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Samstag, 27. Mai 2023

Mann - Mephisto, 26.05.2023

Von Mitläuferinnen und Mittäterinnen
Mephisto ist ein Roman, dessen Geschichte spannender ist als seine Handlung und dessen Thema oft mißverstanden wird: Mephisto ist vor allem ein Roman über Gustav Gründgens (*1899 1963). Autor Klaus Mann (*1906 1949), der nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 ins Exil ging, verbarg nicht den Haß, den er auf den in Berlin bleibenden Gründgens (seinen ehemaligen Kollegen, Freund und Schwager, der 1926-1929 mit Erika Mann verheiratet war) verspürte. Der Konflikt von Kunst und Macht wird anhand Gründgens Karriere vor und im Nationalsozialismus aufgezeigt.

Das Programmheft zu Mephisto gibt mit einem Zitat von Arthur Schopenhauer vor, was auch für Führungspersonal am Theater gilt: "Wir sind nicht nur für das verantwortlich, was wir tun, sondern auch für das, was wir widerspruchslos hinnehmen." Und das gilt gerade für das eigene nächste Umfeld und nicht für Probleme jenseits der eigenen Einflußsphäre, wo man lediglich symbolisch protestiert, um seinen Narzissmus in Szene zu setzen! Aus Sicht des Karlsruher Staatstheaters ist Mephisto hinsichtlich des Schuldigwerdens durch Schweigen und Mitwirken besonders interessant. Immerhin hatte man einen 2020 erfolgreich geschassten  Generalintendanten, der über beste Kontakt zur zuständigen Ministerin verfügte, am Badischen Staatstheater eine toxische Arbeitsatmosphäre geschaffen und "viele Menschen mit seinem Kontrollzwang und cholerischen Verhalten sehr verletzt" hatte, wie Schauspieldirektorin Anna Bergmann erklärte (hier der Link zum Artikel im VAN Magazin von 2020). Wie laut Bergmann über die Verhältnisse schwieg, konnte man nach der Rebellion der Operndramaturgen gegen den Intendanten bemerken, denn erst dann traute sie sich, die Dinge beim Namen zu benennen. Sie räumte "neofeudale Machtstrukturen im Theater" ein: "Diese Strukturen sitzen uns allen so tief in den Knochen, daß man auch selbst nicht davor gefeit ist, diese zu reproduzieren – egal ob man ein Mann oder eine Frau ist. .... Ich kann mich da nur in aller Form entschuldigen, wenn ich mich mal im Ton vergriffen oder zu starken Druck ausgeübt habe, weil ich zu sehr wollte, daß alles funktioniert." Bergmann hatte schweigend in einem repressiven Umfeld ihre eigene Mephisto-Erfahrung und macht 2024 Platz für einen unbelasteten Neuanfang im Karlsruher Schauspiel.
Schwerwiegend scheint auch der Fall der Künstlerischen Betriebsdirektorin Uta-Christine Deppermann, die für Außenstehende unverständlich über 2024 hinaus am Badischen Staatstheater im Amt bleibt.  Die 2020 zur Entlassung des Intendanten führende Eskalation begann mit der Beschwerde der damaligen Chefdramaturgin, die sich Rat suchend an die Karlsruher Kulturamtsleiterin wendete und verraten wurde. Als der Intendant von der Kritik an seinem Führungsstil erfuhr, ließ er ein Exempel statuieren. Der damalige Operndramaturg Patric Seibert beschrieb im VAN wie folgt die Vorkommnisse: "»Das war seelische Gewalt der besten Sorte ..... Das war einer meiner schlimmsten Tage im Haus.« Auf einem anschließenden Treffen der Spartenindanten sei die Künstlerische Betriebsdirektorin Uta-Christine Deppermann [der Chefdramaturgin] gegenüber »ausgerastet«. Für Patric Seibert, der daran ebenfalls teilnahm, war es »eine Art Tribunal«. »Sie musste sich erklären, warum sie das getan habe, daß es ein theaterschädliches Verhalten gewesen sei … «". Es gibt keinen Hinweis auf eine Gegendarstellung Deppermanns zu diesem Vorkommnis auf der obigen Webseite. Das Verhalten der Betriebsdirektorin scheint aber keine Konsequenzen gehabt zu haben. Und auch der Geschäftsführende Direktor Johannes Graf-Hauber fiel öffentlich nicht durch Zivilcourage auf. Beide bleiben trotz Intendanzwechsel im Amt. Beide reihen sich in die lange Liste des Problempersonals am Badische Staatstheater ein. Beide fielen unangenehm dabei auf, wie sie das Theater instrumentalisierten, um ihre ideologische Selbstdarstellung und private Meinungen über die sozialen Kanäle des Theaters zu verbreiten. Beide haben zwar keine Außenwirkung, doch als Bürokraten in Führungsebene liegt der Verdacht der Kollaboration nahe. Der Intendant trägt nun nur noch Verantwortung für die künstlerische Seite des Staatstheaters, intern -da wo man vom "Reformprozeß" des Theaters spricht- haben Deppermann und Graf-Hauber das Sagen. Und man hört immer noch von Ärger und Prozessen vor dem Arbeitsgericht. Beide verhindern einen unbefleckten Neustart, beide sollten nur als Interimslösung geduldet werden und bald gehen. 

Gestern nun also die Premiere. Erneut arbeitet man einen Roman in ein Bühnenstück um, und das gelingt diesmal bemerkenswert überzeugend und stimmig! Schauspieldirektorin Anna Bergmann, sonst stets bemüht, eine weibliche Perspektive einzunehmen, verweigert sich einer Modernisierung der Vorkommnisse. Im Zentrum steht keine Hendrike Höfgen, sondern der historische Gustav Gründgens als Hendrik. Klaus Mann als Theaterfigur tritt in der Bühnenfassung seines Romans auf - man inszeniert historischen Zeitkolorit ohne Anklänge an das eigene Fehlverhalten. Doch der Premierenabend war spannend, abwechslungsreich und nah am Roman! Lange Jahre leidete man am Karlsruher Schauspiel unter Mangelerscheinungen, ein Skorbut durch Fehlen von ausreichend guter Ideen. Diese Spielzeit ist, was die Premieren im Kleinen Haus angeht, die beste Saison seit langer Zeit. 

