Sonntag, 20. Juli 2014

Mussorgsky - Boris Godunow, 19.07.2014

Boris Godunow -ein zentrales Meisterwerk der russischen Oper- bekam gestern viel Applaus nach einer erfolgreichen und guten Premiere im Badischen Staatstheater. Leider blieb die Inszenierung zu konturenlos, viele Fragen bleiben nicht nur offen, sie werden gar nicht erst gestellt.

Geschichtlicher Hintergrund
Fast 40 Jahre lang hatte Iwan der Schreckliche (†1584) Rußland geknechtet, ihm folgte Iwans schwachsinniger Sohn Fjodor, für den Boris Godunow bis zu seinem Tod die Geschäfte führte, bevor er selber für sieben Jahre als Zar folgte, aber erst nachdem auch Iwans jüngster Sohn Dimitri im Alter von 8 Jahren tot mit einer Wunde am Hals gefunden wurde. Ob es sich um einen Auftragsmord oder einen Zufall der Geschichte handelte, konnte nie geklärt werden. Boris Godunow hatte später den Ruf des Prinzenmörders und mußte sich aber zu Lebzeiten mit einem falschen Dimitri beschäftigen - einem Hochstapler, der Anspruch auf den Thron erhob und die Legitimität Godunows infrage stellte.
Es war eine "Zeit der Wirren" für Rußland: schwach und zerstritten, wirtschaftlich verarmt und verwüstet. Godunow stabilisierte das Land, förderte den Handel und doch blieb es aufgrund der unklaren Machtverhältnisse anfällig und unsicher. Godunow starb aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands im Jahr 1605 in unruhigen Zeiten. Der falsche Dimitri kam danach kurz auf den Thron und wurde ermordet. Erst 1613 stabilisierte sich Rußland mit dem ersten Zaren aus der Dynastie der Romanows.

Versionsfrage
Mussorgsky hinterließ eine Ur-Fassung, eine später überarbeite Original-Fassung (bei der ein Bild fehlte und drei neue hinzugefügt wurden) und noch einen Klavierauszug letzter Hand. Dazu kommen noch verschiedene Umarbeitungen, Mischfassung und Neuorchestrierungen von Rimsky-Korsakow und Schostakowitsch. Über Vor- und Nachteile zu diskutieren, ist müßig. In Karlsruhe entschloss man sich für die erste Fassung, den Ur-Boris von 1869 in Mussorgskys eigener Instrumentierung, denn laut Regisseur  David Hermann: "Die Urfassung kommt den ursprünglichen Absichten des Komponisten am nächsten. Die späteren Fassungen haben auch ihre Meriten, aber sie kamen doch zu erheblichen Teilen durch Anregungen von Außen zustande".

Worum geht es? Oder in diesem Fall besser: Worum geht es nicht?
Der scheidende Chefdramaturg Dr. Bernd Feuchtner hat erneut ein hochinformatives Programmheft zusammengestellt. (Im Internet findet es sich zur Zeit hier als pdf).
Der Regisseur Hermann gibt die Idee vor: "Wie komme ich an die Macht und was macht sie dann mit mir – damit setzt Boris Godunow sich auseinander. Es gibt starke Parallelen zwischen dieser Oper und Macbeth. Beide Hauptfiguren sind innerlich beschädigt durch einen Mord und gehen an dieser Schuldfrage letztlich kaputt." Diese Vorgabe ist gut, bleibt aber leider zu blaß. Der Inszenierung fehlt der rote Faden: Der Ur-Boris erscheint handlungsarm und mit nur schwachen Zusammenhängen, Episodisches überwiegt. Die Urfassung endet nicht mit der sonst bekannten und üblichen Klage des Narren, sondern mit Godunows Tod.

Die Parallelen des damaligen Zars zum heutigen russischen Präsidenten und seiner Selbstinszenierung durch die Medien meidet der Regisseur und auch eine Wertung Godunows nimmt er nicht aktiv vor. Es bleibt für den Zuschauer eine offene Frage, ob der Mörder Godunow nur zum Wohle des Volkes handeln wollte oder ob er der starke Mann zu sein scheint, der sich zum Herrscher ernennen lässt, die Bojaren entmachtet und als Retter und Wohltäter gesehen werden will, bei dem das Beste für das Land wie so oft auch das Beste für die Herrschenden, ihre Macht und ihre Geldbörsen ist. Eine aktuelle Parabel der prä- und postdemokratischen "starken Männer" bringt Hermann nicht auf die Bühne. Godunows Zerrissenheit zwischen Zweifel und Machtanspruch bleibt diffus; im 5. Bild stellt ein langer Tisch mit Holzfiguren keine überzeugende Metapher dar.

Rimsky-Korsakow nannte die Oper nach seiner Umarbeitung ein „musikalisches Volksdrama“. Der Charakter der Erstfassung ist anders. Dazu der Regisseur: "In der Karlsruher Aufführung versuchen wir vor allem, möglichst nahe an die Psyche des Boris heran zu kommen. Der Chor bildet in der Urfassung nur den – wichtigen – Hintergrund des Geschehens. In unserer Aufführung wird er erst am Ende eine aktive Rolle einnehmen".  Bei der Urfassung des Boris geht es also weniger um russische Geschichtsbilder, um farbige Episoden oder anschauliche Milieustudien. Das wahre Drama ist auch nicht das das Leid der Bevölkerung während der Zeit der Wirren - kein Volksdrama, kein Drama der Ohnmacht, der Verführbarkeit, der Parteinahme, der Irrtümer und der Machtkämpfe, die auf dem Rücken des Volks ausgetragen werden. Auch im Schlußbild gewinnt der Chor in der neuen Karlsruher Inszenierung kein zusätzliches Format.

