Montag, 27. Mai 2019

Euripides / Goethe - Iphigenie, 23./26.05.2019

Vertrocknet und versandet
In dunklen Vorzeiten sollten es (Menschen-)Opfer richten, bei jeder neuen Krise mußte wieder getötet werden. Die kanalisierte Gewalt sollte die gesellschaftliche Selbstzerfleischung verhindern, grausame Rituale dienten dem Zusammenhalt. Das Ausmaß ist heute kaum noch bekannt, man strangulierte, ertränkte oder schlachtete Opfer, Fremde, Außenseiter, Schwache, man versenkte die Sündenböcke in Mooren (wo man sie heute noch gelegentlich findet), man zerriß oder verbrannte sie, man machte Schrumpfköpfe aus ihnen oder ließ sich andere Grausamkeiten einfallen. Gewalt befreit und ist einerseits die Zuflucht der Verzweifelten, Gedemütigten, Beleidigten und Unglücklichen, aber andererseits auch das Mittel der Mächtigen, um Unzufriedenheit nach außen zu lenken. Mediale Scheiterhaufen werden heute immer noch überall im politischen Spektrum kollektiv befeuert. Es sind immer vorgeblich die Vielen, die sich von den Wenigen bedroht fühlen und in deren Namen gegen die vermeintlichen Feinde gehetzt wird, die "Guten" gegen die "Bösen", noch immer brauchen Gesellschaften böse Außenseiter auf die man die Zeigefinger richten kann und über die man richten will. Alle Geschichte ist die Geschichte von Ausgrenzungen, souverän ist, wer die Feindbilder festlegt.
Iphigenie ist beides: Opfer und Täter, sie wurde geopfert und sie opfert. Sie ist Spielball höherer Mächte, verraten und gerettet von einer Göttin. Artemis fordert Iphigenies Tod und entführt sie nach Tauris, wo sie für die Göttin selber Menschenopfer darbringt - eine große und spannende Geschichte,  doch am Karlsruher Schauspiel findet man weder Zugang zum Mythos noch zur Tragödie, auf dem Weg vertrocknet und versandet die Inszenierung in einer Wüste der Einfallslosigkeit.
 
Warum geht es?
Euripides: Iphigenie in Aulis
Ohne Iphigenies Opferbereitschaft hätte der trojanische Krieg nicht stattgefunden, denn die antiken Götter sind grausam. Die griechische Kriegsflotte kann Aulis nicht verlassen, die Göttin Artemis will die Windstille erst beenden, wenn ihr ein besonderes Menschenopfer gebracht wird: Anführer Agamemnon soll seine Tochter Iphigenie töten. Unter dem Vorwand, Iphigenie solle mit Achill verlobt werden, sind Tochter und Gattin Klytämnestra eingetroffen. Als sie die wahren Absichten erkennen, flehen sie um Iphigenies Leben, Achill stellt sich vor sie, Agamemnon will sie nicht töten, doch Iphigenie ändert überraschend ihre Meinung und nimmt aus freien Stücken den patriotischen Opfertod auf sich. Jahwe stellte Abraham auf die Probe als er dessen Sohn Isaak als Opfer forderte, Artemis fordert Iphigenies Tod als Vergeltung, nachdem die Griechen einen Hirsch in einem ihr geweihten heiligen Hain getötet hatten. Doch Artemis ist grausamer als Jahwe, sie bestraft Agamemnon und läßt sich das Opfer darbringen. Artemis verkündet Iphigenie, daß sie nicht sterben wird. Statt der geopferten Iphigenie liegt ein totes Reh auf dem Altar.

In Euripides' Iphigenie in Tauris erfährt man, daß Artemis Iphigenie nach Tauris gebracht hat, wo sie in deren Tempel als ihre Priesterin in göttlicher Versklavung und Sippenhaft seit vielen Jahren Griechen tötet. Alle Fremden gelten den Tauren als Invasoren und werden Artemis als Opfer dargebracht. Der taurische König Thoas schickt zwei gefangen genommene Griechen zur Hinrichtung, Iphigenie will einen von beiden mit einen Brief an ihren Bruder Orest zurückschicken. Es stellt sich heraus, daß einer der Gefangenen Orest ist, der nach dem Mord an seiner Mutter Klytämnestra von den Furien verfolgt wird und auf göttliche Anweisung gekommen ist, um das Standbild der Artemis nach Athen zu bringen. Iphigenie belügt und täuscht Thoas, die drei Griechen entkommen, Athene erscheint Thoas und verhindert die Verfolgung. Die Geschichte findet ein glückliches Ende.