Donnerstag, 15. Dezember 2022

Reza - Der Gott des Gemetzels, 14.12.2022

Wer erinnert sich an die letzte rasante Komödie?
Das Leichte ist bekanntlich das Schwere, und am Karlsruher Schauspiel fand sich über ein Jahrzehnt kein Schauspieldirektor, der sich traute, eine richtige Komödie zu stemmen. Auch Anna Bergmann weigerte sich vier Spielzeiten lang und erarbeitete sich lieber den eher moralinsauren Ruf, daß an einem deutschen Staatstheater nicht gelacht werden darf. Nun, in Bergmanns fünfter Spielzeit und zum ersten Mal seit Knut Webers Schauspieldirektion, ist es geschafft: mehrere Zuschauer lachten gleichzeitig, und das auch noch öfters! Und die vier Schauspieler dürfen auftrumpfen wie zu besten Zeiten!  Nach langen Jahren der Humorlosigkeit am Karlsruher Schauspiel ist diese Inszenierung ein entschiedener Fortschritt.

Sonntag, 6. Februar 2022

Birch - [Blank], 05.02.2022

Die Stunde(n) des reproduzierenden Künstlers
oder
Szenen aus dem beschädigten Leben
Mit [Blank] hatte Autorin Alice Birch eine aus Sicht des deutschen Theatermarktes kommerziell raffinierte Idee. Das Stück besteht aus 100 nicht zusammenhängenden Szenen und ca. 400 Seiten Text, aus denen sich jede Inszenierung frei bedienen kann. [Blank] ist also ein Selbstbedienungs- und Baukasten-Theaterstück. Der produzierende Künstler (also die Autorin) gibt dem reproduzierenden Künstler (Regie/Inszenierung) die offizielle Erlaubnis, sich quasi in den Vordergrund zu drängen und aus dem Text zu machen, was ihm paßt. Gerade in einem Land wie der Bundesrepublik (-in der es Kunst für alle geben soll, eine Re-Feudalisierung durch hohe Eintrittspreise durch großzügige Finanzierung der Theater durch Steuergelder verhindert wird, und jede Stadt ihren Bürgern Hochkultur bieten will-) ist der kommerzielle Erfolgsdruck auf reproduzierende Künstler niedrig und im Windschatten finanzieller Absicherung hat sich ein breites Inszenierungsprekariat herangebildet, dessen Ego weit größer als sein Können ist. Auch am Badischen Staatstheater leidet man seit über einem Jahrzehnt regelmäßig unter diesem Phänomen: Inszenierungsteams, die nicht Werk und Schauspieler, sondern sich selber in den Mittelpunkt stellen, dafür Autor, Stück und/oder Publikum über die Klinge springen lassen und das Theater für eigene Zwecke instrumentalisieren; Hauptsache sie sind im Scheinwerferlicht. Solche Inszenierungen zum Zwecke der Selbstbefriedigung der Regie mit Zuschauern als erzwungenen Voyeuren sind seit einigen Jahren Kennzeichen einer Selfie-Generation, bei der Selbstherrlichkeit schnell zur Spießigkeit wird. Man kann von einer problematischen Tendenz zur doppelten Selbstreferenzialität des deutschen Steuergeldtheaters sprechen: Man macht Theater, weil es nun mal die Aufgabe eines mit Steuern finanzierten Theaters ist, Produktionen auf die Bühne bringen, und das Regieprekariat hat oft keine originellere Idee, als sich selber und ihren Suppentellerrand als banale Inspiration zu verwenden (gerne kaschiert als Zeigefinger- und Betroffenheitstheater oder mit plakativer, politisch korrekter Agitprop-Attitüde mit der man "Relevanz" vorgaukelt). Inspiration und Originalität sind dabei Routine und Selbstdarstellung gewichen. Gerade das Karlsruher Schauspiel hat in der Hinsicht einen Absturz erlitten, seitdem es zu oft Theater von Spießern für Spießer bietet.
Die deutsche Erstaufführung von Alice Birchs [Blank] erfolgte gestern am Badischen Staatstheater, Schauspieldirektorin Anna Bergmann ergriff die Gelegenheit und inszeniert selber. Das Ergebnis ist bemerkenswert, kurzweilig und ungewöhnlich eindrucksreich. Die Regisseurin hat aus [Blank] zwei unterschiedliche, nacheinander gespielte Stücke für insgesamt 16 Schauspieler zusammengefügt, die in einer Gegenüberstellung auf ganz unterschiedliche Weise Szenen aus beschädigten Leben zeigen. Vor der Pause sieht man eine Mischung aus Psychodrama und Krimi, es geht um prekäre Zustände, Gewalt, Vergewaltigung, ein entführtes Mädchen, Mord, zwei Kommissare, einen Sozialarbeiter und eine Psychopathin. Freunde düsterer skandinavischer Krimis kommen auf ihre Kosten. Nach der Pause wird es voyeuristisch: die meisten Schauspieler agieren splitternackt und geben unerwartete Einblicke in einer grell überzeichneten, derben Satire auf das grün-woke Selbstherrlichkeitsmilieu. Von den 16 hochmotivierten starken Schauspielern können insbesondere Antonia Mohr, Wassilissa List und Timo Tank für ihre intensiven Szenen im ersten Teil hervorgehoben werden.

