musik Peter I. Tschaikowski
Choreografie Kenneth MacMillan
Klavier Angela Yoffe

Thiago Bordin vom Hamburg Ballett
,
PRAMIM
Musik Alexander Tscherepnin, Johann Sebastian Bach
Choreografie Jörg Mannes
Thiago Bordin, Hamburg Ballett
Violoncello Johann Ludwig

Eric Gauthier, Leiter der am Theaterhaus Stuttgart beheimateten Compagnie GauthierDance
I FOUND A FOX
Musik Kate Bush
Choreografie Marco Goecke

Badisches Staatsballett
ATTACKE
URAUFFÜHRUNG
Musik Dmitri Schostakowitsch
Choreografie Reginaldo Oliveira
Bruna Andrade, Larissa Mota, Kt. Flavio Salamanka, Ed Louzardo, STAATSBALLETT KARLSRUHE

TWO 4 ONE
Musik Starkey
Choreografie Arman Aslizadyan & Reginaldo Oliveira
Arman Aslizadyan & Reginaldo Oliveira, STAATSBALLETT KARLSRUHE

SIBELIUS FÜR B.
URAUFFÜHRUNG
Musik Jean Sibelius
Choreografie: Thiago Bordin

Sowie dem WALZER aus dem 1.Akt von Dornröschen

Mittwoch, 28. Mai 2014

Sissi (Ballett) - Gastspiel der Staatsoper Hannover, 27.05.2014

Der Leiter des Hannoveraner Balletts Jörg Mannes hat schön öfters für das Badische Staatsballett choreographiert (Liaison Dangereuses, Das Bett der Giulia Farnese und zuletzt in Mythos). Birgit Keil hat ihn nun im Rahmen der Karlsruher Ballettwoche mit einer seiner Produktionen eingeladen und das Ballett der Staatsoper Hannover bekam langen Applaus für eine starke Leistung bei seinem Karlsruher Gastspiel.

Frauen unter Zwang
Sissi - das ist doppelte Tragik: denn Jörg Mannes zeigt das Unglück zweier Frauen, die im deutschen Bewußtsein kaum zu trennen sind: das der österreichischen Kaiserin Elisabeth und ihrer berühmtesten Verkörperung Romy Schneider, die beide durch ihre frühen Rollen unwiderruflich ihr Leben prägten und zur öffentlichen Person wurden. Dem Korsett gesellschaftlicher Erwartung und Beobachtung zu entkommen war beiden dauerhaft nie möglich und hinterließ seine Spuren. Jörg Mannes lässt Sissi und Romy teilweise gleichzeitig tanzen - doppeltes Leid ist hier kein geteiltes Leid. Beider Söhne sterben, beide zerbrechen daran. Die Hofetikette ist für Sissi, was die Reporter für Romy Schneider darstellten (Mannes schafft hier eine große klaustrophobische Szene zu Honeggers Pacific 231, in der Romy ständig verfolgt wird). Wie Romy Schneider sich in Interviews als Meisterin der Selbstdarstellung zeigte, so treibt Sissi Sport und hielt sich in Form, um in der äußeren Darstellung ihrer Rolle gewachsen zu erscheinen. Es werden überraschende Parallelen zwischen beiden Frauen gefunden.

Szenenfolge statt Handlung
Als Handlungsballett kann man Sissi nicht bezeichnen, es fehlt der große innere Zusammenhalt. Vielmehr reiht die Choreographie Ausschnitte und Gefühlslagen aneinander, die mehr künstlich als organisch verknüpft sind. Wer kein Wissen um Sissi (historisch und filmisch), Romy Schneider und Alain Delon hat, wird es schwer haben. Auch musikalisch ergibt sich nicht der große homogene Eindruck. Es beginnt harmonisch und humorvoll mit Ausschnitten und Anklängen an den berühmten Film: eine getanzte Jagdszene mit Hirsch zu Strauß' Donau-Walzer. Doch danach ist Schluß mit lustig. Der gelegentlich weiterhin durch das Bild trabende Hirsch wirkt eher als Fremdbild und Verfremdung, musikalisch werden intime und wehmütige Momente mit Gustav Mahlers Rückert- und Kindertoten-Lieder beschworen. Ein Höhepunkt am Ende des ersten Akts zeigt zu Mahlers Um Mitternacht die Tänzerin Anastasiya Bobrykova mit großer Eleganz und scheinbarer Leichtigkeit mit beeindruckender Kraft an Ringen tanzend. Eine große tänzerische und physische Leistung. Bravo! Sissi lässt Jörg Mannes von vier unterschiedlichen Tänzerinnen tanzen - der Zugang zu ihr ist durch die historische Distanz diffus geworden, die unterschiedlichen Sissis sind Zeugen einer historischen Unwissenheit. Romy hingegen lebt medial durch Filme und Aufzeichnungen weiter und wird nur von einer Tänzerin dargestellt: Catherine Franco hinterlässt als Romy darstellerisch den stärksten Eindruck und hat die wichtigste Rolle.

