Montag, 31. Oktober 2011

Lotz - Der große Marsch / Lessing - Minna von Barnhelm, 29.10.2011

Der große Marsch vom Wolfram Lotz ist eine Fantasie mit Variationen über das experimentelle Theater. Ein surrealer Text mit unmöglichen Regieanweisungen. Die Regisseurin Simone Blattner macht daraus eine unterhaltsame Stunde und schafft es fast durchgehend, die Aufmerksamkeit und das Interesse des Publikums zu halten. Viel Klamauk kommt dabei auf die Bühne, man schmunzelt viel und lacht doch selten, man langweilt sich nicht, zwischendurch gibt es sogar einen Höhepunkt bei einem Talkshow-ähnlichen Interview und doch bleibt hauptsächlich eines in Erinnerung: die sehr engagierten Schauspieler.
Vor allem im zweiten Teil des Abends: Lessings Minna von Barnhelm kommt deren Leistung richtig zur Geltung. Auch fast 250 Jahre nach der Uraufführung erweist sich diese Komödie als publikumstauglich. Der um seine Ehre fürchtende preußische Offizier Tellheim entpuppt sich in dieser Inszenierung nicht als vorrangig edler Charakter, sondern als Typus des gekränkten und beleidigten Menschen, der sich in seinen Schmollwinkel zurückzieht, sich weigert gesünder zu werden als das kranke Ganze und jede Unterstützung kategorisch ablehnt. Jonas Riemer spielt einen verbitterten Tellheim, der mit zerfurchtem und nachdenklichem Gesicht und gehemmten Bewegungen auf der Bühne steht. Joanna Kitzl spielt die Minna als aufgedrehte, leichtfertige Verlobte, die ihre Umwelt stets ironisch und verspielt betrachtet und sich ihres Erfolges zu sicher ist. Lessing lässt seine Minna das Spiel mit Tellheim bis an die Grenze der Verbitterung treiben, bevor es zum Happy-End kommt. Blattner lässt sie in dieser Inszenierung zu weit gehen. Die Regisseurin aktualisiert gelegentlich den Text, streicht die Nebenrollen und konzentriert sich auf die Beziehungen Tellheim-Minna und Werner-Franziska. Nicht jede Regie-Idee überzeugt, gelegentlich entgleitet der Humor ins Zotige. Das Publikum reagierte gemischt: manche lachten Tränen, andere schienen den Humor dieser Inszenierung nicht zu teilen, nur bei der Qualität der Akteure herrschte Einigkeit. Jonas Riemer als Tellheim und Matthias Lamp als Werner überzeugen in jeder Szene, aber die Stars des Abends sind Joanna Kitzl als Minna und Sophia Löffler als Franziska: beide zeigen an diesem Abend mehr Bandbreite als andere Schauspielerinnen vergangener Jahre während einer ganzen Spielzeit! So wird die Minna zu einem lange nicht mehr gesehenen schauspielerischem Höhepunkt und nach wenigen Abenden mit dem neuen Ensemble kann  man sich über die exzellenten neuen Mitglieder vorbehaltlos freuen.
Fazit: Lotz‘ großen Marsch muss man nicht gesehen haben, die Minna lohnt sich als gute Inszenierung mit großartigen Schauspielern.

Dienstag, 25. Oktober 2011

2. Symphoniekonzert, 24.10.2011

Das zweite Symphoniekonzert war eigentlich ein Liederabend mit Kammerorchester: keine Blechbläser waren notwendig, nur eine Oboe, ein Englischhorn, zwei Schlagzeuger sowie Orgel und Celesta – 5 Musiker ergänzten das Streichorchester im Verlauf des Abends. Zu Beginn ertönte eine der bekanntesten Bach Kantaten: BWV82 Ich habe genug. Armin Kolarczyk sang, Justin Brown dirigierte und der Solo-Oboist Stephan Rutz stahl erst mal allen die Schau. Der Dirigent ging den ersten Satz etwas zu flott an, als habe er es eilig, genug zu haben. Die Eingangsarie wandelte sich dabei zu einem virtuosen Oboenstück. Danach stimmte dann die Architektur und die Kantate wurde überlegt und überzeugend interpretiert, ohne allerdings die Intensität und Intimität einer Aufführung im sakralen Raum zu erreichen.