Freitag, 29. Oktober 2021

von Schirach - Gott, 28.10.2021

Scheinveranstaltung mit Scheinargumenten
Ferdinand von Schirachs Terror (mehr hier) als Theaterstück mit Publikumsbeteiligung war ein großer kommerzieller Erfolg, über eine halbe Million Besucher sollen es weltweit im Theater gesehen haben. Ethische Dilemma als unlösbare Konflikte, bei denen man stets falsch handelt, wenn man richtig handeln will, werden buchstäblich verhandelt, in Terror als Gerichtsverhandlung, nun in Gott vor einem Ethikrat und am Schluß darf der Zuschauer seinen Senf beitragen und seine unmaßgebliche Meinung in einer Zuschauerabstimmung kund tun. 'Schuldig oder nicht schuldig' (Terror), nun sogar 'Tod oder Leben', denn in Gott geht es um den Wert eines Lebens und die Frage der assistierten Sterbehilfe. Eine 78jährige, kerngesunde(!), aber traurige Witwe will aus dem Leben scheiden, vor der anzuwendenden Gewalt gegen sich selbst scheut sie zurück und fordert das Recht auf medizinisch verträgliches Ableben mittels einer letalen Überdosierung eines Medikaments.
Die Premierenkritiken im Frühherbst 2020 waren schlecht und vor der TV-Premiere Ende November 2020 geriet der Text stark unter Druck. In einem Offenen Brief schrieben Palliativmediziner und Psychologen zu Schirachs Stück ein vernichtendes Urteil: "Die handelnden Personen entsprechen zum Teil einem Zerrbild und auch die Fakten entsprechen zum Teil nicht dem aktuellen wissenschaftlichen Stand. Auch fehlen die Positionen der modernen Suizidprävention. Darüber hinaus entsprechen weite Teile der Diskussion nicht der eigentlichen Frage." Gott taugt nicht als Diskussionsbasis über Sterbehilfe, dazu ist der Text zu schwach konstruiert, Personen und Argumente sind nicht ausgeglichen, ein argumentatives Unentschieden will der parteiische Autor nicht erreichen. Was man sieht, darf man auf keinen Fall inhaltlich überbewerten, denn Realität findet sich kaum in dieser Fiktion von Scheinargumenten in einer so nicht existierenden Scheinveranstaltung. Somit stellt sich nur die Frage, ob Gott trotz eklatanter Schwächen gutes Theater bieten kann. In Karlsruhe erlebt man eine ruhige, unaufgeregte Inszenierung mit dem etwas langweiligen Reiz einer Talkshow, in der unter sehr guten Schauspielern  insbesondere Jannek Petri und Timo Tank als meinungsstarke Figuren ihr Können unter Beweis stellen.

Sonntag, 4. Oktober 2020

Die neuen Todsünden, 03.10.2020

Moralunterweisungen für den Kindergarten
Vieles paßt nicht zusammen und will nicht funktionieren bei der ersten großen Produktion der Spielzeit. Die sieben "Kurzdramen" zum altertümlich und sogar reaktionär anmutendem Thema Todsünde, die gestern im Karlsruher Schauspiel Premiere hatten, sind heterogen und leiden unter fehlender Qualität und Haltungsschäden vieler Texte, die teilweise peinlich plakative Geschichten erzählen. Die Geschichten rangieren zwischen Etikettenschwindel (es geht gar nicht um Sünde) und moralischem Pfaffentum (denn erneut sieht man vorgekautes und vorgegaukeltee Relotius-Theater: man konstruiert sich eine plumpe schwarz-weiße Handlung, um künstlich den Zeigefinger heben zu können und sich als selbsternannte Moralwächter aufzuspielen). Das fast vierstündige spartenübergreifende Potpourri mit Schauspielern, Sängern und Tänzern erwies sich als Pseudo-Spektakel, das fast eine Totalpleite geworden wäre, wenn nicht nach der Pause Timo Tank durch große Schauspielkunst aufgetrumpft hätte.

Sonntag, 6. Oktober 2019

Bergman: Passion - Sehnsucht der Frauen, 05.10.2019

Therapeutenlos im Trauma
Anna Bergmann hat sich erneut Ingmar Bergman vorgenommen. Nach den erfolgreichen Szenen einer Ehe und dem zum Berliner Theatertreffen eingeladenen Drama für zwei Frauen Persona (eine Koproduktion des Theaters in Malmö und des Deutschen Theaters Berlin, die inszenatorische Parallelen zur Karlsruher Inszenierung aufweist und die man hoffentlich auch noch am Badischen Staatstheater zu sehen bekommt) kombiniert die Karlsruher Schauspieldirektorin und Regisseurin nun drei weitere Filme des Schweden zu einem dreistündigen Theaterabend. Oberflächlich betrachtet könnte Passion - Sehnsucht der Frauen eine Kombination von zwei der drei zugrunde liegenden Filmtitel sein. Nach der gestrigen Premiere ergibt sich ein anderer Sinn, denn es geht um Frauen, die leiden und sich nach Leiden sehnen, die sich nach Unglücken und Schicksalsschlägen selbst bedauern und sich aus der Spirale des Selbstmitleids nicht befreien können. Die Übersetzung der über 50 Jahre alten Filme in unsere Zeit zeigt Frauen, die sich in ihrem Unglück suhlen und sich daraus ihr persönliches Selbstmitleidsdrama konstruieren, das sie als Rolle ihres Lebens mißverstehen. Trotz kurzer heiterer Momente hat Anna Bergmann einen spannenden, aber auch oft bleischweren und grelldüsteren Überbietungswettbewerb zwischen Psycho-Drama und Trauma mit so überzeugenden Schauspielern inszeniert, daß man sich als Zuschauer die Frage stellt, wieso manche Figuren auf der Bühne statt in Therapie sind.

Freitag, 26. Oktober 2018

Bergman - Szenen einer Ehe, 25.10.2018

Volltreffer: Bergmann inszeniert Bergman hautnah und spannend
Männer können interessanter werden, Frauen hingegen werden einfach nur älter. In Ingmar Bergmans Szenen einer Ehe verläßt Johan plötzlich seine Frau Marianne und ihre beiden Kinder, um mit einer 20 Jahre jüngeren Frau eine Affäre auszuleben und sich ein neues Leben aufzubauen. Marianne ist stark und verbittert nicht, Johan wird in der neuen Beziehung nicht glücklicher, beide können nicht voneinander lassen.
Szenen einer Ehe - der Titel wurde fast sprichwörtlich. Ein Blick unter die Oberfläche und hinter die offizielle Kulisse - diese Perspektive gelingt mit den beiden Schauspielern Sina Kießling und Timo Tank in der Inszenierung Anna Bergmanns herausragend gut und es fällt leicht zu prognostizieren, daß es schwer sein wird, als Zuschauer an Karten zu kommen - pro Vorstellung dürfen nur etwa 40 Besucher hautnah dabei sein, bereits jetzt sind die ersten Vorstellungen ausverkauft.