Romy und Alain
Den  mit Abstand stärksten und größten Moment hat dieses Ballett in seiner längsten Szene zu Beginn des zweiten Akts, einem langen Pas de deux, in dem die Geschichte von Liebe und Leid Romy Schneiders und Alain Delons zum dritten Satz der 4. Symphonie Gustav Mahlers getanzt und erzählt wird. Auch in Hannover kommen die ersten Solisten aus Brasilien, bzw. konkret aus São Paulo: Catherine Franco als Romy Schneider und Denis Piza als Alain Delon tanzen diese lange und grandiose Szene mit vollem Einsatz. Bravo! Beide werden auch in der Ballettgala am 31.05.2014 in Karlsruhe zu sehen sein.

Fazit: Ein schönes Ballett mit gelegentlichen Durchhängern und einem sehr guten Gastauftritt des Balletts der Staatsoper Hannover.

Sonntag, 25. Mai 2014

Rokokotheater Schwetzingen: Hasse - Leucippo, 24.05.2014

Ein weitere schöne barocke Entdeckung, allerdings ohne szenische Tiefenwirkung - so präsentiert sich Leucippo bei den Schwetzinger SWR Festspielen.

Donnerstag, 22. Mai 2014

Adams - Dr. Atomic, 21.05.2014

Auch vier Monate nach der Premiere (mehr hier) ist die Inszenierung des ersten Akts von Dr. Atomic ein geniales visuelles Meisterwerk. Besser kann man Musik und Handlung nicht umsetzen und auf den Punkt bringen und die Zuhörer/-schauer auf eine Reise mitnehmen. Der zweite Akt bleibt hingegen ein für viele nur schwer überwindbares Hindernis. Das Warten auf die Testzündung soll für die Figuren quälend langsam erscheinen, aber zu viele Zuschauer beginnen sich langsam zu quälen und springen dabei aus Langeweile ab. Bei Yuval Sharons Regie kommt das Publikum im zweiten Teil nicht auf seine Kosten. Die prekäre Gefühlslage des Zweifelns und Wartens, des Hoffens und der Infragestellung überdehnt sich auch visuell in langsames und ermüdendes Bühnengeschehen. Das Konzept der Animation und schnellen Schnitte des ersten Akts wird dadurch formell zwar perfekt kontrastiert, aber praktisch stürzt die Hochspannung des ersten Akts dadurch über weite Strecken des zweiten Akts zu stark ab und wird dadurch doppelt problematisch: musikalisch gedehnt und szenisch gebrochen. Durch stärkere Bilder wäre er zumindest aufgewertet worden. Erst gegen Ende findet sich beim Countdown die Beklemmung ein, die zuvor fehlte. Überhaupt ist Dr. Atomic kein Meisterwerk - die Musik trägt nicht über die komplette Zeit, das Libretto ist aus Zitaten zusammengestückelt und täuscht eine Mischung aus Tiefsinn und Dokumentation vor, die kein rundes Ganzes ergibt.

Politische Oper? Historische Oper?
Bereits anlässlich von Wallenberg wurde im Rahmen dieses Blogs die Frage gestellt, was denn nun politische Oper sei. Im aktuellen Theatermagazin wird dieses Thema im Gespräch mit fünf Regisseuren weiter umkreist und gezeigt, daß Politische Oper ein diskutables Etikett bleibt. Es gibt Etikette, die sich die Theater gerne anheften: politisch, radikal, mutig, gesellschaftlich engagiert .... Eine indirekte Rechtfertigung und ein schlechtes Gewissen scheinen daraus zu sprechen. Man täuscht eine gesellschaftliche Relevanz vor, da man der Kunstform an sich nicht vertraut. Zweckkunst also anstelle von Kunstzweck. Selbstbewußte Theater würden andere Begriffe wählen, die die Autonomie der Kunst betonen und sich deshalb gesellschaftlich relevant sehen: verspielt, opulent, phantasievoll, seelenvoll, grüblerisch, nachdenklich, .... Politische Oper ist aktuell überwiegend historische Oper, die reale Vorkommnisse in der Geschichte mit Abstand von einigen Jahrzehnten behandeln und die Figuren und Momente mit mehr oder weniger künstlicher politischer Bedeutsamkeit unterlegen.

