Wer erinnert sich an die letzte rasante Komödie?
Das Leichte ist bekanntlich das Schwere, und am Karlsruher Schauspiel fand sich über ein Jahrzehnt kein Schauspieldirektor, der sich traute, eine richtige Komödie zu stemmen. Auch Anna Bergmann weigerte sich vier Spielzeiten lang und erarbeitete sich lieber den eher moralinsauren Ruf, daß an einem deutschen Staatstheater nicht gelacht werden darf. Nun, in Bergmanns fünfter Spielzeit und zum ersten Mal seit Knut Webers Schauspieldirektion, ist es geschafft: mehrere Zuschauer lachten gleichzeitig, und das auch noch öfters! Und die vier Schauspieler dürfen auftrumpfen wie zu besten Zeiten! Nach langen Jahren der Humorlosigkeit am Karlsruher Schauspiel ist diese Inszenierung ein entschiedener Fortschritt.
Vorgeschichte: Zwei elfjährige Kinder aus gutbürgerlichem Milieu sind im Streit aneinander geraten, das eine schlägt dem anderen zwei Zähne aus.
Handlung: Ein Geschehen in Echtzeit. Die Eltern des zuschlagenden Kindes besuchen die Eltern des geschlagenen Kindes, um Abbitte zu leisten und ein Schreiben an die Versicherung vorzubereiten. Doch mit schlichten Worten ist es nicht getan, was wie ein Höflichkeitsbesuch mit Waffenstillstandsabkommen beginnt, eskaliert zusehends in verschiedensten Konstellationen des jeder gegen jeden im Wohnzimmer- und Ehekrieg.
Was ist zu beachten?
Vor 15 Jahren war Yasmina Rezas Komödie Der Gott des Gemetzels (UA 2007) das Stück der Saison, das auf zahlreichen deutschen Bühnen zu sehen war, auch in Karlsruhe. Es folgte 2011 eine etwas unter den Möglichkeiten bleibende Verfilmung von Roman Polanski und danach versank das Gemetzel quasi wieder in Vergessenheit. Es scheint naheliegend, wieso Bergmann Rezas Komödie nach über einem Jahrzehnt wieder hervorholt: hat man für den Gott des Gemetzels vier charakterstarke Hauptrollendarsteller, inszeniert sich das Stück fast von alleine, die Regie agiert als Unterstützung der Entfesselungskünstler - dieses Erfolgsrezept funktioniert auch bei der Karlsruher Neuinszenierung. Der Gott des Gemetzels wurde gelegentlich als Boulevardkomödie abgetan, die den Zuschauer in einer Konversationskomödie lieber zum Komplizen machen und das Abgründige unter Kontrolle halten will. Bergmann inszeniert das Gemetzel nicht als harmlosen Boulevard, sondern findet einen turbulenten und gelegentlich deftigen Weg, der Abgründe plausibel und komisch öffnet.
Was ist zu sehen (1)?
Der Gott des Gemetzels wird in der Regel in allen Inszenierungen durch gewisse Geschehnisse geprägt: eine Figur muß sich unkontrolliert übergeben, ein Mobiltelefon klingelt regelmäßig und wird, wie auch ein Strauß Tulpen, übel zugerichtet und hochprozentiger Alkohol enthemmt die Akteure zunehmend. All das geschieht auch bei Anna Bergmanns Inszenierung. Es beginnt ganz harmlos, gewinnt schnell an Biß und steigert sich stetig bis zur Albernheit und Groteske. Insbesondere die zunehmende Verschärfung gelingt der Regie bemerkenswert gut, sobald der Alkohol fließt werden die Darsteller wieder zu Teenagern, die in das Verhaltensmuster ihrer jugendlichen betrunkenen Ichs zurückfallen. Bergmann erweist sich als Könnerin, die das fragile Gleichgewicht der Komik aufrecht erhält und alle Register zieht: ob zugespitzter Dialogwitz oder Klamauk - es bleibt stets unterhaltsam und amüsant. Bravo!
Betrachtet man die Komödienerfolge der letzten 30 Jahre, dann gehört diese Inszenierung zwar nicht zu den Grand Crus (zu denen der Autor dieser Zeilen bspw. folgende Inszenierungen aus den Jahren 2003-2006 rechnet: Außer Kontrolle, Der Diener zweier Herren, Ein Sommernachtstraum und auch Die Grönholm-Methode), liegt aber stabil in der erweiterten Spitzengruppe. BRAVO! Hoffentlich ist Bergmann auf den Geschmack gekommen und läßt auch weiterhin Humor wieder zu.
Was ist zu sehen (2)?
Auch wer den Gott des Gemetzels kennt, wird Neues entdecken können. Für die 90 pausenlos gespielten Minuten hat man eine Drehbühne installiert, mit der man zwischen den verschiedenen Zimmern in der schicken Wohnung von Véronique Houillé (Ute Baggeröhr) und ihrem Mann Michel (Jannek Petri) wechselt. In dieser Inszenierung treten die Kinder auf, die sich bald wieder miteinander verstehen, während bei den Erzeugern noch das Drama aufgebauscht wird. Das Schlagzeug des geschlagenen Kindes wird zum Fluchtpunkt und Dampfventil für die genervten Erwachsenen.