Montag, 7. Mai 2018

Gabunia - Tiger und Löwe, 03./06.05.2018

Die Vergangenheitsbewältigung der anderen
Tiger und Löwe handelt vom sozialistischen Terror unter Stalin, der in den Ländern der früheren Sowjetunion noch immer nicht aufgearbeitet wurde. In den Archiven verstecken sich die traurigen Schicksale und werden vergessen. Tiger und Löwe erzählt erfundene Geschichten von Opfern mit wahrem Hintergrund, die sich 1937 in Georgien abspielten. Autor Davit Gabunia ist Dramaturg am Royal District Theatre im georgischen Tiflis, das er zusammen mit Regisseur Data Tavadze seit 2008 leitet. "Tiger und Löwe ist das erste Theaterstück, das an die Säuberungen der Stalinzeit erinnert, vor allem an die vielen Künstler, die im „Großen Terror“ gefoltert, verschleppt und ermordet wurden", erläutert das Programmheft. Leider reichen gut gemeinte Absichten nicht aus, um daraus ein bemerkenswertes Theaterstück zu machen. Tiger und Löwe ist szenisch über weite Strecken zu statisch, bedeutungsschwanger und düster erstarrt, dramaturgisch schwerfällig und sprachlich gestelzt - ein pausenloses Stück, das man besser im Studio hätte zeigen können, das aber als Abo-Produktion im Kleinen Haus qualitativ fehlplatziert erscheint (und das mal wieder die große Frage aufdrängt, wieso man sich am Karlsruher Schauspiel so schwer tut und uninspiriert bei der Stückeauswahl zeigt).

Freitag, 24. November 2017

ETA Hoffmann - Der goldene Topf, 21./23.11.2017

Bekloppte Handlung in bravouröser Inszenierung
Der Mensch ist täglich von Wundern umgeben, die deutsche Romantik wollte den Sinn für das Wunderbare wiederbeleben und so das Leben romantisieren. ETA Hoffmanns Prosamärchen Der Goldene Topf aus dem Jahr 1814 ist eine Novelle der Romantik und kein Theaterstück. Daß es nun auf der Bühne des Karlsruher Schauspiels gelandet ist, hat einen einfachen Grund: wie auch Goethes Faust wird es zum Abiturthema, die Adaption soll es Schülern näher bringen. In diesem Fall bedeutet das glücklicherweise nicht, das phantasievoll-skurille und in gewisser Weise surreal-komische Märchen irgendwie exzentrisch auf diskutable Weise psychologisch umzudeuten, sondern vielmehr eine anschauliche Romantik-Erfahrung zu vermitteln, "die Vielschichtigkeit des Kunstmärchens beizubehalten und eine Vielfalt an Deutungsmöglichkeiten zuzulassen". Und das gelingt beeindruckend gut! Man bleibt nah am Stoff und setzt ihn sehr einfallsreich, inspiriert, liebe- und humorvoll gestaltet in Szene. Daß Der Goldene Topf nun mal kein Theaterstück, sondern ein etwas abstrus hinkonstruiertes und zusammenfabuliertes Märchen mit manchen Willkürlichkeiten ist, bleibt die einzige Einschränkung dieser schönen Produktion.

Donnerstag, 28. September 2017

Vekemans - Judas, 27.09.17

Timo Tank ist zurück!
Und wie! Wer sonst kann bei einem 75minütigen Monolog so die Spannung hochhalten, so virtuos Facetten zeigen, eine Einmannshow so souverän und mit Stärke meistern. Großes Theater! Tank (mehr zu ihm auch hier) zeigt sich unverändert und führt den Zuschauern vor, auf was man während seiner Abwesenheit in Karlsruhe verzichten mußte. Und man sollte sich auf keinen Fall vom religiösen Kontext beeindrucken oder abschrecken lassen, Judas ist vor allem eine spannende und unterhaltsame Geschichte, die gerade nicht bierernst theologisch und düster daher kommt, sondern auch amüsante Aspekte hat und stets das Publikum im Auge behält. Der Jubel war groß nach der Premiere. Als Schauspiel-Fan sollte man sich diesen schauspielerischen Genuß nicht entgehen lassen.

Donnerstag, 19. Dezember 2013

Schnitzler - Der Einsame Weg, 18.12.2013

Abschied kann schmerzlich sein
Schnitzlers Schauspiel Der Einsame Weg im Kleinen Haus bietet die Möglichkeit, sich von zwei der charismatischsten Karlsruher Schauspieler des letzten Jahrzehnts zu verabschieden: Georg Krause und Timo Tank verlassen im Verlauf der Saison im 12. Jahr ihrer Zugehörigkeit das Ensemble. Beide hatten viele große Momente, beide hatten Rollen die ihnen besser und manchmal schlechter lagen, beide spielten in Inszenierungen, die nur durch sie lebten - kurz: beide sind große Schauspieler, an die man sich erinnern wird und die einen Maßstab aufgestellt haben, an denen sich andere messen lassen müssen.

Georg Krause ist der Schauspieler für die besonderen Momente. Ich habe bisher keinen Schauspieler erlebt, der wie er in der Lage war, eine Situation auf die Spitze zu treiben. Unvergessen bleiben für mich z.B. seine Auftritte in Tartuffe, der Affäre Rue de Lourcine, Was ihr wollt, dem Sommernachtstraum und als Brandner Kasper. In 25 Jahren als Theaterbesucher habe ich keinen anderen Schauspieler erlebt, der wie er seinen Zuschauern die Lachtränen in die Augen treiben kann und die Zwerchfellmuskulatur seines Publikums in einem Maße strapaziert, daß er sich nicht hätte wundern dürfen, wenn ihm durch Herbeiführen von Lachmuskelkrämpfen ein juristisches Nachspiel wegen Körperverletzung gedroht hätte. Diese Steigerungen kamen immer unerwartet und stellten fast explosionsmäßige Höhepunkte innerhalb der schönsten Schauspielabende dar.