Ein Gegenbeispiel für Politische Oper
Die türkische Regisseurin Yekta Kara inszenierte 2004 in Karlsruhe Mozarts Entführung aus dem Serail und zeigte wie beiläufig, daß sogar Mozart ganz unangestrengt als politische Oper inszeniert werden kann. Sie ließ Traditionalisten und westlich orientierte Türken aufeinander treffen und zeigte im Schlußbild eine Analyse der türkischen Gesellschaft: eine gespaltene Nation, in der sich zwei Lager gegenüberstehen. Die Westeuropäer kamen zwischen Gier und Barbarentum nicht gut davon: die Regisseurin zeigte Belmonte als hektischen Investment Banker im Anzug, Pedrillo trug mit Sportschuhen und Hawaii-Hemd die Insignien geschmackloser Ignoranz gegenüber dem Gastland. Karas Mozart-Inszenierung war politischer und aufschlußreicher als das, was man in Karlsruhe in den letzten drei Jahren mit dem Slogan "politisch" etikettierte.

Verlust der Programmlinien

Nächste Spielzeit (hier zur Vorschau) gibt es keine neue "politische Oper". Die groß angekündigten Programmlinien in der Oper, für die man den wenig aussagekräftigen Preis "Bestes Opernprogramm 2012/13" erhielt (einige werden damals über die schwache Begründung geschmunzelt haben: "Beeindruckend ist ... die Stringenz, mit der thematische Linien verfolgt werden.") hat sich also schon wieder erledigt. Oder ob Offenbachs Fantasio hier die Reihen doch zu schließen vermag? Auch Glucks Iphigenie auf Tauris wird zwar auf Französisch gesungen, aber die Reihe "französischer" Opern wird damit nur halbherzig weitergeführt. Es warten andere Kaliber französischer Komponisten auf ihre Karlsruher (Wieder-)Entdeckung: Lully, Rameau, Meyerbeer, Halévy, Massenet oder Gustave Charpentier.

Dienstag, 20. Mai 2014

7.Symphoniekonzert, 19.05.2014

Größer konnte der Kontrast kaum sein: vor der Pause komplexe Werke der zweiten Wiener Schule von Arnold Schönberg und seinen bekanntesten Schülern Alban Berg und Anton Webern, nach der Pause eine Komposition von minimalistischer Schlichtheit.

Anton Webern variierte in Ricercata aus dem Jahr 1934 das Ricercar zu 6 Stimmen aus Johann Sebastian Bachs Spätwerk Das musikalische Opfer für ein kleines Orchester und dieses kurze Stück mit wenigen Minuten Spieldauer ist für den Beginn eines Konzerts gut geeignet: Ein schöner Einstieg ohne Nebenwirkungen.

Arnold Schönberg
komponierte Ein Überlebender aus Warschau in Zwölftontechnik für einen deklamierenden Sprecher, Männerchor und Orchester im Jahre 1947. (Das Programmheft gibt diesbezüglich sehr interessante Informationen und ist von Bernd Feuchtner mal wieder sehr kenntnisreich und lesenswert zusammengestellt). Als Sprecher bewies Renatus Meszar mit beeindruckend schöner Stimme seine Fähigkeit zur Empathie und Drastik. Ein ausdrucksstarkes Werk, das seine Wirkung auch durch den groß besetzten Männerchor mit ca 45 Sängern erhält, die abschließend ein traditionelles jüdisches Gebet singen.

Danach Drei Stücke für Orchester op. 6 von Alban Berg und es schien Justin Brown ein Anliegen zu sein, dieses Werk zu dirigieren: mit großer Konzentration modellierte er die komplexe Partitur und ließ Bergs Stücke in der Nachfolge Gustav Mahlers symphonisch erregt und aufreibend spannend erklingen. Ein Fortsetzung wäre möglich: Bergs Oper Wozzeck war in Karlsruhe schon lange nicht mehr zu hören.