Vier starke Schauspieler sind zu sehen, bei jeder Vorstellung kann man sich als Zuschauer fragen, wer am einprägsamsten die Beherrschung verliert und die schärfsten Gemeinheiten verteilt. Ein Trumpf dieser Produktion besteht darin, daß man nicht vier Einzelkämpfer hat, sondern das Teamwork funktioniert.
Erneut einen erinnerungswürdigen Auftritt hat Timo Tank. Er spielt Alain Raille, den moralfreien und impertinenten Anwalt, der ständig am Telefon hängt (und zwar prägnanter und interessanter als Christoph Waltz in der Verfilmung) und nur durch dessen Zerstörung aus der Fassung zu kriegen ist. Erneut erweist sich Tank als idealer Komödiendarsteller, jede Nuance sitzt, wie auch bei Jannek Petri, der den hamsterphoben Michel Houillé so gutmütig und harmlos spielt, daß man als Zuschauer am liebsten mit ihm auch etwas trinken mag. Sina Kießling interpretiert Annette Reille weder als überforderte Hysterikerin noch als rasende Furie, sondern läßt ihre Figur als ebenbürtige Partnerin ihres Mannes ein rhetorisch scharfe Waffe führen. Véronique Houillé, die Mutter des geschlagenen Kinds, ist eine selbsternannte Gutmensch*in, die den Sohn der Railles sprachlich kriminalisieren will und zum eigentlichen Vorbereiter der Eskalation wird. Ute Baggeröhr spielt sie als unsympathische Jammerlappen*ine, die ständig bei anderen die Schuld sucht, um den Zeigefinger einsetzen zu können
Fazit: BRAVO an alle! Eine Inszenierung, die man gerne auch ein zweites Mal sehen möchte.
PS: Abschweifung: Die unfreiwillige Komik der Haltungsclowns
Auf der Bühne brachte man sein Publikum lange Zeit kaum zum Lachen, doch es gibt seit über einem Jahrzehnt eine unfreiwillige Komik, weil Theaterverantwortliche politisches Possenspiel nicht mehr als solches erkennen und es imitieren. Armbinden bei deutschen Politikern waren bspw. nach 1933-45 jahrzehntelang verpönt, denn im Nationalsozialismus galt es, öffentlich Haltung zu zeigen. Als es die Bundesinnenministerin bei der Fußball-WM 2022 den Arabern und Moslems mal so richtig zeigen wollte, wurde diese Zurückhaltung aufgegeben: Eine diplomatische Ungeschicklichkeit und Unhöflichkeit mit problematisch aggressiver Haltung. Im Wochenmagazin SPIEGEL erklärte eine ägyptische Menschenrechtlerin bzgl. des Verhaltens: "reine Symbolik ... der Protest war nicht echt, es ging um moralische Überlegenheit ... Es gab große Töne und keine Taten." Am Badischen Staatstheater erkannte man weder die Heuchelei und Selbstbezogenheit noch den historischen Makel, für die Verbreitung in den sozialen Medien ließen sich u.a. Intendanz und Operndirektorin im faeseristischen Armbindenmodus ablichten und manche werden auf den ersten Blick vermutet haben, daß es eine Satire auf faschistoides Überlegenheitsgebaren sei. Doch nein, man kann davon ausgehen, daß es ernst gemeint war und die Kanäle des Badischen Staatstheaters weiterhin zu Ego-Zwecken politisch instrumentalisiert werden. Nicht mehr Leistung und Erfolg sollen honoriert werden, sondern Haltung. Das Theater sondert sich damit seit einigen Jahren immer stärker vom Publikum ab, es erzählt teilweise mehr über die Theatermacher als über die, für die gespielt wird. Ob beim Gendern oder Armbindentragen: man behauptet wieder, billig Haltung zeigen zu wollen. Auch Clowns zeigen Haltung, wenn sie sich eine rote Nase aufziehen. Vielmehr steckt auch nicht hinter der Armbinden-Aktion. Im Zuge der Digitalisierung der Lebenswelt haben Forscher festgestellt, daß der Narzissmus zunimmt. Wo einst im Theater die Künstler ausschlaggebend waren, sind es inzwischen die Mitarbeiter aus der zweiten Reihe, die nicht genug Resonanz erfahren und das Theater für das eigene Ego instrumentalisieren.
Daß sich übrigens bspw. weder Schauspieldirektorin Anna Bergmann noch Ballettdirektorin Bridget Breiner als Moraldarstellerinnen mit Armbinden ablichten ließen, kann man beiden hoch anrechnen.
Besetzung und Team:
Annette Reille; Sina Kießling
Alain Raille: Timo Tank
Véronique Houillé: Ute Baggeröhr
Michel Houillé: Jannek Petri
Kinderstatisterie: Paulo Stephan, David Mihm
Regie: Anna Bergmann
Bühne: Volker Hintermeier
Kostüme: Cedric Mpaka
Sounddesign: Heiko Schnurpel
Danke für das P.S.! Sehr treffend!