Mit Timo Tank verlässt der derzeit vielseitigste Schauspieler das Ensemble, der es wie kein anderer geschafft hat, sich in zahllosen Hauptrollen ein ausgezeichnetes Renommée zu erarbeiten. Erinnert sich noch jemand an Der Diener zweier Herren? Als Truffaldino verzauberte Tank buchstäblich das Publikum; das Essen eines Kekses wurde bei ihm zum großen Schauspielmoment. Überhaupt die Zwischentöne sind es, die er wie kein anderer in vielen Haupt- und auch Nebenrollen beherrscht. Für seinen 40minütigen Solo-Autritt in My Secret Garden (mehr dazu hier) wurde er in der Jahresumfrage 2013 unter 44 Kritikern der Fachzeitschrift „Theater heute“ als Schauspieler des Jahres nominiert.

Georg Krause und Timo Tank waren für mich in den vergangenen Jahren maßstabsbildend und zeigten mir, daß man nicht nach Frankfurt oder Stuttgart fahren muß, um herausragend gute Schauspieler und tolles Theater zu sehen. Ihr Weggang ist ein Verlust.

Freitag, 17. Mai 2013

Kleist - Prinz Friedrich von Homburg, 16.05.2013

Es gab einen guten Aspekt am gestrigen Abend: Timo Tank (mehr zu ihm hier), der vielseitigste und wandelbarste Schauspieler des Badischen Staatstheaters, der in dieser Saison wie kein anderer herausragte und Höhepunkte in My secret Garden und Der einsame Weg setzte, wurde gestern nach der Premiere zum Staatsschauspieler ernannt. Herzlichen Glückwunsch!

Zuvor gab es bei der Premiere von Prinz Friedrich von Homburg wenig Licht, aber viel Schatten. Wer bisher das Schauspiel unter Jan Linders als große Enttäuschung wahrgenommen hat, der wird auch gestern konsterniert nach Hause gegangen sein. Wer danach das Programmheft las, um nach Regiehinweisen zu suchen, der mußte mit weiteren Frustrationen rechnen. Konzipiert ist das Stück für Schüler. Der etwas lang gewordene folgende Text versucht, den verschiedenen Defiziten auf den Grund zu gehen.

Dienstag, 22. Januar 2013

Hommage an Timo Tank

Es ist bisher (und nicht zum ersten Mal im letzten Jahrzehnt) im Schauspiel die Spielzeit von Timo Tank. Er hatte herausragenden Szenen in My secret Garden, er ist der stärkste Schauspieler in Büchners Dantons Tod  und liefert ein großes Rollenporträt als Sala in Schnitzlers Der einsame Weg. Dabei beweist er, daß es gar nicht immer darauf ankommt was gespielt, wenn man nur die richtigen Schauspieler dafür hat und diese ihre Stärken ausspielen dürfen.

Tank ist wahrscheinlich wie kein anderer des Karlsruher Schauspiel-Ensembles beim Publikum bekannt und beliebt; viele Besucher erkennen ihn auch abseits der Bühne. An vielen Erfolgsstücken des letzten Jahrzehnts war er beteiligt und man kann seine großen Auftritte schon lange nicht mehr an den Fingern beider Hände abzählen. Seine Erfolge umfassen tragende Rollen in wichtigen und erfolgreichen Produktionen und auch Nebenrollen werden bei ihm beachtenswert.

Als Truffaldino (Der Diener zweier Herren) machte er sich beim Karlsruher Schauspielpublikum einen Namen und prädestinierte sich beim Publikum als der Mann, der für die gute Stimmung, den Spaß und die Freude am Theater steht. Seine norddeutsche Lakonik und sein Humor machen ihn zum großen Komödianten. In Stücken wie Das Spiel vom Fragen, Was ihr wollt, Ein Sommernachtstraum, Arsen und Spitzenhäubchen u.v.a.m. brachte er durch seine unverwechselbare Art sein Publikum zum Lachen. Dazu kommt seine hohe Musikalität, die ihn für die Hauptrollen in Cabaret und Big Money prädestinierte. Große Auftritte in ernsten Rollen hatte er beispielsweise als Harry Haller im Steppenwolf, Achill in Kleists Penthesilea oder Graf Wetter vom Strahl in Das Kätchen von Heilbronn, als Happy in Tod eines Handlungsreisenden, als Mr. Marmalade oder auch den Insel-Produktion Sommersalon, Der Kissenmann und vielen weiteren.
 
Immer wieder fasziniert, wie er mit scheinbar wenig Aufwand seiner Figur einen Charakter gibt (z.B. in der kleinen Rolle als Prof. Kirschbaum in Jakob der Lügner). Sogar Nebenrollen werden bei ihm so zur großen Kunst. Er stellt seine Rollen nie motiv- oder motivationslos oder als phantastisch-erdachte Hybride dar, sondern behält immer das menschliche Maß der Charaktere im Auge. Dazu steht er mit perfekter Selbstverständlichkeit und Professionalität auf der Bühne und ist vielseitig wie nur wenige andere: er kann alles spielen!

Betrachtet man das Phänomen Timo Tank, fällt seine Wandlungsfähigkeit auf. Große Schauspieler kann man mit einem Chamäleon vergleichen: verwandelbar und fähig zur Charakter-Metamorphose, aber als Gestalt unverwechselbar, bieten die besten unter ihnen einen großen Farbenreichtum oder reflektieren in einigen wenigen, aber perfekt abgestimmten Farben. Timo Tank gehört zu denen, die durch Vielfalt und Genauigkeit verblüffen und begeistern. Wie kein anderer versteht er sich dazu auf die Kunst der Körpersprache, der Mimik und Gestik

Viele seine Rollen sind mir unvergessen und setzten den Standard für das, was man von einem hervorragenden Schauspieler erwarten kann: ein Chamäleon zu sein, das durch seine Wandelbarkeit immer wieder das Publikum in seinen Bann zieht. Timo Tank ist der Glücksfall eines kompletten und charismatischen Schauspielers, den jede Bühne benötigt, um beim Publikum zu punkten und es für sich zu gewinnen: er ist mehr denn je für die Ausstrahlung des Karlsruher Schauspiels unersetzlich.