Nach der Pause dann die Symphonie der Klagelieder des polnischen Komponisten Henryk Górecki (*1933 †2010), die 1976 als Auftragswerk für den Südwestfunk Baden-Baden komponiert wurde. (Das waren noch Zeiten: der erfolgreiche SWF mit seinem großartigen Symphonieorchester! Erst musste man die Senderfusion zum SWR und nun die Zerschlagung und Fusion mit dem Stuttgarter Orchester erdulden. Wer hätte gedacht, daß ausgerechnet eine Rot-Grüne Landesregierung Kulturpolitik unter kapitalistischen Zwang zur erbarmungslosen Einsparungspolitik setzt und den Stuttgarter Zentralismus fördert). Górecki hat als gläubiger Katholik in jedem der drei Symphoniesätze einen polnischen Text vertont; symphonische Klagelieder die von der seelenvollsten Stimme des Badischen Staatstheater Barbara Dobrzanska  mit großer Innigkeit und Intensität in ihrer Muttersprache gesungen wurden. Ein meditativer Ausklang, der zeigte, daß auch in  Schlichtheit Größe liegen kann.

Freitag, 16. Mai 2014

Weitere Abgänge im Karlsruher Schauspiel

Die Karlsruher Problemsparte verliert zum Ende der Spielzeit einige Schauspieler. Tendenziell gehen eher die stärkeren und starken Akteure, zurück bleiben eher die Kandidaten, die sich in den letzten drei Jahren keinen Namen gemacht haben.

Es gehen:
  • Simon Bauer
  • Robert Besta
  • Georg Krause
  • Matthias Lamp
  • Natanaël Lienhard
  • Jonas Riemer
  • Timo Tank
Und wie bereits vor einem Jahr prognostiziert, fehlen weiterhin die Hauptrollenschauspieler. Es kommen zwar viele neue Namen, doch auch diese müssen sich erst mal durchsetzen und sich beim Karlsruher Publikum ihre Reputation erarbeiten.

Dem Karlsruher Schauspiel steht also wieder ein Übergangsjahr bevor, in dem man versucht, sich zu finden. Nach drei durchwachsenen und tendenziell eher unoriginellen und langweiligen Spielzeiten ist es fraglich, ob man nächste Saison endlich Tritt fassen kann.

Komplett ausgetauscht hat man nun auch innerhalb von drei Jahren die Schauspiel-Dramaturgen. Wenn man sich die Programmhefte durchliest, findet man einen Grund.

Doch vielleicht hat man ja nach drei mittelmäßigen Spielzeiten erkannt, daß es nicht um Programmplanung und Theorie geht, sondern für ein Publikum das Bühnengeschehen und starke Schauspieler wichtiger sind. Die Hoffnung stirbt zuletzt.....

NACHTRAG, 21.05.14: Auch eine bekannte Schauspielerin geht: Ursula Grossenbacher spielt nächste Spielzeit als Gast am Theater in Bonn, wo auch Benjamin Berger und Andrej Kaminsky im Ensemble sind.

Vorschau: Symphoniekonzerte 2014/15


Eine schöne Zusammenstellung: Beliebtes und Unbekanntes, mehrere deutsche Erstaufführungen und Ungehörtes (Stücke von Weinberg und Vivian Fung).

1. SYMPHONIEKONZERT

Carl Nielsen - Ouvertüre zur Oper „Maskerade”
Jesper Koch - Dreamscapes / Konzert für Violoncello und Orchester (DT. ERSTAUFFÜHRUNG)
Gustav Mahler - Symphonie Nr. 1 D-Dur

Michaela Fukačová - Violoncello
Justin Brown - Dirigent
28.9.14  & 29.9.14 


2. SYMPHONIEKONZERT
Vivian Fung - Dust Devils
Mieczysław Weinberg - Violinkonzert g-Moll op. 67 (DT. ERSTAUFFÜHRUNG)
Modest Mussorgsky - Bilder einer Ausstellung (Orchestrierung Maurice Ravel)

Linus Roth - Violine
Mei-Ann Chen - Dirigentin
2.11.14  & 3.11.14 


3. SYMPHONIEKONZERT
Viktor Ullmann - Don Quixote tanzt Fandango
Thomas Larcher - Konzert für Violine, Violoncello und Orchester (DT. ERSTAUFFÜHRUNG)
Richard Strauss - Ein Heldenleben op. 40

