Die Vergangenheitsbewältigung der anderen
Tiger und Löwe handelt vom sozialistischen Terror unter Stalin, der in den Ländern der früheren Sowjetunion noch immer nicht aufgearbeitet wurde. In den Archiven verstecken sich die traurigen Schicksale und werden vergessen. Tiger und Löwe erzählt erfundene Geschichten von Opfern mit wahrem Hintergrund, die sich 1937 in Georgien abspielten. Autor Davit Gabunia ist Dramaturg am Royal District Theatre im georgischen Tiflis, das er zusammen mit Regisseur Data Tavadze seit 2008 leitet. "Tiger und Löwe ist das erste Theaterstück, das an die Säuberungen der
Stalinzeit erinnert, vor allem an die vielen Künstler, die im „Großen Terror“ gefoltert, verschleppt und ermordet wurden", erläutert das Programmheft. Leider reichen gut gemeinte Absichten nicht aus, um daraus ein bemerkenswertes Theaterstück zu machen. Tiger und Löwe ist szenisch über weite Strecken zu statisch, bedeutungsschwanger und düster erstarrt, dramaturgisch schwerfällig und sprachlich gestelzt - ein pausenloses Stück, das man besser im Studio hätte zeigen können, das aber als Abo-Produktion im Kleinen Haus qualitativ fehlplatziert erscheint (und das mal wieder die große Frage aufdrängt, wieso man sich am Karlsruher Schauspiel so schwer tut und uninspiriert bei der Stückeauswahl zeigt).
Historischer Hintergrund
Nach Mao Tse-tung gilt Stalin als größter Massenmörder der Geschichte. Allein der Große Terror von 1936 bis 1938 - die Massenverhaftungen der Stalinschen Säuberungswellen - kostete zahllosen Millionen Menschen der Sowjetunion das Leben. Auch der Kaukasus litt, ca. 150 georgische Künstler und Intellektuelle verschwanden bzw. starben, darunter auch der Autor Paolo Iashvili, der in Tiflis Selbstmord beging, und zwar in einem Zimmer im Haus der Schriftsteller. Zwei stumme Zeitzeugen existieren noch heute - zwei ausgestopfte Tiere in Glasvitrinen - die titelgebenden Tiger und Löwe. „Ein einzelner Tod ist eine Tragödie, eine Million Tote sind eine Statistik“, soll Stalin gesagt haben. Das Leid der vielen, die Geschichte eine Landes bzw. einer Epoche spiegelt sich nur bruchteilig in der Biographie einzelner Personen, doch nur durch das Erzählen ihrer Geschichten kann die Tragödie greifbar werden. Tiger und Löwe erzählt leider keine Geschichte, sondern deutet nur Geschehensausschnitte an - kein Drama, sondern ein enges Kaleidoskop, das in der Karlsruher Inszenierung sich nur zu einem fahlen Bild fügt.
Worum geht es?
Tiger und Löwe handelt von Menschen, die der Willkür der Sowjets ausgeliefert sind,
einer wird hingerichtet, ein anderer begeht Selbstmord, um niemanden
denunzieren zu müssen. Der Soldat, der die Exekution durchgeführt hat, verliebt sich in die Tochter seines Opfers, doch die wird gezwungen, den Funktionär zu heiraten, um ihr Leben und das ihrer Mutter zu retten. Fast alle Figuren sind namenlose Prototypen: ein
Schriftsteller mit Ehefrau und Tochter, ein Funktionär aus dem
Innenministerium der UdSSR (dem NKWD) und ein Soldat. Und die Putzfrau
Anitschka - ihren Namen findet man in den Erinnerungen verschiedener
Schriftsteller tatsächlich wieder, eine Zeitzeugin wie die präparierten
Tiere.
Was ist zu beachten?
