Freitag, 15. April 2022

Sand - Gabriel, 14.04.2022

Das tragische Ende des konstruierten Geschlechts
George Sands Familientragödie Gabriel variiert ein bekanntes Motiv, das bereits in der Frühzeit zu grausamen Isolations-Experimenten an Menschen geführt hatte. Herodot berichtete von einem ägyptischen Pharao, der zwei Neugeborene isolierte und wortlos aufwachsen ließ, um zu erfahren, welche Sprache sie sprechen würden. Später soll Stauferkönig Friedrich II. ebenfalls versucht haben, die "Ursprache" Adam und Evas mittels dieser Versuchsanordnung zu ermitteln. In Marivauxs Komödie La Dispute (Der Streit, zuletzt in Karlsruhe 2004) werden isoliert aufgewachsene Kinder einem Experiment ausgesetzt: Was ist ursprüngliche Natur, was ist anerzogene Kultur?, - eine Frage, über die heute noch gestritten wird. George Sands Gabriel handelt von einem fast isoliert in Einsamkeit aufgezogenem und getäuschtem jungen Mann, der erfährt, daß er überhaupt keine männlichen Geschlechtsorgane besitzt und tatsächlich eine Frau ist. Das klingt nach komischen oder zumindest tragikomischen Verwicklungen, ist aber als Tragödie angelegt, deren Konflikt nur scheinbar aktuell wirkt. Das biologische Geschlecht triumphiert zwar über das konstruierte Geschlecht, dennoch ist Gabriel kein Stück über Geschlechtsidentitätsstörungen, also der Inkongruenz zwischen dem biologischen Geschlecht einer Person und dem von ihr psychisch gefühlten. Auch Gabriel tragisches Ende hat andere Gründe (- eher sei an eine vergleichbare Konstellation erinnert: der griechische Held Achill wurde als Mädchen großgezogen - so bspw. in Händels Oper Deidamia). Vielmehr ist Gabriel eine zu konstruiert wirkende Geschichte über Familie und Erbschaft, Liebesbeziehung und die Frage der Selbstbestimmung, doch auch hier ist der historische Aspekt nicht überbrückbar: es sind keine zeitgemäßen Verhältnisse, die Geschlechterrollen von damals unterlagen anderen Gegebenheiten. Das Stück erschien 1839 als "Dialogroman", war später auf der Bühne kein Erfolg und schnell vergessen, obwohl es Balzac 1842 an Shakespeare erinnerte (was aber nicht zutrifft). Bei der gestrigen Karlsruher Premiere gelang ein unerwarteter, aber verdienter Überraschungserfolg - ein mäßiges Stück wird durch eine ordentliche Inszenierung und starke Schauspieler zu einer bemerkenswerten Aufführungen mit ungewöhnlich starkem Applaus für alle und Bravo-Rufen für die großartig auftrumpfende Swana Rode in der Titelrolle.

Donnerstag, 14. April 2022

Buchan/Hitchcock/Barlow - Die 39 Stufen, 13.04.2022

Verkrampftes Komödiendebakel
Es ist ja nicht so, daß das Karlsruher Schauspiel schon immer an Komödien gescheitert ist. Es gab erfolgreiche Produktionen, die lange liefen und das Publikum begeisterten, bei denen oft und mehrheitlich gelacht wurde, bei denen manche Pointen-Dichte so hoch war, daß sie die Zwerchfellmuskulatur bis zum Muskelkater forderte, das Publikum vor Begeisterung johlte, rhythmisch klatschte und nicht genug bekommen konnte. Es gab Komödien-Inszenierungen, die man begeistert mehrfach sehen konnte (bspw. Der Menschenfeind, Der Diener zweier Herren, Außer Kontrolle, Sommernachtstraum (2006), Grönholm-Methode, Die Panik). Wenn man diese Erfolgsproduktionen als Maßstab nimmt, dann erlebte man gestern erneut einen dilettantisch mißlungenen Versuch, lustig zu sein. Und wieder einmal fällte das Publikum sein Urteil diskret während der Premieren-Aufführung, indem es nicht oder kaum lachte (und dann auch eher nur durch Angehörige, Freunde und Kollegen). Patrick Barlows Bühnenbearbeitung von Alfred Hitchcocks Verfilmung (1935) des Romans Die 39 Stufen von Autor John Buchan ist seit der Uraufführung 2005 ein internationaler Theatererfolg, der seinen Reiz u.a. daraus bezieht, daß aus dem Spionage-Thriller eine Komödie wird, bei der drei der vier Schauspieler zahllose Rollen spielen und dafür schnelle Wechsel erforderlich sind. Die Komödie wurde mit Preisen ausgezeichnet und auf zahllosen Bühnen gespielt, in Karlsruhe hat man nun  eine frühere Regieassistentin verpflichtet, für die die Aufgabe noch zu fordernd war und die Produktion in den Sand setzt. In qualitativer Hinsicht kann diese Inszenierung früheren Komödienerfolgen nicht das Wasser reichen.