Viktoria Mullova - Violine
Matthew Barley - Violoncello
Justin Brown - Dirigent
23.11.14  & 24.11.14 


4. SYMPHONIEKONZERT
Anton Bruckner - Symphonie Nr. 8 c-Moll
Justin Brown - Dirigent
1.2.15  & 2.2.15 


5. SYMPHONIEKONZERT
Stadtjubiläum 300 Jahre Karlsruhe
Joseph Haydn - Symphonie Nr. 94 G-Dur „Mit dem Paukenschlag“
Wolfgang Amadeus Mozart - Klavierkonzert Nr. 14 Es-Dur KV 449
Wolfgang Rihm - Capriccio für Klavier und Orchester (URAUFFÜHRUNG, AUFTRAGSWERK DER STADT KARLSRUHE)
Wolfgang Rihm - Über die Linie VIII (URAUFFÜHRUNG, AUFTRAGSWERK DER STADT KARLSRUHE)

Justin Brown - Klavier & Dirigent
8.3.15  & 9.3.15 


6. SYMPHONIEKONZERT
Edward Elgar - Enigma Variationen op. 36
Thomas Adès - Konzert für Violine und Orchester „Concentric Paths“
Ralph Vaughan Williams - Symphonie Nr. 5 D-Dur

Augustin Hadelich - Violine
Justin Brown - Dirigent
12.4.15  & 13.4.15 


7. SYMPHONIEKONZERT
Robert Schumann - Konzertstück für vier Hörner und Orchester op. 86
Felix Mendelssohn Bartholdy - Symphonie Nr. 2 B-Dur „Lobgesang“ op. 52

Dominik Zinsstag, Frank Bechtel, Jörg Dusemund & Peter Bühl - Horn
Ks. Ina Schlingensiepen - Sopran
Stefanie Schaefer-  Mezzosopran
Ks. Klaus Schneider - Tenor
Chor & Extrachor
Ulrich Wagner - Choreinstudierung
Johannes Willig - Dirigent
3.5.15  & 4.5.15 


8. SYMPHONIEKONZERT
Bedřich Smetana - Ouvertüre zu „Die verkaufte Braut”
Miroslav Srnka - Konzert für Klavier und Orchester (DT. ERSTAUFFÜHRUNG)
Hector Berlioz - Symphonie fantastique

Nicolas Hodges - Klavier
Cornelius Meister - Dirigent
19.7.15  & 20.7.15 


Besondere Aufmerksamkeit verdienen auch:

2. SONDERKONZERT

Ludwig van Beethoven - Violinkonzert D-Dur op. 61
Jean Sibelius - Symphony Nr. 2 D-Dur op. 43

Patricia Kopatchinskaja - Violine
Sir Roger Norrington - Dirigent
RSO STUTTGART DES SWR
18.1.15

KONZERT DES BUNDESPRÄSIDENTEN
Orchester des Helmholtz-Gymnasiums Karlsruhe (Hans-Jochen Stiefel - Leitung)
Badische Staatskapelle
Justin Brown - Dirigent
23.6.15 20.00


PS: Hallo liebes Badisches Staatstheater
,
Bruckners 8. Symphonie ist wirklich ein gigantisches Werk ("Die Krone der Symphonik", wie ein großer Dirigent sie einst bezeichnete). Nun hat Sergiu Celibidache tatsächlich knapp 100 Minuten dafür benötigt, aber bei Justin Brown könnte man vermuten, daß er eher eine Lesart wie bei Carl Schuricht bevorzugt und unter 80 Minuten bleibt. Sollte man dann nicht eine Pause und ein kleines Vorstück einbauen?

Mittwoch, 14. Mai 2014

Weinberg - Die Passagierin, 13.05.2014

Fast genau ein Jahr nach der Premiere (mehr dazu hier) ist Weinbergs Oper immer noch ein tiefgehendes Opernerlebnis und dem scheidenden Operndirektor Schaback und Chefdramaturg Feuchtner kann man nun wirklich nicht vorwerfen, daß sie ihr Programm "routiniert" zusammengestellt haben: ob nun Berlioz' Trojaner, Delius' Romeo und Julia auf dem Dorfe, Wallenberg, Tannhäuser, Peter Grimes, Dr. Atomic oder Riccardo Primo und auch Künnekes Der Vetter aus Dingsda - es gibt einiges, woran man sich erinnern wird.