AntwortenLöschenLieber Honigsammler, mit Ihrem Bindenkommentar sprechen Sie mir aus der Seele. Das unerträgliche Haltungstheater greift auch in Mannheim um sich. Die Spielpläne verarmen, die ideologie trieft aus jeder Ritze. Nun noch ein Rätsel. Um was handelt es sich hier? Lohengrin, Die spanische Stunde, Der Geburtstag der Infantin, Hänsel und Gretel, Rigoletto, Der Troubadour, Die Macht des Schicksals, Die Zauberflöte, Otello, Undine, Die verkaufte Braut, Tristan und Isolde, Cavalleria rustibana, Der Bajazzo, Fidelio, Wiener Blut, Parsifal. Eine Schallplattensammlung? Aufzahlung meiner Lieblingsstücke? Weit gefeht! Es ist der Januarspielplan des Nationaltheaters Mannheim aus dem Jahr 1986. Schließen wir die Augen und denken zurück an längst vergangene Zeiten. So wird es nie mehr sein.
AntwortenLöschenVielen lieben Dank für Ihren Kommentar! Wie heißt es so schön: Lieber ein Diamant mit Fehlern als ein makelloser Kieselstein. In den Theater herrschen heute konformistische Kieselsteine, die die Diamanten nicht ertragen können. Wenn ich lese, was man mir über "Führungspersonal" wie die künstlerische Betriebsdirektorin Uta-Christine Deppermann oder den geschäftsführender Direktor Johannes Graf-Hauber berichtet, glaube ich, daß noch immer eine Realsatire am Badischen Staatstheater gespielt wird. Man befindet sich in einem historischen Tal und es ist zu befürchten, daß Akteure wie Deppermann und Graf-Hauber Teil des Problems bleiben und nie Teil der Lösung werden. Man kann nur jeden Theaterfreund auffordern, den Kulturpolitikern Druck zu machen, sonst entkommt das Badische Staatstheater nicht der lethargischen Hilflosigkeit, in die es manövriert wurde.
Löschen16 verschiedene Opern in einem Monat sind eine außergewöhnliche Belastung für jedes Theater, dazu braucht man große Ensembles. In Karlsruhe scheinen mir in Bestzeiten monatlich ca. 7 oder 8 unterschiedliche Opern auf dem Spielplan gestanden zu haben. Wobei ich heute schon überglücklich wäre, wenn ich zumindest zwei Opernvorstellungen/Monat besuchen könnte. Aber aktuell hat die Karlsruher Oper nur einen Schrott- und Ramschwert. Ich weiß kaum, was ich mir ansehen soll. Bis Herbst 2024 bin ich wahrscheinlich auf Detox-Kur, leid tut es mir für die Künstler, die ihre produktiven Jahre unter diesem "Führungspersonal" verschwenden.
Lieber Honigsammler, der aktuelle Zustand der Bühnen in Karlsruhe und Mannheim ist meines Erachtens den politischen Vorgaben aus der Landeshauptstadt geschuldet, denen das Führungspersonal gar zu gerne folgt. Sei es aus eigener Überzeugung oder aus opportunistischen Gründen. Wenn man kritisiert, gilt man als alter weißer Mann, als Schwurbler oder gar als Anhänger der Partei, in der seinerzeit auch gerne Armbinden getragen wurden. Ich habe vor kurzem nach über dreißigjähriger Zugehörigkeit zum Verein der Freunde und Förderer des Nationaltheaters meine Mitgliedschaft aufgekündigt. Es kam wohl die Frage, woran es liege. Ich teilte daraufhin mit, es nicht die Vereinsarbeit sei, sondern der grüne Schleim der sich mittlerweile über das Nationaltheater gelegt hat und den ich zutiefst verachte. Eine Antwort blieb aus. Andere Meinungen sind offenkundig nicht erwünscht und wollen auch nicht gehört werden. Wer ein wenig Zeit hat, der lese auf der Seite des Nationaltheaters die Zahlen und Fakten zum Ring-Gastspiel in Südkorea. Sogar die Fräcke wurden eingespart. Vielleicht bin ich ja zu pessimistisch aber in kurpfälzischem Dialekt würde ich sagen: Dess werd nix mehr. De Kees iss gesse.
LöschenVielen Dank für Ihren Kommentar, denn ich urlaubsbedingt über die Feiertage erst jetzt freischalten konnte. Die ideologische Verklemmung und Borniertheit ist im Theater vielerorts Alltag geworden. Diese intellektuelle Verwahrlosung ist eine Ursache für das bestenfalls künstlerische Mittelmaß, das produziert wird und auf diesen Seiten finden Sie einige Artikel über die neue Spießigkeit der Theatermacher und ihres Klienteltheater, die ich seit vielen Jahren kritisiere. Ich befürchte, dieser Blog, der eigentlich ein privates Tagebuch sein sollte, wird letztendlich eine Kritik des Konformismus, der Anbiederung und der Denkfaulheit staatlich alimentierter "Hochstapler", die als Darsteller Theaterverantwortliche und Oberlehrer spielen. Die Clowns sind nicht mehr auf der Bühne, sondern dahinter!
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