Michael Tippetts Corelli Fantasie, eine modern interpretierte Art des Concerto grosso mit solistischem Streichtrio, war eine angenehme Überraschung: ein kurzes, abwechslungsreiches und unterhaltsames ca. 20 minütiges Intermezzo, das stilecht im Stehen interpretiert wurde.

Nach der Pause folgte Schostakowitschs 14. Symphonie. Man wird nur selten jemanden finden, der diese als sein Lieblingsstück oder als Schostakowitschs beste Symphonie bezeichnen würde. Ganz im Gegenteil: ein unvorbereiteter Hörer könnte es als schwer zugänglich oder frustrierend erleben. Der Komponist hat 14 Gedichte vertont, die sich mit dem Thema Tod beschäftigen. Ein Spätwerk, 1969 uraufgeführt, 6 Jahre vor dem Tod Schostakowitschs. Barbara Dobrzanska und Konstantin Gorny sangen und es geschah etwas Seltenes: Sänger und Dirigent zeigten so viel Engagement und Können, im Falle Konstantin Gornys möchte ich es fast Herzensangelegenheit nennen, daß sie es schafften ein sprödes Stück durch eine perfekte Aufführung zum Erfolg zu führen. Es spricht für das Karlsruher Publikum, daß es mehrheitlich erkannte, welche großartige und bravouröse Leistung ihm geboten wurde.

Freitag, 21. Oktober 2011

Berlioz - Les Troyens, 21.10.2011

Nachdem die für den gestrigen Donnerstag geplante Premiere im Theater von Grabbes Herzog Theodor von Gothland kurzfristig aus Krankheitsgründen um 2 Tage auf den Samstag verschoben werden musste und ich an dem Tag leider nicht dabei sein kann, besorgte ich mir mit meinen Tauschgutscheinen spontan Karten für die zweite Aufführung der Trojaner. Ein wahrer Glücksgriff!
Diesmal gab es eine Ansage: Aufgrund eines Eingriffs wegen Nierensteinen vor drei Wochen und einer Erkältung John Treleavens konnte dieser nur den ersten Teil des Abends singen. In den Trojaner in Karthago spielte er stumm seine Rolle und von der Seite sang: Lance Ryan! Das hatte zwar etwas Provisorisches, doch Lance Ryan (jedesmal wenn ich ihn höre, habe ich den Eindruck, dass er noch besser geworden ist)  sang so souverän, dass es ein  Ereignis war, ihn und Heidi Melton als Didon und Aeneas zu hören. Beide könnten meines Erachtens an jedem Haus der Welt in dieser Rolle auftreten. Sehr viel Luft nach oben ist nicht vorhanden. Das glückliche Karlsruher Publikum erlebte einen ansonsten personell unveränderte Aufführung auf ähnlichem Niveau wie in der Premiere, namentlich hervorzuheben besonders die neuen Tenöre Eleazar Rodriguez als Iopas und Sebastain Kohlhepp als Hylas sowie das bekannte Trio Niessen, Kolarczyk, Gorny

Bei der Zweitansicht der Inszenierung bleibt der Eindruck der Einnahme Trojas bestehen: fesselnd zum Ende des 1 Aktes hin, ist der zweite Akt der dramatische Höhepunkt des Abends.
Die Trojaner in Karthago gefielen mir an diesem Abend besser. Das 1. Bild des 3. Akts im Zuschauerraum lebt vom Spektakel, der Rest ist routiniert gut. Der vierte Akt ist das musikalische Highlight, der 5. Akt hat zwar die schönste Einzelarie, zieht sich aber deutlich am Ende. Auch beim zweiten Mal bleibt der Eindruck eines ungewöhnlich eindrucksvollen Opernabends.

PS: Bei Verlassen des Theaters gegen 23.30 bewunderte ich mal wieder das Engagement des GI Herrn Spuhler, der zusammen mit dem Chefdramaturgen Dr. Feuchtner noch Werbematerialien verteilte.

Montag, 17. Oktober 2011

Berlioz – Les Troyens, 15.10.2011

Große Erwartungen und viel Vorfreude lagen bei der ersten Opernpremiere der neuen Intendanz in der Luft und es wurde ein langer (ca 5 Stunden, 20 Minuten), abwechslungsreicher, spektakulärer und sehr spannender Abend.