Die deutsche »Vergangenheitsbewältigung« und Erinnerungsmoral
gehört zur bundesdeutschen Leitkultur (sofern man Leitkultur überhaupt
als verbindlich akzeptiert und sie nicht kategorisch ablehnt). Bundespräsident Richard von Weizsäcker erklärte (zum Nachlesen hier) in einer viel beachteten und bis heute für die bundesdeutsche Gedenkkultur folgenreichen Rede am 08. Mai 1985: "Erinnern
heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, daß es zu
einem Teil des eigenen Innern wird. Das stellt große Anforderungen an
unsere Wahrhaftigkeit" und erklärte, "daß es Versöhnung ohne Erinnerung gar nicht geben kann"
(also auch Erinnerung als Ablaßhandel bezüglich einer geerbten Schuld - ein Satz, der von sehr vielen anderen Ländern, die ihre Vergangenheit
nur positiv erinnern und sonst für abgetan erklären, überheblich und all denen, die an keine nationale Kontinuität und Identität glauben, sinnlos vorkommen kann). Sogar "das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung" (Weizsäckers Satz könnte auch von Sigmund Freud sein, der Heilung im
Bewußtmachen des Unbewußten suchte. Voraussetzung ist, daß man überhaupt "geheilt" bzw. "erlöst" werden muß und die Therapie nicht mehr Schaden anrichtet als der Defekt selber. Individual- und Kollektivpsychologie erweisen sich dabei als komplizierter und uneindeutiger als gedacht).
Weizsäckers Worte wurden inzwischen von
der Realität stark entwertet, Erinnerung ist zu oft ein erstarrtes
Entlastungsritual, dessen "Totem" sich in Form von Gedenkreden, Gedenkstätten, Denkmälern, Stolpersteinen, Stelen und Tafeln
inflationär ausdrückt und auch das Kleinformatige, Nebensächliche und
Unbedeutende in den Vordergrund rückt.
Diese leere Erstarrung hat ihre Ursache darin, daß die Wahrhaftigkeit verloren gegangen ist. Die Erinnerung wurde gekapert als Mittel der Aufmerksamkeitsökonomie und Selbstdarstellung der Erinnernden, sie ist nicht mehr "ehrlich und rein" im Weizsäckerschen Sinne. Stattdessen
sieht man nun öfters spießiges Moralisieren und leere Gesten als Alibiaktion, man
verwendet sie als politisches Mittel, Geschichte zu instrumentalisieren,
um die Gegenwart zu rechtfertigen. Die Erinnerungskultur als nationale
Identitätskonstruktion ist trügerisch, man identifiziert sich mit den
Opfern und verliert das Verständnis für gesellschaftliche und politische
Zusammenhänge und die Täter. Verantwortlich sind dann simpelerweise nur die anderen, man beschwört neue Feindbilder. Auch kulturell sind Erinnerungsformate diesem Wandel unterworfen, die Kunst kapert die Erinnerung ohne Wahrhaftigkeit aus Originalitätsmangel. Das
Badische Staatstheater zeigt mit der Familienklatsch-Oper Wahnfried eine Form der Erinnerungskultur aus dem Geiste der Diffamierung und auf Hexenjagd nach Toten, um sie als Menschen bloßzustellen. Die Erinnerung hat
sich überholt und verbraucht, ihre schöpferische Kraft hat sich
abgenutzt - sie hat keine empathischen Botschaften mehr und dient der
Hybris des Spießers.
Was ist zu sehen?