Sonntag, 20. Januar 2013

Schnitzler - Der einsame Weg, 19.01.2013

Die neuste Schauspielproduktion des Badischen  Staatstheaters wurde gestern verdient mit lang anhaltendem Applaus belohnt. Der einsame Weg erlebte seine Uraufführung im Januar 1904 im Deutschen Theater in Berlin und bewies auch bei der Premiere in Karlsruhe eindrucksvoll die Aktualität und Größe Arthur Schnitzlers. Als Zuschauer wird man geradezu in den Spannungs-Sog des Dramas gezogen.

Freitag, 23. November 2012

Büchner - Dantons Tod, 22.11.2012

Um der gestrigen Premiere von Büchners Dantons Tod gerecht zu werden, muß man zweierlei Maß anlegen. Als regelmäßiger Schauspielbesucher wird man die Inszenierung dürftig, einfallslos und belanglos finden, ABER: die Zielgruppe dieser Produktion ist auch speziell - Büchners Text ist aktuell Pflichtlektüre für die gymnasiale Oberstufe. Die Inszenierung richtet sich an Schüler und will den Text verständlich aufbereiten. "Dabei wird" -laut Staatstheater- "ein Schwerpunkt auf die originale Sprache Büchners und seine Auseinandersetzung mit der Rhetorik der Revolution gelegt". Ob Dantons Tod also gelungen ist, müssen Schüler und Pädagogen beurteilen. Für ein kundiges Publikum ist der Abend zwar auf harmlose Art unterhaltend, allerdings nur mit ziemlich schwacher Aussage.

Donnerstag, 4. Oktober 2012

Richter - My Secret Garden, 03.10.2012

Das Erlebnis des gestrigen Abends war nicht My Secret Garden, sondern Timo Tank. Der Schauspieler gestaltete und dominierte auf großartige Weise einen Text, dem man nur ein beschränktes Haltbarkeitsdatum attestieren kann und der nur durch die faszinierende Schauspielkunst Tanks lebendig wurde.

Worum gehts es?
Nach dem Musical Alice startete gestern nun auch das Schauspiel auf der Studio-Bühne in die neue Saison. Ausgesucht hatte man sich eine deutschsprachige Erstaufführung: My Secret Garden des deutschen Bühnenautors Falk Richter (Jahrgang 1969) hatte seine Uraufführung in französischer Sprache beim Festival d’Avignon 2010. Laut Staatstheater ist der Text eine Reise in eine bundesrepublikanische Biografie: "Ein Mann um die vierzig, ein Schriftsteller, nachts in einem Hotelzimmer: Während sein Vater im Krankenhaus mit dem Sterben ringt, lässt der Autor sein eigenes Leben Revue passieren." Dieser Mann um die vierzig scheint der Autor selber zu sein; er spricht sich selber mit dem Vornamen Falk an. My Secret Garden besteht aus Reflexionen und Erinnerungen - den Innenansichten eines Autors.

Autofiktion?
Richter bezeichnet My Secret Garden als Autofiktion, eine Mischung aus Autobiographie mit erfundenen Bestandteilen oder eine Erfindung mit autobiographischem Anteil. Eine Mischung mit vorläufig unklarem Verhältnis. Die Autofiktion erscheint als eine Zweckform. Die autobiographische Selbstthematisierung ist immer auch eine Selbstuntersuchung: eine Therapieform, bei der man sich selber kennenlernt, sich eigene Unzulänglichkeiten von der Seele schreibt und gleichzeitig in die Zukunft blickt und den großen Bogen über ein Leben spannt. Verschleiert wird sie hier durch fiktive Elemente. Auf der Bühne wird für die erzählende Figur ein desaströses Lebengefühl diagnostiziert: ohne richtige soziale Kontakte, einsam, um Anerkennung als Autor ringend und voller Sinnlosigkeitsgefühle. Eine Entwicklungsgeschichte ohne geglückte Emanzipation. Die Schwäche des Textes besteht darin, daß er nicht konsequent zu Ende geschrieben ist. Etwas Unaufrichtiges, nicht Zuendeoffenbartes, Erfundenes lässt die schonungslose Offenheit vermissen, die nötig gewesen wäre, um My Secret Garden also große Innenanalyse gelten zu lassen. In Karlsruhe ist die Wirkung  des Textes keine stoffliche, sondern wird durch die Form des Erzählens erzielt: die Geschichte interessiert aufgrund der schauspielerischen Darstellung. 

Was wird gezeigt?

My Secret Garden ist zweigeteilt und beginnt als Monolog. In den ersten 50 Minuten blickt der von Timo Tank gespielte Erzähler zurück auf seine Kindheit und Jugend. Als Wunschbild stilisiert sich Tank in der ersten Szene: cool, selbstbewußt und lässig tanzt er auf der Bühne, doch die Fassade bröckelt schnell. Das beengende, spießige Milieu der Eltern in der norddeutschen Provinz, das von Lieblosigkeit und Enge gekennzeichnet war, ließ kein selbstbewußtes Ich entstehen, sondern eines, das von vitalen Unfähigkeiten und stumpfen Verstimmungen geprägt ist.  Die Vergangenheitsinstrumenalisierung wird aber auch zur Relativierung eigener Defizite genutzt. Im zweiten Teil, der den Autor und Künstler in den Mittelpunkt stellt und durch Dauerzweifel am eigenen Handeln und Bitterkeit gekennzeichnet ist, ergänzen zwei weitere Schauspieler das Ich des Erzählers. Dieser Abschnitt kann die Dichte des Beginns nicht halten und ist etwas schwächer. Die drei Schauspieler -Simon Bauer, Benjamin Berger, Timo Tank- tragen eng anliegende silbern-glänzende Kostüme, die an Ballett-Tänzer erinnern.  Kostüme, die nichts verbergen, aber auch das Inauthentische des Autofiktion-Konzepts zeigen.

