Der große Marsch vom Wolfram Lotz ist eine Fantasie mit Variationen über das experimentelle Theater. Ein surrealer Text mit unmöglichen Regieanweisungen. Die Regisseurin Simone Blattner macht daraus eine unterhaltsame Stunde und schafft es fast durchgehend, die Aufmerksamkeit und das Interesse des Publikums zu halten. Viel Klamauk kommt dabei auf die Bühne, man schmunzelt viel und lacht doch selten, man langweilt sich nicht, zwischendurch gibt es sogar einen Höhepunkt bei einem Talkshow-ähnlichen Interview und doch bleibt hauptsächlich eines in Erinnerung: die sehr engagierten Schauspieler.
Vor allem im zweiten Teil des Abends: Lessings Minna von Barnhelm kommt deren Leistung richtig zur Geltung. Auch fast 250 Jahre nach der Uraufführung erweist sich diese Komödie als publikumstauglich. Der um seine Ehre fürchtende preußische Offizier Tellheim entpuppt sich in dieser Inszenierung nicht als vorrangig edler Charakter, sondern als Typus des gekränkten und beleidigten Menschen, der sich in seinen Schmollwinkel zurückzieht, sich weigert gesünder zu werden als das kranke Ganze und jede Unterstützung kategorisch ablehnt. Jonas Riemer spielt einen verbitterten Tellheim, der mit zerfurchtem und nachdenklichem Gesicht und gehemmten Bewegungen auf der Bühne steht. Joanna Kitzl spielt die Minna als aufgedrehte, leichtfertige Verlobte, die ihre Umwelt stets ironisch und verspielt betrachtet und sich ihres Erfolges zu sicher ist. Lessing lässt seine Minna das Spiel mit Tellheim bis an die Grenze der Verbitterung treiben, bevor es zum Happy-End kommt. Blattner lässt sie in dieser Inszenierung zu weit gehen. Die Regisseurin aktualisiert gelegentlich den Text, streicht die Nebenrollen und konzentriert sich auf die Beziehungen Tellheim-Minna und Werner-Franziska. Nicht jede Regie-Idee überzeugt, gelegentlich entgleitet der Humor ins Zotige. Das Publikum reagierte gemischt: manche lachten Tränen, andere schienen den Humor dieser Inszenierung nicht zu teilen, nur bei der Qualität der Akteure herrschte Einigkeit. Jonas Riemer als Tellheim und Matthias Lamp als Werner überzeugen in jeder Szene, aber die Stars des Abends sind Joanna Kitzl als Minna und Sophia Löffler als Franziska: beide zeigen an diesem Abend mehr Bandbreite als andere Schauspielerinnen vergangener Jahre während einer ganzen Spielzeit! So wird die Minna zu einem lange nicht mehr gesehenen schauspielerischem Höhepunkt und nach wenigen Abenden mit dem neuen Ensemble kann man sich über die exzellenten neuen Mitglieder vorbehaltlos freuen.
Fazit: Lotz‘ großen Marsch muss man nicht gesehen haben, die Minna lohnt sich als gute Inszenierung mit großartigen Schauspielern.
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.