Die fünfaktige Oper ist zweiteilig. Der erste Teil Die Einnahme Trojas umfasst die ersten beiden Akte. Die Trojaner in Karthago die Akte drei bis fünf.

Die Einnahme Trojas beginnt mit schweren Atemstößen. Der Geist des trojanischen Helden Hektor steht auf dem leeren Schlachtfeld, schwer atmend als ob auch die Geister noch Troja verteidigt hätten,  und nun nach dem scheinbaren Abzug der Griechen erschöpft den Horizont absuchend. Bühnen- und Kostümbildner Christoph Hetzner hat für den ersten Teil eine karge, archaisierende Bühne geschaffen. Die vorherrschende Kostümfarbe ist weiß, die nur kurz vor Ende auftretenden Griechen sind in Schwarz. Die Farbe des Blutes und der Toten ist blau. Die zentrale Rolle ist Hektors Schwester Kassandra, die die Trojaner vergeblich vor dem griechischen Pferd warnt und am Ende des zweiten Aktes die trojanischen Frauen anführt, die den Freitod wählen, um der griechischen Gefangenschaft zu entgehen. Regisseur David Hermann hat für den ersten Teil der Oper eine durchweg überzeugende und spannende Inszenierung geliefert, die auf spektakuläre Publikumswirkung setzt. Um die räumliche Wirkung der Chormassen zu verdeutlichen, lässt Hermann den Zuschauerraum bespielen: der Chor geht über die Zuschauertüren ein und ab und singt teilweise in den Gängen zwischen den Zuschauern. Das trojanische Pferd, dargestellt durch einen anthrazitfarbenen, zeppelinförmigen Ballon, schwebt am Ende des 1. Aktes wie eine dunkle, unheilbringende Wolke über den Trojanern.
Christina Niessen als Kassandra wurde vom Publikum einhellig bejubelt; ihr Partner Chorebus, gesungen von Armin Kolarczyk sowie Chor und Orchester und alle anderen Sänger, die im ersten Teil nur kleinere Rollen haben, ebenso. Als nach ca 90 Minuten der erste Teil vorüber war, ging das Publikum sehr zufrieden, teilweise euphorisch in die einstündige Pause.

Die Trojaner in Karthago ist der Titel der Akte drei bis fünf. Die Szenerie ist modernisiert: wohlhabende, blühende Landschaften, moderne Architektur versinnbildlichen den Aufstieg der Stadt. Die vorherrschende Kostümfarbe ist grün mit gelegentlichen Blütendrucken. Die Trojaner kommen in einer Wohlstandswelt an. Das erste Bild des dritten Aktes, eine jubelnde Massenszene wird komplett im Zuschauerraum gesungen. Die sich nun entwickelnde, tragisch endende Liebesgeschichte zwischen dem Anführer des Trojaner Aeneas und der karthagischen Königin Dido fällt in der Inszenierung leider ab. Große Szenen, wie das Septett und Liebesduett im 4. Akt sind routiniert umgesetzt, doch ohne den Zauber der Faszination zu vermitteln, die die Musik bereithält. Größter Schwachpunkt die letzte halbe Stunde: Didos Freitod wird trotz guter Bühnenidee und großartiger Sängerin von der Personenregie verschenkt und statt zum tragischen Ende zum inszenatorischen Langeweiler. Die Trojaner in Karthago kommen über gute Ansätze nicht hinaus, zu unbestimmt und beliebig geraten viele Szenen.
Als Dido ist die neu in Karlsruhe engagierte Sängerin Heidi Melton zu hören – sie ist der Star des Abends: eine große, wunderschöne Stimme. Frau Melton singt so souverän, so scheinbar mühelos, daß es ein Vergnügen ist, ihr zuzuhören. Das Publikum überschüttete sie am Ende mit Brava-Rufen.
John Treleaven als Aeneas war an diesem Abend leider indisponiert. Man hätte ihm einen Gefallen getan, wenn man zu Beginn des Abends angekündigt hätte, dass er gesundheitlich nicht ganz auf der Höhe ist. So wurde einer der Höhepunkte der Oper, das Liebesduett im 4. Akt  zur Qual, bei der man, statt das Duett zu genießen, angespannt abwartete, ob Treleaven alle Passagen singen kann. Das Publikum reagierte etwas ungehalten auf diese Einbuße und 2-3 Buh-Rufer störten die gute Atmosphäre des Abends. Eine Ansage hätte das deutlich gemildert.
Doch der Abend hatte neben Heidi Melton noch andere große Stimmen. Konstantin Gorny und die beiden neuen Tenöre Eleazar Rodriguez und Sebastian Kohlhepp, der zu Beginn des 5. Aktes die schönste und anrührendste Arie der Trojaner bravourös sang, begeisterten. Der neue Bassist Avtandil Kaspelli als Hektor überzeugte stimmlich und mit großer Bühnenpräsenz. Alle weiteren Sänger in den kleineren Rollen ebenso.

