Von Sackgasse zu Sackgasse
Die neue Karlsruher Antigone zeigt, wie man auch ohne tragende Idee und roten Faden eine Inszenierung vortäuschen kann. Die unentschlossene Regie entschied sich für einen Stilmix durch Anhäufung von Versatzstücken, zu sehen ist eine zu Beginn archaisch anmutende Zombie-Inzest-oben ohne-Tränendrüsen-Betroffenheits-Dikataturüberwindungs-Utopie. Das wirkt bedeutungsschwanger, ist aber eher ein hohler Raum, alle Elemente haben irgendwie ihre Berechtigung, passen aber nicht zusammen. Für die Titelfigur haben weder die Regisseurin noch die Hauptdarstellerin eine Inspiration, vor allem André Wagner als Kreon rettet den verkorksten Premierenabend.
Worum geht es?
Vorgeschichte: Ein Fluch liegt über dem thebanischen Herrscherhaus, Ödipus erschlägt unwissentlich seinen Vater und zeugt genauso unwissentlich mit seiner Mutter Iokaste vier Kinder – die Schwestern Antigone und Ismene sowie die beiden Brüder Eteokles und Polyneikes, die nach dem Tod der Eltern bei ihrem Onkel Kreon (Iokastes Bruder) aufwachsen. Die Brüder werden zu Feinden, kämpfen um die Herrschaft in Theben und töten sich gegenseitig. Der Thron fällt an Kreon. Er beschließt, Eteokles -er verteidigte die Stadt- begraben zu lassen, Polyneikes -der Aggressor, der seine Heimatstadt belagerte und angreifen ließ- verweigert er die Bestattung.
Antigone erzählt ihrer Schwester Ismene zu Beginn des Stücks von Kreons Bestattungsbverbot. Sie bestattet Polyneikes dennoch. Kreon bestraft sie erbarmungslos: er läßt sie lebendig einmauern. Der blinde Seher Teiresias warnt Kreon vor der Bestrafung, schließlich hat der König ein Einsehen. Doch zu spät, Antigone hat sich umgebracht, in der Folge tötet sich ihr Verlobter Haimon (Kreons Sohn) und dessen Mutter Eurydike (Kreons Frau).
Was ist zu sehen (1)?
Regisseurin Anna Bergmann will Antigone nicht politisch sehen, sie "legt den Schwerpunkt ihrer Inszenierung auf die Familientragödie", erläutert das Programmheft. Es gibt gravierende Veränderungen, nicht nur tauchen die toten Brüder Eteokles und Polyneikes "als untote Wiedergänger immer wieder auf", zu Beginn leben sie noch und sprechen, sie töten sich nicht gegenseitig, sondern werden beide von Kreon erstochen. Eteokles wandelt blutverschmiert, sein Bruder ist als Kadaver kostümiert, wenn Polyneikes dann auch noch als singender Zombie auftritt, werden humorbegabte Zuschauer eine unfreiwillige Komik wahrnehmen. Es wird gelegentlich gesungen, immer ohne situative Überzeugungskraft und in Englisch, um zu kaschieren, daß man nichts zu sagen hat. Weiterhin gibt es bedrohliche Hintergrundmusik, Filmeinspielungen, Mikrofone, Live-Kameras, Großaufnahmen - man kombiniert aus dem Fundus der Ideen, die irgendwann in substantiellerer Umgebung tatsächlich funktioniert haben, hier aber wie aus dem Zusammenhang gerissen keine überzeugende Bedeutung gewinnen - Kreon muß sich bspw. mit einer Sauerstoffflasche beatmen, Ismene will sich in einer Badewanne sauber waschen. Der Text ist umgestellt bzw. stammt anscheinend aus anderen Quellen, der Chor ist praktisch bedeutungslos, geringe Textstellen hat man einem Kinderchor übergeben, der allerdings inhaltlich der Aussage nicht gewachsen ist. Am Ende dürfen die Kinder lachend über die Bühne rennen und sollen eine Utopie der besseren Zukunft darstellen - eine Szene, die man als abgedroschenes Klischee wahrnehmen kann. Auch das Ende unterscheidet sich vom Original: Eurydike läßt ihren Gatten Kreon erdrosseln und überlebt. Die Regie will "das Degenerierte, Düstere und Belastende" des Familiengeheimnisses herausarbeiten, man findet im Programmheft das abstrakte Wort "Familienpsyche" und das auf Irrationales hindeutende Wort "Albtraum", man landet dann auf einmal in einer Fantasy-Welt mit einer schwarzen, auf Stelzen laufenden Figur, die in den Herrn der Ringe zu passen scheint, dann wieder entfalten sich faschistisch anmutende Fahnen, um doch ein wenig politisch zu wirken - die Inszenierung wirkt wie ein Flickenteppich abgelegter oder nicht zusammenpassender bzw. nicht zu Ende gedachter Einfälle. Das Abgründige wird nur grob angedeutet, wahre Tiefe erreicht man nicht.
Was ist zu sehen (2)?