Goethe schrieb Iphigenie um, Thoas liebt nun Iphigenie und muß nicht belogen werden, er verzichtet. Nicht die Göttin ermöglicht die Flucht, sondern Thoas' Großmut läßt sie ziehen

Was ist zu sehen (1)?
Euripides' Iphigenie in Aulis kombiniert mit Goethes Iphigenie in Tauris, beide stark gekürzt, um zusammen in ca. 2 Stunden stattfinden zu können. Man ist bemüht um tragische Schwere, unheilvolle Klänge unterlegen die Auseinandersetzungen, zwei antike Statuten rechts und links am Rand, die Ägäis ist ein flach befülltes Wasserbecken vor der Bühne. Die Figuren tragen enganliegende falten-, fett- und muskelbetonende Stretchkostüme in Marmorlook, die oft unvorteilhaft wirken. Glatzköpfe mit Kiemenfalten am Kopf rücken die Handlung dazu ins Phantastische und betonen, daß man hier keinen  aktuellen Stoff sieht, sondern eine Geschichte aus einer fernen Welt. Aulis kombiniert diese Archaik mit Videotechnik, ein semitransparentes Netz dient als Projektionsfläche. In Tauris ändert sich das Design, kein Video mehr, stattdessen wirken wabernder Kunstnebel mit Rheingold-Felsen komplett beliebig und ideenlos. Wie schon 2017 bei der Antigone (mehr hier) wirkt die Inszenierung unentschlossen, ohne tragende Idee und roten Faden, ein Stilmix durch Anhäufung von Versatzstücken und inkonsequenter Ästhetik.

Was ist zu sehen (2)?
Stark gekürzt sieht man Szene an Szene, doch keine Entwicklung. In Aulis kommt sogar Spannung auf. Iphigenies Annahme ihres Opfertods ist ohne starke Metapher oder Entwicklung, ob hier gesellschaftliche Zwänge, eine göttliche Macht oder Zufall walten, bleibt unklar. Als Iphigenie kann Sonja Viegener keine Akzente setzen, denn die Regie weiß mit der Titelfigur nichts anzufangen. In Tauris gibt es zwei Iphigenien, zusätzlich hat man eine deutlich ältere Schauspielerin gewählt, doch Gastdarstellerin Rahel Ohm bleibt ein Fremdkörper, mancher Zuschauer wird vielleicht an das Wort Fehlbesetzung denken. Mit der taurischen Handlung verstärkt sich der Eindruck, daß Regisseurin Lilja Rupprecht keine Idee hatte, was sie inszenieren will. Der Abend wirkt wie eine schlechte Improvisation, um eine Inszenierung vorzutäuschen. Die Figuren sind zu schwach für eine Tragödie und zu schwach für ihr Schicksal, den Geschwistern fehlt die Persönlichkeit. Orest ist ein nervendes Nervenbündel, Pylades hingegen stets cool, Thoas eine Nebenfigur. Bei Antonia Mohr, Timo Tank, Tom Gramenz und Sven Daniel Bühler bedauert man, daß die Regie ihnen keinen Spielraum läßt.

Fazit: Dramaturgisch kraft- und saftlos, inszenatorisch unentschlossen und ohne erkennbare Idee. Ein Inszenierung ohne Triftigkeit, die man auch als selbstreferentiell bezeichnen könnte: man produziert eine Iphigenie, weil man dafür Geld bekommen hat, eine Iphigenie zu machen. Das Beste, was man über diese Inszenierung sagen kann, entspricht dem, was man über diese Schauspielsaison sagen könnte: man kann erkennen, was für große Theaterstücke hier auf die Bühne kommen und wünscht sich, diese Werke in einer guten Inszenierung erleben zu können.

Besetzung und Team
Iphigenie: Sonja Viegener, Rahel Ohm
Klytämnestra: Antonia Mohr
Thoas / Agamemnon: Timo Tank
Orest / Achilles: Tom Gramenz
Pylades / Menelaos: Sven Daniel Bühler
Arkas / Boten: Mädchenchor (Statisterie)

Regie: Lilja Rupprecht
Bühne: Paula Wellmann
Kostüme: Christina Schmitt
Musik: Romain Frequency
Video: Moritz Grewenig