Die Passagierin ist nun aber wirklich keine leichte Kost. Daß dennoch nicht wenige Zuschauer entschlossen, sich für die Vorstellungen Karten zu besorgen, spricht für das Karlsruher Publikum. Die gestrige vorletzte Vorstellung war noch ca zu 50-60% ausgelastet - man muß sich seelisch schon auf die dreistündige Bedrückung einlassen wollen und Verständnis für jene haben, die sich dem nicht gewachsen fühlen.

Die Not und Angst im Konzentrationslager - Weinberg schenkt den Frauenstimmen große, emotional bewegende Szenen: ob nun die wunderbare Barabara Dobrzanska in der Hauptrolle, die ab nächster Spielzeit zum Ensemble gehörende junge polnische Sopranistin Agnieszka Tomaszewska als Katja mit anrührendem russischem Volkslied oder die tiefen Frauenstimmen von Dilara Baştar und der immer besonderen Rebecca Raffell, die ebenfalls mit dem Gebet der Bronka einen weiteren großen Auftritt hat. Dazu die vielen weiteren Momente der Erschütterung: Allrounder Andrew Finden, der als Geiger Tadeusz seiner Figur Kraft aus Religion und Kultur verleiht und zeigt, wie man versucht, sich an Kostbares zu halten, um der Verzweiflung entgegen zu leben, der großartig zwielichtige Walter von Matthias Wohlbrecht sowie die ständig Bühnenpräsenz zeigende Christina Niessen als Wärterin. Oder auch die aus dem Chor so stark besetzten kleinen Nebenszenen, wie beispielsweise die von Maike Etzold gesungene Lagerinsassin, die psychisch vom Schrecken zerrüttet das Unaussprechliche des Massenmords verzweifelt als Tod durch Schnupfen darstellt - es stimmt einfach und passt zusammen, was hier ein Opernhaus mit vielen Beteiligten so mutig auf die Bühne bringt. Christoph Gedschold lässt das Orchester dazu farbenreich klingen und beweist die Stärke der Weinberg'schen Partitur, die man gerne auch kulinarisch und quantitativ genießen wollte, wenn die Handlung es denn zuließe. Musikalisch und szenisch eine Aufführung voller Spannung und Höhepunkte und ein herzliches Bravo! an alle Beteiligten für einen zweifellos schweres und vielschichtiges Erlebnis.

Freitag, 9. Mai 2014

Georg Kaiser - Gas I & II, 08.05.2014

Schade! Wenig inspirierend, wenig spannend, wenig besonders!
Die Premiere dieser Karlsruher Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen erfolgte bereits im letzten Jahr im Mai 2013 in Recklinghausen. Gestern fand nun die erste Karlsruher Aufführung statt. Man hat sich einen weitestgehend vergessenen Autor und Text ausgesucht, den man wiederbeleben wollte - aber es war nur ein künstliches Zum-Leben-erwecken. Das Stück blieb tot.

Georg Kaiser (*1878 †1945) war ein Autor mit Vision und Sendungsbewußtsein. Ganz unbescheiden nannte er die 'Erneuerung des Menschen' seine moralische Aufgabe. In der Weimarer Republik war er neben Gerhard Hauptmann der meist aufgeführte Dramatiker, nach 1945 war er aus der Mode - seine Visionen zogen nicht mehr.
Kaiser ist Allegoriker seiner Begriffe, seine Figuren sind ins Symbolische und Formelhafte gesetzte Repräsentanten seiner Ideen und Visionen. Gestern fehlte deutlich etwas,  um mehr Spannung oder Interesse aufkommen zu lassen; die Defizite liegen am Text, der es verpasst, seinen Figuren Leben und Individualität einzuhauchen, am Thema, das zwar nahe an unserer Zeit  ist, aber doch nicht zeitgemäß genug behandelt wird und am Regisseur, der zu betulich inszenierte.
 