Überhaupt war es musikalisch ein Triumph: 13 Sänger des Ensembles und 3 kleinere Rollen wollten besetzt sein. Berlioz Monumentaloper verlangt ein sehr gutes Orchester und großen Chor: Dirigent Justin Brown und der von Ulrich Wagner einstudierte Chor (ca. 90 Sänger) gehörten zu den klaren Gewinnern des Abends!

Fazit: Die Einnahme Trojas ist kurzweilig, auf sehr hohem musikalischem Niveau und uneingeschränkt empfehlenswert! Die Trojaner in Karthago hat zwar inszenatorische Längen, dafür aber die fesselndere Musik und großartige Sänger. Der komplette Abend ist so eindrucksstark, dass man die Bilder und Szenen noch lange gegenwärtig hat. Ein geglücktes, spektakuläres Ereignis – unbedingt anhören!

Freitag, 7. Oktober 2011

Kleist – Die Hermannsschlacht, 06.10.2011

Kleists Hermannsschlacht ist in unserer Zeit ein selten gespieltes Stück, daß den Worten des Autors folgend „mehr als irgendein anderes für den Augenblick berechnet war“ und den Zweck hatte, Preußen und Österreich zum gemeinsamen Kampf gegen Napoleon aufzurufen. Er thematisiert darin die Schlacht im Teutoburger Wald im Jahre 9. n.Chr. bei dem die Römer vernichtend geschlagen wurden als Vorbild für den Widerstand gegen Frankreich. Erst 10 Jahre nach Kleists Tod gedruckt, fast 30 Jahre nach seinem Tod uraufgeführt, wurde das Stück im Kaiserreich und durch die Nationalsozialisten vereinnahmt. Heute findet man das Stück oftmals nicht mehr in Theaterführern beschrieben.

Gestern wurde nun ein Wiederbelebungsversuch gestartet. Der Regisseur Simon Solberg hat mehr als die Hälfte der Personen gestrichen (sechs Schauspieler spielen neun Rollen) und den Text stark gekürzt. Die größte Überraschung: er spielt Kleists Hermannsschlacht als Komödie. Allerdings wirkt der Humor meistens sehr deutsch: erzwungen und angestrengt komisch wirken die Schauspieler wie weichgespülte Spätpubertierende. Das ist nicht wirklich lustig, aber wer sich darauf einlässt erlebt einen amüsanten Abend. Der Preis, der dafür zu zahlen ist, ist hoch: das Stück wird entpolitisiert und jede tragische Fallhöhe minimiert. Hermann wird im Beiheft zwar als „machiavellistisch geschulter Taktiker“ definiert, auf der Bühne wirkt er aber mehr als ein Clown, der mit platten Albernheiten zwischen Germanen und Römern jongliert.

Als Pseudo-Bedeutsamkeit wird das Stück aus der Zeit gehoben und als zeitenübergreifendes Partisanenstück präsentiert. Als Germane bekämpft man die Römer, als Azteke die Spanier, man kämpft gegen die Inquisition, als Herero gegen die deutschen Kolonialisten, man empört sich gegen den Vietnamkrieg, ein Hakenkreuz darf auch nicht fehlen. Dabei wird Jugendtheater-gerecht auf niedriger pädagogischer Flughöhe präsentiert.

Trotzdem erlebt das Publikum einen kurzweiligen und unterhaltsamen Abend. Alle sechs Schauspieler (vier neue und zwei alte Ensemblemitglieder) zeigten so viel Spielfreude und Engagement, dass das Publikum ihnen auch die albernen Passagen verzieh. Die Bühnenbildnerin Maike Storf hat dazu ein wunderbar abwechslungsreiches Bühnenbild entworfen, das mit vielen Überraschungen aufwartet.