Recherche und Inspiration gehen leider keine glückliche Verbindung ein. Das Stück erzählt Szenarien, man versucht nur die Ohnmacht, das Leid und die Not der Opfer zu umkreisen. Doch es ist ein Erinnern und Empfinden mit geliehenen
Identitäten, die namenlosen Figuren haben keine Geschichten, sie erleben
keine Entwicklung, die Kluft zwischen Existenz und kollektiver Geschichte bleibt im Dunkeln. Verstärkt wird die Distanz durch eine epische Brechung, die Figuren kommentieren sich selbst und beschreiben ihre Umstände - den Schauspielern bleibt ansonsten nur die Affektdarstellung. Die schwerfällige Dramaturgie resultiert in einer etwas verbraucht bzw. fast altmodisch wirkenden Regie mit geringer dramatischer Kraft. Nachdem sich zunehmend Gähnattacken im Publikum zeigten, stellt sich gegen Ende dann doch noch so etwas wie Beklommenheit ein - die Hochzeitsepisode ist inspiriert und gekonnt. Man hätte sie als tragisches Herzstück nehmen und die Entwicklung dahin ausarbeiten sollen. Der stets bemerkenswerte und intelligente Bühnen- und Kostümbildner Sebastian Hannak hat einen scheinbar unspektakulären weißen Raum entworfen, dessen Abgrund sich zur Hochzeitszene eröffnet. Die Sprache ist literarisch, als ob die Figuren Romantexte lesen bzw. ihre Eindrücke erst literarisch festgehalten haben und nun aufsagen. Die Figuren sprechen dann
gestelzt, die bedauernswerten Schauspieler wirken unterfordert, vor allem auch, weil man mit Timo Tank, Gunnar Schmidt und Antonia Mohr drei Routiniers aufbietet, und die neuen Ensemble-Mitglieder Sonja Viegener und Alexander Küsters gerne mehr zeigen würden, als die Konstellation nun mal hergibt.
Fazit: Tiger und Löwe ist ein dünner historischer Stoff ohne Dringlichkeit, dafür
aber ohne erhobenen Zeigefinger und plakativen
Betroffenheitsgestus. Der Blick auf Georgien mag für manche historisch interessant sein, tatsächlich hat er aber fast nichts für das Publikum zu bieten. Ein Stück das bestenfalls auf die Studio-Bühne gehört hätte.
PS: So, da ist es scheinbar passiert. Jan Linders, seit fast zwei Jahren zumindest vom Titel "Chefdramaturg" in Karlsruhe, der sich bisher versteckt und nur auf den
entlegenen Nebenschauplätzen seiner Arbeit nachzukommen scheint, traut
sich zum ersten Mal als Dramaturg an die Betreuung einer Abo-Produktion im Kleinen
Haus. Oder doch nicht? Das Programmheft enthält keinen Text von Linders, sondern nur nicht weiter identifizierbare Gemeinschaftstexte. Als zweiter Dramaturg wird er hier wohl auch kaum gebraucht. Für Linders eher eine Alibi-Produktion, die keine Betreuung durch den "Chef" erfordert. Tja, ein Schelm, wer hier Anschein und Offensichtlichkeit in Verbindung bringen wollte. Im Schauspiel hat man in der kommenden Spielzeit zusätzlich zum "Chefdramaturg" eine "Geschäftsführende Dramaturgin". Titel scheinen wichtig in der Theaterwelt, um Tätigkeiten zu rechtfertigen, nicht immer steckt wohl die passende Aufgabe hinter dem Etikett.
Besetzung und Team:
Anitschka: Annagerlinde Dodenhoff
Schriftsteller: Timo Tank
Ehefrau: Antonia Mohr
Tochter: Sonja Viegener
NKWD-Funktionär: Gunnar Schmidt
Soldat: Alexander Küsters
Regie: Data Tavadze
Musik: Nika Pasuri
Bühne & Kostüme: Sebastian Hannak
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.
Das Badische Staatstheater ist so peinlich. "Berührend und intensiv!" beschreibt man sich selber zu dieser langweilige Premiere. Seit nun 7 Jahren ist "berührend" das einzige Adjektiv, das dem Badischen Staatstheater für sich selber einfällt. Kein anderes mir bekanntes Theater ist so verkrampft und muss die eigene Mittelmäßigkeit schön reden. Lag das an der Übersetzung, das der Text so gekünstelt klang? Die Schauspieler taten sich schwer, die Sätze mit Leben zu füllen. Das hätt wirklich ins Studio gehört.
AntwortenLöschenVielen Dank für Ihren Kommentar! Was Originalklang und was der Übersetzung geschuldet war, kann auch ich nicht beurteilen. Der distanzierte Klang paßt vielleicht zur Kernfigur des Schriftstellers, doch die Sprache fremdelte, sie war nicht poetisch oder literarisch, sondern tat nur so. Die Idee der erzwungenen Hochzeit und ihre Umsetzung auf der Bühne war sehr gut, aber der Weg bis dahin wollte meines Erachten nicht wirken.
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