Was ist zu sehen?
Überwiegend schön bebilderte Szenen, atmosphärisch in passender Düsterheit mit Kostümen aus der Jetztzeit. Im 4. Bild, der Schänke an der litauischen Grenze, wechselt die Inszenierung vorübergehend ihre Form und wir seltsam skurril, ohne originell oder pointiert zu sein; wie ein Fremdkörper wirkt sie unpassend und zusammenhanglos.

Was ist zu hören?
Zwei Bässe bekamen gestern den meisten Applaus: Godunow ist eine Parade- und Wunsch-Rolle für Publikumsliebling Konstantin Gorny, der die Bühne mit seiner Ausstrahlung und Stimme beherrscht und mit seinen Monologen immer wieder für Spannung sorgt. Herausragend ergänzt wird Gorny durch Avtandil Kaspeli, der einen ganz starken Auftritt als Pimen hat und sich sichtbar über die vielen Bravos und den Jubel des Karlsruher Publikums freute. Mit Pimen hat Kaspeli in Karlsruhe seine erste Paraderolle gefunden. Bravo!
Und auch die Tenöre überzeugten: Otrepjew wird stimmschön von Andrea Shin gesungen, der zwielichtige Schujski wird von Matthias Wohlbrecht zur profilierten Figur und Hans-Jörg Weinschenk ist zwar offiziell im Ruhestand, aber das merkte man ihm gestern in der Rolle des Narrs nicht an. Überhaupt verdienten sich alle Sänger und Musiker ein Bravo! für eine tadellose Leistung. Ein großes Lob geht erneut an den Badischen Staatsopernchor und Extrachor, der von Ulrich Wagner und Stefan Neubert perfekt vorbereitet erschien, und den Kinderchor des Cantus Juvenum, der wieder einen schönen kleinen Auftritt hat.
Entgegen der ursprünglichen Ankündigung dirigiert nicht Justin Brown, sondern Johannes Willig die Neuinszenierung mit sicherer Hand.

Fazit: Musikalisch hochwertig und überzeugend, inszenatorisch ist man überwiegend unauffällig. Man kann nicht beeindrucken und schon gar nicht begeistern. Der ganzen Inszenierung fehlt etwas: sie gewinnt szenisch zu wenig hinzu und bleibt seltsam unentschlossen in der Aussage. Dieser Ur-Boris setzt sich gegen spätere Fassungen der Oper nicht durch.

PS: Kurzer Blick zurück - Intendant Günter Könemann inszenierte eigenhändig den letzten Karlsruher Boris Godunow in der Spielzeit 1988/89 als Koproduktion mit der Straßburger Opera du Rhin. Damals wurde Rimsky-Korsakows Bearbeitung gespielt und in Deutsch gesungen. Hans-Jörg Weinschenk war schon damals mit dabei (und zwar als Missail; Edward Gauntt als Schtschelkalow). Ansonsten waren u.a. folgende Premieren-Besetzungen zu hören: Gabor Andrasy (Boris Godunow), Frode Olsen (Pimen), Ingrid Lehmann-Bartz (Fjodor), Nemi Rouilly-Bertagni (Xenia), Mario Muraro (Otrepjew).
Bei der Neueinstudierung 1994 gab es Änderungen: im Rahmen einer Zusammenarbeit mit der Oper in Nowosibirsk wurde die von Schostakowitsch instrumentierte Version in russischer Sprache gespielt. Es sangen u.a.: Alexander Morosov (Boris Godunow), Simon Yang (Pimen), Clara O'Brien (Fjodor), Zsuzsanna Bazsinska (Xenia) sowie weitere Sänger aus Nowosibirsk.
Als 1992 Chowanschtschina als Gastspiel des Estonia Theater Tallinn in Karlsruhe gegeben wurde, war ebenfalls die von Schostakowitsch instrumentiere Fassung zu hören.

Besetzung & Team
Boris Godunow / Nikititsch: Konstantin Gorny    
Fjodor: Dilara Baştar
Wassili Iwanowitsch Schuiski: Matthias Wohlbrecht
Grigori Otrepjew: Andrea Shin
Missail: Max Friedrich Schäffer
Warlaam: Lucas Harbour
Pimen: Avtandil Kaspeli
Xenia: Larissa Wäspy
Xenias Amme: Rebecca Raffell
Wirtin: Stefanie Schaefer
Andrei Schtschelkalow: Gabriel Urrutia Benet
Narr: Hans-Jörg Weinschenk
Ein Leibbojar & Bojar Chrustschow: Nando Zickgraf
Mitjuch: Andreas Netzner
Polizist: Yang Xu

Musikalische Leitung: Johannes Willig
Regie: David Hermann
Bühne und Kostüme: Christof Hetzer
Chorleitung: Ulrich Wagner
Einstudierung Kinderchor: Anette Schneider