Fazit: Als Schauspiel-Fan darf man Timo Tank nicht verpassen! In seinem Monolog gibt es keinen langweiligen Moment, jeder Satz lebt und atmet. Sein grandioser Auftritt bietet die kurzweiligsten und spannendsten 50 Minten seit langem. Insgesamt 90 schauspielerisch lohnenswerte Minuten.

Schauspieler: Timo Tank, Simon Bauer, Benjamin Berger
Regie: Pedro Martins Beja
Bühne und Kostüme: Christine von Bernstein
Musik: Jörg Follert

Freitag, 27. April 2012

Jurek Becker - Jakob der Lügner, 27.04.2012

Die literarische Woche geht weiter: nachdem es am Samstag eine getanzte Momo gab, folgte eine weitere Romanadaption: Jurek Beckers Roman Jakob der Lügner in einer Theaterfassung.

Die Geschichte von Jurek Beckers Roman über Jakob, der während des zweiten Weltkriegs in einem polnischen Juden-Ghetto vorgibt, eine Radio zu haben und erfundene Berichte darüber verbreitet, daß die rote Armee im Anmarsch sei und der Krieg sich wende, ist so einfach und eingänglich, aber auch exemplarisch und überzeitlich, daß es sich vom Buch löst und in einen Kanon des Wissens und der Verständlichkeit eingegangen ist.
Manche Bücher verselbständigen sich: sie werden erst gerühmt, besprochen und gelegentlich von einem größeren Publikum gelesen, dann in Schulen zur Lektüre, irgendwann verfilmt (sogar ein Remake aus Hollywood ist für Beckers Roman vorhanden) und da liegt es nicht fern, sie auch in Theaterfassung zu bringen. Der Nachteil solcher verfilmten und medial verbreiteten Stoffe ist, daß sie thematisch bekannt sind, daß man oft feste Vorstellungen dazu hat. Schon im Voraus weiß man zumindest so ungefähr, was passiert und wie es zu geschehen hat. Das kann ein Vorteil sein, wird sich aber auch oft nachteilig auswirken. In Karlsruhe unterläuft der Regisseur die Erwartungen auf ebenso geschickte wie überraschende Weise: er setzt auf Komik und ein erinnerungswürdiges Bühnenbild!

Bereits im April 2011 brachte der Regisseur Martin Nimz die Uraufführung einer Theaterfassung in Heidelberg auf die Bühne. Gestern nun eine neue Version im Badischen Staatstheater, die im Vergleich zu Heidelberg um einen namenlosen Erzähler erweitert ist (ein Kunstgriff, der zur Zeit in Mode zu sein scheint und auch bei Handkes Immer noch Sturm erfolgreich ist). Dieser schildert rückblickend die Ereignisse und sieht sich beim Erinnern und Selbstbefragen mit dem eigenen inneren Schrecken konfrontiert; als Überlebender konnte er sich nie vom Grauen des Ghettos befreien. Seine Schilderungen vom dortigen Leben sind anfänglich hoch amüsant, zeigen sie doch, wie man sich mit dem Leben in ständiger Ausnahmesituation arrangierte. So sind die ersten Szenen voller Situationskomik; der Schrecken schleicht sich nur unterschwellig hinein und die Beklemmung wächst langsam. Zum ersten Mal in dieser Spielzeit wird wieder im Zuschauerraum oft gelacht, der Kontrast zum starken Schlußbild ist dann umso schärfer. Die Bedrohlichkeit der Lage ist anfänglich fast zu stark zurückgenommen: die Komik angesichts der trostlosen Lage wird nicht jeder für angemessen und nachvollziehbar halten und sich vielleicht nur jenen ganz erschließen, die auch in einer verzweifelten Lage noch optimistisch bleiben und denken, daß es hätte schlimmer kommen können. Rückblickend fällt es schwer zu glauben, daß es in dieser Situation Humor überhaupt geben konnte. Es ist damit zu rechnen, daß der teilweise vordergründige Witz einigen zu weit geht und ihnen den hintergründigen Ernst zu stark verstellt.
Der Zwiespalt des fröhlichen Ghettos wird bei einigen Irritationen auslösen und Beckers Geschichte als Tragikomödie erscheinen lassen. Hier liegt das größte Diskussionspotential dieser Inszenierung.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung befürchtete im Juli 2011, daß mit der vermehrten Präsentation nicht für die Bühne geschriebener Texte die Entdramatisierung der Theater endgültig dramaturgisch beschlossene Sache zu sein scheint. Wenn man die Karlsruher Inszenierung betrachtet, möchte man der FAZ teilweise Unrecht geben: Es ist zwar ganz und gar nicht garantiert, daß man man einen guten Roman gewinnbringend auf die Bühne bringen kann (vor einigen Jahren war Hesses Steppenwolf ein Beispiel dafür, daß es nicht funktioniert), aber in Karlsruhe gelingt die Adaption. Obwohl die Szenen überwiegend episodisch sind, es Durchhänger gibt (ca. 30 Minuten des dreistündigen Abends hätte man verlustfrei kürzen können) und nicht jede Balance austariert ist, ergibt sich doch ein fast durchgängiger Spannungsbogen, der in einem beeindruckendem Schlußbild seinen Höhepunkt findet.

Das psychologische Destillat dieser Handlungskonstellation -eine Gruppe Menschen in beklemmender existentieller Ausnahmesituation- bietet auf den ersten Blick wenig Spielraum für Überraschungen. Es wurde vor allem in Filmen hinreichend konjugiert, da in solchen Situationen exemplarische Persönlichkeiten gezeigt werden. Für Regie und Schauspieler besteht die Herausforderung darin, daß die Individuen zu Typen, die Typen zu Individuen geworden erscheinen. Der Karlsruher Regie gelingt das leider nicht durchgehend, einige der Figuren bleiben einfach zu blaß und wirken fast wie Statisten, aber es entwickelt sich trotz weniger darstellerischer Schwachpunkte eine dichte Aufführung.