So machte sich eine ambivalente Stimmung breit. Der Regisseur zeigt uns einen anspruchslosen und unpolitischen Wohlfühl-Hermann, der aber unterhaltsam und spannend ist.
Der Schlußapplaus begann freundlich-zurückhaltend. Sehr schön war zu beobachten, wie die Schauspieler ratlos ins Publikum schauten: war die Premiere ein Erfolg oder eine Pleite? Die Zuschauer entschlossen sich mehrheitlich, es zum Erfolg werden zu lassen und verstärkten ihren Applaus bis die Erleichterung und die Freude auf den Gesichtern der Schauspieler zu erkennen war.

Fazit: eingeschränkt empfehlenswert. Als Theaterfan aber unbedingt anschauen!

Thusnelda: Cornelia Gröschel, Ventidius: Simon Bauer, Aristan: Robert Besta, Varus/Marbod/Thuskar: Hannes Fischer, Hermann: Paul Grill, Selgar: Thomas Halle

Mittwoch, 5. Oktober 2011

SPIEGEL Online über das Karlsruher Theater

Zeitgenössischer Dadaismus trifft auf Bühnenklassiker: Mit "Der große Marsch" von Wolfram Lotz und Lessings "Minna von Barnhelm" weiht das Staatstheater Karlsruhe sein neues Studio ein - und will so die "Notwendigkeit des Theaters" betonen.

http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,789883,00.html

Dienstag, 4. Oktober 2011

Peter Sloterdijk - Du musst dein Leben ändern, 03.10.2011

An diesem Wochenende nahm auch das Schauspiel des Karlsruher Staatstheaters Fahrt auf: neben der sympathischen Produktion 100% Karlsruhe und dem ersten Karlsruher Dramatikerfestival startete auch die erste Repertoire-Inszenierung, die keinen für die Bühne geschriebenen Text zum Thema hatte, sondern das Buch des Karlsruher Philosophen Peter Sloterdijk: "Du musst dein Leben ändern". Der Buchtitel ist wiederum aus Rilkes Gedicht "Ärchäischer Torso Apollos" entnommen.
Es handelt sich bei Sloterdijks Buch um eine Ethik, das über einen Zeitraum von über 2000 Jahren die Geschichte des Menschen als Geschichte eines übenden und sich künstliche und symbolische Immunsysteme schaffenden Wesens beschreibt und analysiert.

Damit stellen sich vorab folgende Fragen: Wie und wieso inszeniert man eine philosophisch-ethische Geschichtsanalyse? Wie vermittelt man einen über 700 Seiten langen philosophischen Text? Wie spricht man ihn, damit das Publikum den Thesen folgen kann? Wie trifft man den Tonfall des Autors?
So viel vorab: der Regisseur Patrick Wengenroth konnte keine dieser Fragen zufriedenstellend beantworten.

Zum Wieso: Sloterdijk stellt das Motto für die Spielzeit und hat die Schirmherrschaft für die Karlsruher Bühne übernommen. Als bekanntester Karlsruher Bürger, international renommierter Philosoph, Essayist und ZDF Moderator ist er prädestiniert, um ihn einem größeren Karlsruher Publikum vorzustellen.

Zum Wie: jede Aufführung wird an einem anderen Ort stattfinden. Die Premiere war in der alten Oberpostdirektion in den Räumen der Volkswohnung und hatte Seminarcharakter. Das Publikum sitzt an U-förmig aufgestellten Tischen.
Vier Schauspieler (Antonia Mohr, Lisa Schlegel, Klaus Cofalka-Adami, Stefan Viering) lesen und spielen Ausschnitte von Sloterdijk (nicht nur aus seinem Buch) und kontrastieren diese mit Texten von Beckett (Endspiel),  Nietzsche (Zarathustra), Goethe (Prometheus), Eva Hermann und eventuell anderen, die ich nicht identifizieren konnte. Im Tonfall wird variiert zwischen Seminar, Vorlesung, Selbsthilfegruppe, Krisen- und Katastrophenwarnungen, Pathos, Ironie, Rührseligkeit und Geschwätz.