Worum geht es? 
Um knapp 100 Jahre alte Science Fiction, Gas I/II wurde 1920 uraufgeführt. Ein einziger Gaskonzern stellt in der futuristischen Welt von Gas I die Energieversorgung der ganzen Welt sicher. Alle Arbeiter werden am Gewinn beteiligt, doch nach einer Explosion (der Atomkraftwerksunfall in Fukushima kommt schon nicht mehr unmittelbar ins Gedächtnis) mit vielen toten Arbeitern wird der Firmenbesitzer skeptisch und will aus der Produktion aussteigen. Doch die Arbeiter sehen ihre Zukunft nicht im Rückschritt als selbstversorgende Bauern und lassen sich ihre Einkommensquelle nicht nehmen, sie streiken. Der Staat enteignet den Besitzer und übernimmt die Anlage.
Gas II spielt ca 30-40 Jahre später. Man ist im Krieg, die Arbeiter des Gaskonzerns leiden unter den Arbeitsbedingungen. Wieder streiken die Arbeiter und versuchen diesmal, Frieden zu stiften. Doch wird die Anlage während des Friedensappels vom Feind militärisch übernommen und zur Produktion gezwungen. Doch ein Ingenieur hat die rächende Idee: er hat eine tödliche Gaswaffe erfunden.

Marxistische Analyse im Programmheft
Liest denn am Badischen Staatstheater niemand mehr die eigenen Publikationen? Im Programmheft werden Kaisers Intentionen zwar erläutert, aber dabei mit einer dubiosen, altertümlichen Deutung unterlegt, als wollte man beweisen, daß hier alles schon längst in jeder Hinsicht geschichtlich überholt ist. So reduziert man z.B. komplexe Zusammenhänge auf einfachste monokausale marxistische Thesen:
".... daß die Fanatisierung zum Untergang, die ein knappes Jahrzehnt nach der Publikation von Gas mit dem Einzug der NSDAP ins Parlament ihren Anfang nahm, nicht auf eine fehlgeleitete Gesellschaft zurückzuführen ist, sondern dem kapitalistischen System immanent ist."
Wer hätte gedacht, daß es so einfach sein könnte - Hitler war also nur systemimmanente Folge des Kapitalismus?!? Leider fehlt der Verweis auf das renommierte wissenschaftliche Werk, das zu dieser sehr simplen Schlußfolgerung im Programmheft des Badischen Staatstheaters kommt. Oder werden hier nur Verdachtsmomente und schlecht recherchierte, persönliche oder historische Meinungen geäußert?

Aber die vorsintflutlich-marxistische Analyse des Karlsruher Schauspiels geht unangenehm weiter:
"Kaiser verwies auf die Strukturen, die Freiheit verneinen: Militarismus, Nationalismus, Entfremdung, Profitmaximierung, Zweckrationalität, ökologische Skrupellosigkeit. Wer unter solchen Bedingungen leidet, kann Freiheit nicht erkennen, sie also auch nicht politisch-praktisch verwirklichen."
Ja, da benötigt man wohl doch den elitären Berufsrevolutionär Lenin'scher Prägung, um den Entfremdeten die Augen zu öffnen und die Freiheit zu bringen, die sie selber nicht erkennen oder erringen können.

Forschung und Fortschritt werden im Programmheft auf zwei Aspekte reduziert: den "kapitalistischen Zwang zur Profitmaximierung" und "erbarmungslose Gewinnorientierung" - auch hier will man Komplexes ausschließlich in die marxistische Schablone der Verhältnisse vor 100 Jahren pressen und verpasst die Chance, Theater für heute zu machen.

Der Ambivalenz des technologischen Fortschritts wird man mit Gas I/II auch nicht gerecht. Diese Ambivalenz findet sich schon lange nicht mehr auf industriell-technologischer Seite, wo man inzwischen aufgrund von Rohstoffknappheit längst an Kreislaufsystemen und Wiederverwertungszyklen arbeitet, der Umweltschutz ein Wirtschaftsfaktor geworden ist und sogar Unfälle wie Tschernobyl und Fukushima als lokale Phänomene so eingedämmt wurden, daß in Europa und weltweit der Bau von neuen Kernkraftwerken Priorität hat und nur in sehr wenigen Nationen kritisch gesehen wird (ach ja: "Wer unter solchen Bedingungen leidet, kann Freiheit nicht erkennen, sie also auch nicht politisch-praktisch verwirklichen" - der Kernkraft-freundliche  Rest der Welt braucht aus dieser Sicht Belehrung und Hilfe der wahren Freien). Die Ambivalenz des technologischen Fortschritts ist heute immer noch im Bereich der Gentechnik zu finden - das passende Theaterstück hat sich Hollywood bereits mehrfach als Drehbuch schreiben lassen.

Was ist zu sehen?  