Theodor Fontane sagte 1879 nach dem Besuch einer Antigone-Aufführung in Berlin den enttäuschten Satz: "Diese Antigone hat mich eben weder für ihr Leben noch für ihr Sterben zu interessieren gewußt". Tatsächlich ist auch die von Ute Baggeröhr gespielte Titelfigur so uninteressant, daß man sich als Zuschauer in ihrer Sterbeszene ein schnelles Ableben wünscht, um wieder zu den anderen Figuren zurückzukehren. Diese Antigone hat nichts zu bieten, Baggeröhr muß die Hälfte des Stücks grundlos barbusig auf der Bühne sein, Sinn und Sinnzusammenhänge dieser Figureninterpretation blieben dem Verfasser dieser Zeilen hermetisch verschlossen.
Daß die neue Antigone doch nicht ganz ins Überflüssige abtaucht, verdankt sie André Wagner, der als Kreon eine überzeugende und starke Entwicklung vom Friedensboten über den jovialen Herrscher zum Diktator und Zweifler erlebt. Sprache, Körperhaltung, Gestik und Mime verändern sich, ihm zuzuschauen wertet die Aufführung deutlich auf. Auch Sven Daniel Bühler als Haimon agiert in dieser Weise überzeugend, wenn auch rollenbedingt in engeren Grenzen. Antonia Mohr spielt gut als Eurydike, für sie wie auch für Florentine Krafft als Ismene hat die Regie keine rundum schlüssige Konzeption.
Perspektivwechsel
Antigone ist seit geraumer Zeit
wieder in Mode, einige Theater haben sie auf den Spielplan gestellt - dafür gibt es Gründe. Es gab lange eine sehr einseitige
Reduktion dieser Tragödie zum Drama eines Individuums, das sich gegen
den Willkürstaat bzw. einen Alleinherrscher stellt, des Kampfes einer
Humanistin gegen einen Tyrannen - eine Verkürzung, die sich aus einer
Fehlinterpretation des Tatbestands speiste: daß Kreon die Bestattung
eines Leichnams verbietet, erscheint oberflächlich betrachtet als
unmenschlich. Dieser Blickwinkel verhindert die Transformation in
heutige Verhältnisse, Demokratien sind gerade keine Willkürstaaten, das
Streitthema, daß der Leichnam des Bruders nicht begraben werden
darf und verwesen soll, beschränkt die Interpretation auf Ungehorsam
gegen nicht demokratisch legitimierte Willkür. Was aber wäre, wenn der
Tatbestand als legitim betrachtet wird? Der Sinn der Tragödie entstellt
sich nicht mehr, denn Tragik entsteht, wo zwei Prinzipien
aufeinandertreffen. Historisch scheint die Nichtbeisetzung der Invasoren
im 5. Jahrhundert vor Christus gang und gäbe gewesen zu sein. Antigones
Tat beurteilt der Chor je nach Übersetzung als "sinnloses Tun" oder "Unvernunft" oder "in törichtem Sinne". Sophokles' Tragödie Antigone ist nicht das Drama Antigone,
sondern ein Stück über menschliche Hybris. Rechthaberisch und stur sind
beide: Antigone und Kreon. Kreon erkennt seinen Fehler, doch zu
spät.
Aus heutiger Sicht kann man das neu
interpretieren. Kreon stellt Staatsraison und Gemeinschaft über Familie
oder sogar mafiösen Clan. Daß er Antigone streng bestraft soll zeigen,
daß es bei ihm keinen Klüngel, keine Vetternwirtschaft, also gerade
keine Bevorzugung seiner Nichte gibt. Im Gegenteil, damit man ihm keine
Parteilichkeit vorwerfen kann, bestraft er sie umso schärfer. Seine
Härte und anfängliche Gnadenlosigkeit soll ein Zeichen der
Unbestechlichkeit im Amt, seine Amtsausübung von transparenten
Grundsätzen geprägt sein. Dabei fehlt ihm das Maß und als sein Berater
Teiresias ihn umgestimmt hat, hat sich Antigone bereits überraschend
schnell zur Märtyrerin gemacht. Wenn Antigone eine religiöse Pflicht
über objektive Gesetzte
stellt, wird sie zur unsympathischen
Figur - Antigone ist dann eine Privilegierte, die eine Sonderbehandlung
fordert, eine Populistin, die an Gefühle appelliert, oder sie ist eine
"Reichsbürgerin", die die Bundesrepublik in Frage stellt, Antigone ist
Fundamentalistin, bspw. eine islamische Apartheidsanhängerin, die aus
Gründen der religiösen Politik oder Ideologie gegen den
säkularen Rechtsstaat kämpft. Kreon setzt am Ende Erbarmen gegen
Strenge, er will es gut sein lassen, die Spirale der Gewalt beenden,
doch Antigone sucht das Fanal, den Sieg im Tod, ewiges Heldentum durch
Märtyrertod.
Aus einem ähnlichen Ansatz hätte man etwas Spannendes
machen können. Hätte - hat man aber nicht, denn man steht sich wieder
selber im Weg. Den Stoff, bei dem sich eine politisch Interpretation
aufdrängt, beläßt man im Vagen, die Karlsruher Inszenierung ist im
weitläufig Phantastischen verortet.