Viele Zuschauer werden bei Jakob der Lügner erleichtert aufatmen: endlich dürfen die Schauspieler zeigen, was sie können und -überraschend genug bei diesem Thema- darf auch gelacht werden. Dafür ist hauptsächlich Frank Wiegard verantwortlich, der als Friseur Kowalski seine bisher stärkste Rolleninterpretation in Karlsruhe zeigt.
André Wagner als namenloser Erzähler zeigt das, was er am besten kann: er überzeugt als traumatisierte, zerissene, sich im Zwiespalt befindende Person. Er ist die tragische Hauptfigur dieser Inszenierung.
Unter den sehr guten Schauspielern haben vor allem Cornelia Gröschel, Ute Baggeröhr (beide ein klarer Gewinn für das Karlsruher Ensemble!) Timo Tank (großartig, wie er mit minimaler Mimik seine Rolle verkörpert und doch seine Figur unverwechselbar macht) und Gunnar Schmidt  die Chance, ihr Können zu zeigen.

Nach der kurzfristigen Erkrankung des Hauptdarstellers Georg Krause (hier mehr zu ihm), wurde die für letzten Freitag angesetzte Premiere um zwei Tage auf Sonntag verschoben, nachdem man ebenfalls kurzfristig mit Axel Sichrovsky einen Ersatzschauspieler gefunden hatte, der nur wenige Tage intensiv geprobt hatte, um die ersten Termine zu retten. Sichrovskys Rollenporträt des Jakob als die des kleinen Manns von der Straße ist hauptsächlich der Anknüpfpunkt für die Betrachtungen des Erzählers und nicht, wie vielleicht von einigen erwartet, die eigentliche Hauptfigur im Zwiespalt. Sichrovskys Jakob ist einer unter vielen, ein unauffälliger Durchschnittsmann, den der Zufall als Held auserwählt. Jakob wird bei ihm nicht zum unverwechselbaren Charakter. Dem Zwiespalt seiner Figur als Lügner und Hoffnungsträger wird er nicht ganz gerecht. Ob das die Regie vorgab oder dem kurzfristigen Einspringen geschuldet ist, bleibt vorerst unklar. Sichrovsky spielt sehr gut und doch wird sich der eine oder andere gefragt haben, wie Krause die Rolle gespielt hätte oder bald spielen wird.


Die sehr kreative und intelligente Bühne von Bühnenbildner Sebastian Hannak (der auch am Samstag die Bühne zum Ballett Momo entworfen hat) ist massiv orange und gibt dieser Produktion eine unverwechselbare Form: Unmengen an kleinen orangefarbenen Bällen, die wie Orangen-Berge wirken, sollen zwei metaphorische Funktionen erfüllen. Sie verbergen Latentes, Verschüttetes und Vergessenes und sind gleichzeitig ein Bild für die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Fazit (1): Eine gute, interessante und originelle Inszenierung, die im positiven Sinne an gute Produktionen unter Knut Weber anknüpft.

PS (1): Das Karlsruher Schauspiel benötigte im Vorfeld dringend einen Erfolg, um die bisher magere Bilanz zu verbessern. Jakob der Lügner ist bis zum Spielzeitende zwölf mal im Spielplan vorgesehen. Viele populäre Schauspieler des Ensembles werden aufgeboten. Schon vor der Premiere waren nur noch wenige Plätze für die folgenden Aufführungen erhältlich. Anscheinend hat man darauf geachtet, daß möglichst viele Abonnenten dieses Stück zu sehen bekommen, damit die Zuschauerstatistik am Saisonende halbwegs ordentlich aussieht. Zu oft hatte man bisher zu wenig Publikum. Der Plan sollte aufgehen:  Im Detail mag die Inszenierung diskutabel sein, aber es handelt sich durchweg um eine legitime Sicht, die diesem schwierigen Stoff trotz oder gerade wegen des Humors angemessen ist.

PS(2): Man sieht dem lustigen Treiben auch deshalb verwundert zu, weil es das Gegenteil der bisherigen Spielzeit ist. Man könnte den Verdacht äußern, daß hier Wiedergutmachung betrieben wird und einige Schauspieler die Chance ergreifen, daß sie etwas aus ihren Rollen machen dürfen und endlich Theater spielen können. So sieht man gelegentlich etwas zu viel, die Möglichkeit zum Klamauk wird etwas zu stark ausgereizt, die Balance dadurch etwas verschoben. Ich habe mich als Zuschauer ebenfalls gelegentlich daran gestört, aber mich dann mehr darüber gefreut, daß man endlich etwas gezeigt bekommt.

Fazit (2): Und sehr spät nachts noch eine letzte Erkenntnis: man kann über diese Inszenierung in einem konstruktiven Sinne viel diskutieren und nachdenken. Und deshalb ist das Ergebnis meiner nächtlichen Selbstbefragung angesichts der Vielschichtigkeit dieser Produktion eine Empfehlung: Jakob der Lügner ist in dieser Spielzeit die bisher beste Inszenierung im Kleinen Haus. Ich werde sie -nicht nur wegen Georg Krause- ein zweites Mal anschauen. Ich bin gespannt, wie dann mein Urteil ausfällt.


Besetzung: Erzähler: André Wagner; Jakob Heym: Georg Krause/Axel Sichrovsky; Lina: Cornelia Gröschel; Kowalski, Frisör: Frank Wiegard; Mischa, Boxer: Benjamin Berger; Herr Frankfurter: Klaus Cofalka-Adami; Frau Frankfurter: Ursula Grossenbacher; Rosa Frankfurter: Ute Baggeröhr; Prof. Kirschbaum: Timo Tank; Elisa Kirschbaum: Eva Derleder; Herschel, der Fromme: Jonas Riemer; Fajngold: Hannes Fischer; Preuß: Gunnar Schmidt; Meyer: Robert Besta; Kostüme: Ricarda Knödler; Video: Manuel Braun