Der Regisseur meidet Aktualisierungen und Zuspitzungen, die den Text im Licht heutiger Problemstellung vergegenwärtigen und verlässt sich ganz auf die historische Substanz (was aber keine Entschuldigung für die oben genannten Defizite im Begleittext ist). Der erste Teil (ca 100 Minuten) hat wenige spannende Momente und einige monologische Durchhänger, die man besser straffend gekürzt hätte, sowie viel statisches Bühnengeschehen. Der zweite Teil (ca 45 Minuten) ist sprachlich radikaler und bewegter. Keine Figur hat bei Kaiser einen Namen, er zeigt fast nur Menschen als Masse ohne Individualität. Besondere darstellerischen Qualitäten darf folglich auch niemand beweisen - eine gute Ensemble-Leistung der Schauspieler mit wenig Profilierungsmöglichkeit.

Bühnenbildner Sebastian Hannak ist eine der beeindruckenden Entdeckungen der letzten Jahre für die Karlsruher Bühne. Er stattete bisher die Ballette Momo und Mythos sowie im Schauspiel Jakob der Lügner erfolgreich aus. Auch hier ist im wieder eine interessante Lösung gelungen. Die Bühne zeigt eine geborstene Fabrikationshalle mit einem Gerüst, das den Zuschauerraum mit einbezieht und die Gefahr der Figuren durch einen in den Bühnenraum hineinragenden Steg versinnbildlicht, auf dem sich die Schauspieler nur mit Karabinerhaken gesichert bewegen können - visuell das Spannendste an diesem Theaterabend. Allerdings besteht für viele Plätze Sichtbehinderung. Die Kostüme sind der Entstehungszeit entlehnt und verzichten auf eine künstliche Aktualisierung

Fazit: Eine spröde Premiere, die zu selten mit Leben gefüllt ist. Trotz einer durchaus spannenden Grundkonstellation, driftet man zu oft in Langeweile und Belanglosigkeit ab. Die Regie zeigt das Stück in veraltetem Gewand und thematisch mit wenig Aussagekraft. Der Zwiespältigkeit des Themas wird man leider nicht gerecht. Wer's nicht sieht, hat leider nichts verpasst.
    
PS: Das war's schon: die letzte Premiere im Schauspiel für den Rest der Spielzeit, Hesses Glasperlenspiel ist in die kommende Spielzeit verschoben, ein Gastspiel füllt die Lücke. Im Studio hat man auch nur Dokumentarisches/Journalistisches. Die Durststrecke ist symptomatisch für das Karlsruher Schauspiel: zu oft ist man einfallslos, unoriginell und ohne besondere Vorkommnisse. Schauspiel ohne Ausstrahlungskraft. Ein unwissender und unvoreingenommener Besucher würde vermuten, daß der Schauspieldirektor zum Ende der Spielzeit gehen muß, nicht der Operndirektor, der 2014 mit Dr. Atomic, Riccardo Primo, Rinaldo, Meistersinger und den bevorstehenden Premieren definitiv sein Publikum besser und anspruchsvoller unterhält.

Besetzung und Team:
GAS I
Der weiße Herr: Annette Büschelberger
Milliardärssohn: Andrej Kaminsky
Tochter: Joanna Kitzl
Offizier: Jonas Riemer
Ingenieur: Jan Andreesen
Schwarzer Herr: Robert Besta, Ronald Funke, Sascha Özlem Soydan
Regierungsvertreter: Robert Besta
Schreiber: Natanaël Lienhard
Junger Arbeiter: Johannes Schumacher
Arbeiter: Gunnar Schmidt
Mädchen: Stephanie Biesolt
Frau: Sascha Özlem Soydan
Mutter: Annette Büschelberger
Hauptmann: Ronald Funke

GAS II
Milliardärarbeiter: Jan Andreesen
Großingenieur: Andrej Kaminsky
Blaufigur: Johannes Schumacher, Robert Besta, Gunnar Schmidt, Natanaël Lienhard, Jonas Riemer, Sascha Özlem Soydan
Gelbfigur: Annette Büschelberger, Joanna Kitzl, Robert Besta, Gunnar Schmidt, Ronald Funke, Gunnar Schmidt, Natanaël Lienhard
Arbeitermädchen: Stephanie Biesolt
Arbeiterjunge: Johannes Schumacher
Arbeiterfrau: Sascha Özlem Soydan
Arbeitermann: Jonas Riemer
Arbeitergreisin: Annette Büschelberger
Arbeitergreis: Ronald Funke

Regie: Hansgünther Heyme
Bühne und Kostüme: Sebastian Hannak
Musik: Saskia Bladt