Fazit: Die Regie schwankt und schwenkt von einer Sackgasse zur nächsten und kommt nicht voran. Im Wirrwarr der Orientierungslosigkeit probiert man verschiedene Wege aus und täuscht dem Publikum vor, daß man genau dorthin wollte, wohin man sich verirrt hat. Die Schauspieler, allen voran André Wagner, sorgen dafür, daß es dennoch spannende Momente und Verdichtungen gibt.
Besetzung und Team:
Antigone: Ute Baggeröhr
Kreon: André Wagner
Ismene: Florentine Krafft
Eurydike: Antonia Mohr
Haimon: Sven Daniel Bühler
Eteokles: Sascha Tuxhorn
Polyneikes: Meik van Severen
Wächter / Bote / Kameramann: Luis Quintana
Wächter / Kameramann: Jonathan Bruckmeier
Chor: Jugendliche aus Karlsruhe
Chorleitung: Jannek Petri
Regie: Anna Bergmann
Bühne: Katharina Faltner
Kostüme: Sibylle Wallum
Musik: Heiko Schnurpel
Video: Sebastian Pircher
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.
Wie gerne hätte ich mich Ihren Ausführungen flammend entgegengestellt und das Fehlende woanderst gesucht. Leider blieb auch für mich die Hoffnung auf Bewegendes unerfüllt. Man versteckte sich nach der Premiere auf höchster Seite hinter dem Anspruch, nicht Leicht-Konsumierbares präsentieren zu wollen,und übersieht, was gerade dieser Text an trefflich ziselierten Punkten bärge, Gemeinsamkeiten in der Fragestellung zwischen Sophokles und einem Karlsruher Bürger des 21. Jahrhunderts zu entdecken. Was im Text noch scharf und sprachlich packend illustriert wird, mümpft in dieser Inszenierung größtenteils hinterm Vorhang bei Dämmerlicht, aktualitätsgeil beobachtet von Live-cams. Das geht soweit, dass teilweise tatsächlich nicht mehr direkt fürs (oder auch: mit dem)Publikum gespielt und gesprochen wird, sondern fürs Microport und die Kamera. Im Grunde eine methodenübergreifende Kapitulation vor traditionellem Schauspielen, verkauft als neu, anspruchsvoll und komplex. Mich berührt das nirgendwo, und eine relevante Fragestellung habe ich für mich auch nicht nach Hause genommen.
AntwortenLöschenVielen Dank für Ihren Kommentar! Sie bringen es auf den Punkt, der Text bietet so viel mehr als "das Degenerierte, Düstere und Belastende" in voyeuristischer Live-Cam Beobachtung. Da die Regie auf die Tragödie in aktueller Interpretation verzichtet, flüchtet sie sich hinter Vorhänge und in bedeutungsschwangere Behauptungen. Tatsächlich empfand ich diese Inszenierung als belanglose Alibi-Produktion - irgendwas mußte die Regie halt abliefern.
LöschenIrritierend war der große Applaus am Ende. Ich fürchtete schon, meinen Kompass für gutes Theater verloren zu haben. Dann hörte ich von einer Schülergruppe im Foyer, dass das „viele Gedöns“ zum Verständnis des Dramas nichts beigetragen habe. Und nun Ihre Beurteilung, die das Augenmerk auf die unzähligen Schwachstellen legt. Vielen Dank!
AntwortenLöschenFrau Bergmanns Inszenierung vertraut der Macht des Textes und des Konfliktes nicht. Ihre Erfindungen (Textänderungen, Verniedlichung des Chores, anderer Schluss, Fehldeutung der Eurydike-Figur) entstellen Sophokles und machen die Figur Antigone klein. Ich mutmaße, dass diese Textänderungen den Vorwand lieferten, "Untote" pseudogruselig und aufmerksamkeitsheischend durch die Tragödie flattern zu lassen, begleitet von funktionslosem Videoclipgeflimmer.
Das war die dritte Inszenierung von Frau Bergmann (La Boheme, Der Kirschgarten), die sich als Zeitverschwendung erwies.
Meine Konsequenz: den Besuch der beiden letzten Schauspiele im Premierenabo habe ich gestrichen.
Herzlichen Dank für Ihren Kommentar! Mein spontaner Verdacht war, daß das Stück Pflichtlektüre in der Schule wird und man deshalb Elemente wie Untote, Grusel, Film und Musik sowie nackte Brüste kombinierte, um 13-15jährige anzusprechen. Eine andere schlüssige Erklärung fand ich für diese Inszenierung nicht.
LöschenDas war's fast schon mit der Schauspielsaison. Es folgt noch Schillers Jungfrau von Orleans. Feststellen kann man jetzt schon, daß das erste Jahr des neuen Schauspieldirektors kaum oder nichts Bemerkenswertes zu bieten hatte.
"Antigone" wird - jedenfalls vor 2019 - kein "Schwerpunktthema" im Abitur (BW) sein. In der zehnten Klasse wird allerdings gerne mal ein antikes Drama behandelt. (F.Kaspar)
AntwortenLöschenVielen Dank Herr Kaspar für die Information!
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