Schnell zeigte sich das Hauptproblem des Abends: einen philosophischen Text nicht nur zu sprechen, sondern Inhalte auch zu vermitteln oder sie durch ergänzende Autoren erfolgreich einzuordnen.
Als reines Schauspiel betrachtet ist der Text meistens zu spröde und erschließt sich nicht auf Anhieb und aus dem Zusammenhang gerissen. Eine zentrale und am leichtesten lesbare Passage aus Sloterdijks Buch, die Gedichtinterpretation Rilkes, deutete an, zu was eine überlegtere Textvermittlung fähig gewesen wäre, doch Wengenroth vergab die Chance, indem er das Pathos übertrieb und die Aussage zur Nebensache machte. Ein kurzer Höhepunkt schlich sich ein als Lisa Schlegel einen Text (m.E. von) Eva Hermanns sprach und Text und Interpretation auf der Höhe ihrer Möglichkeit zeigte.
Obwohl der Regisseur versuchte, witzig zu sein, war der Abend verkrampft und durchweg nicht amüsant. Zu oberflächlich die ironische Distanz, zu aufgesetzt die nachdenklichen Passagen, unerträglich die zur Entspannung geträllerten Selbsthilfe-Lieder, zu rührselig und inauthentisch die Pathos-Verdichtungen, zu platt die regelmäßig eingebauten Versprecher, zu unüberlegt und inhomogen also die Textvermittlung.

Resultat: Sloterdijks Thesen kamen nur selten an, das Publikum konnte den Argumentationen nur schwer folgen. Schnell machten sich Langeweile und Ermüdungserscheinungen bemerkbar. Es lag nicht an den Schauspielern, die einen sehr guten und engagierten Eindruck hinterließen, dass man durchweg den Eindruck hatte an einem belanglosen und überflüssigen Abend teilzunehmen.
Wer Sloterdijks Buch nicht kennt, wird es an diesem Abend nur sehr begrenzt kennenlernen und sehr wahrscheinlich einen falschen Eindruck davon bekommen. Wer es kennt, erfährt nichts Neues. Der Abend wird dem Buch weder inhaltlich noch als Rezension gerecht.

Zum Glück gab es nach einer Stunde Rotwein für das Publikum; der half die zweite Hälfte zu überstehen.
Fazit: nicht empfehlenswert.



Janacek – Katja Kabanova, 30.09.2011

Eine weitere erfolgreiche Wiederaufnahme aus der letzten Spielzeit mit geringer, aber wichtiger personeller Veränderung: statt Christina Niessen gab der Karlsruher Publikumsliebling Barbara Dobrzanska ihr Rollendebüt und wurde erwartungsgemäß umjubelt. Frau Dobrzanska ist ein Phänomen: gleichgültig welche Rolle sie übernimmt – andere Sänger erscheinen nur noch in Nebensätzen und in Relation zu ihr. Dabei ist die Karlsruher Besetzung vorzüglich: Bernhard Berchtold (ihn wird der neue Tenor Andrea Shin ersetzen), Ulrich Schneider, Matthias Wohlbrecht, Stefanie Schaefer und Sonja Borowski-Tudor sangen bereits letzte Spielzeit sehr erfolgreich die Premiere und waren auch an diesem Abend sehr gut. Sebastian Kohlhepp, der ab diese Spielzeit die Rolle des Vanja übernimmt, ist ein Zugewinn.
Justin Brown, der Dirigent der Premiere, hat an Christoph Gedschold übergeben.

Die Inszenierung hat auch bei der Wiederaufnahme nicht durchgehend überzeugt: sie lebt von den Bühnenbildern und der gelungenen Umsetzung der  ausdrucksstarken musikalischen Passagen in den ersten beiden Akten. Der dritte Akt ist aus verschiedenen Gründen der am wenigsten überzeugende: Katjas Verzweiflung hin zum Selbstmord fehlt die innere Spannung und wird nur sängerisch getragen: die Personenführung (individuell und im Chor) wirkt einfallslos.

Da Barbara Dobrzanska erst 2012/2013 wieder eine Premiere singen wird, wurde ihr Rollendebüt an diesem Abend von der Intendanz entsprechend gewürdigt: GI Spuhler und Operndirektor Schaback verteilten Blumen an die Sänger, zeigten vor und nach der Aufführung Präsenz und wurden dabei verstärkt durch Chefdramaturg Dr. Feuchtner und der designierten neuen Pressechefin Frau Johner. Es kam also fast etwas Premierenstimmung auf.

PS: Drei neue Sänger verfolgten die Aufführung im Zuschauerraum: Stefania Dovhan, Rebecca Raffell und Lucas Harbour.