Überwältigung durch Phantasie
Ein Ausflug nach München aus gutem Grund. Doch zuerst ein Blick nach London: Als Kevin O’Hare das Royal Ballet übernahm, kündete er voller Ambitionen an, neue Klassiker des Handlungsballetts schaffen zu wollen. Und tatsächlich scheint von London eine neue Ära auszugehen: Choreograph Christopher Wheeldon (die Karlsruher Ballettchefin Birgit Keil engagierte ihn 2009 für Tschaikowskys Schwanensee ans Badische Staatsballett) und Komponist Joby Talbot haben mit Alice (2011) und A Winter's Tale (2014) enthusiastische Reaktionen ausgelöst. Im Münchener Nationaltheater erfolgte nun gestern die Deutschland-Premiere der Londoner Produktion von Alice im Wunderland - und Alice hält, was die englische Begeisterung verspricht: eine Explosion der Kreativität, akustisch und optisch eine Überwältigung durch Phantasie und Aufwand. Begeisternder und opulenter kann es im Ballett kaum zugehen.
Dabei geschieht nichts Neues - weder musikalisch noch choreographisch wird das Rad neu erfunden, wieso auch? Es wird aus dem Vollen geschöpft, man kombiniert so intelligent, daß man von einem Gesamtkunstwerk sprechen möchte. Alice ist genialer Eklektizismus, bei dem das Resultat begeistert: Form und Inhalt passen perfekt, zu 100% stimmt hier alles. Eine Symbiose, die alle Sinne beglückt! Alice ist überwältigend, man weiß gar nicht, wie man das alles wahrnehmen und aufnehmen soll. Wenn man all das beschreiben wollte, was zu sehen ist, müßte man eine seitenlange Zusammenfassung schreiben. Man bekommt so viele Sinneseindrücke, daß man darin baden und eintauchen möchte - mit einmal anschauen, ist es nicht genug, auch beim wiederholten Besuchen wird man neue Details wahrnehmen können, so reich und überbordend wird hier erzählt. Alice wirkt tatsächlich wie der versprochene neue Klassiker des Handlungsballetts, weil es wie kaum ein Ballett zuvor ein hohes Tempo in jeder Hinsicht durchhält: tänzerisch und erzählerisch, optisch (Bühne und Technik) und musikalisch - ein Überwältigungs- und Verzauberungsspektakel. Alice ist vielleicht das erste Show- und Handlungsballett des 21. Jahrhunderts.
Wer Alice auf die Bühne bringen will, muß großen Aufwand betreiben: Technik und Film, Bühne und Kostüme, fast 50 Tänzer und weitere Statisten - daß sich München diese Chance nicht entgehen ließ, liegt nahe. Getanzt wurde auf bestem Niveau. Als Alice muß Maria Shirinkina fast ständig auf der Bühne sein und wird stark gefordert. Die Begeisterung für die Compagnie war groß beim Publikum.
Im Orchestergraben dirigierte Myron Romanul, der von 1990-1994 am Badischen Staatstheater Karlsruhe als Kapellmeister tätig war und gestern mit dem Münchener Orchester so farbig musizierte, daß man die Ballettmusik als CD zum Nachhören wünscht.
Fazit: Grandios und begeisternd! In welchem Ballett war ich schon einmal und war sooooo selig!
Besetzung und Team
Alice: Maria Shirinkina
Carroll / weißes Kaninchen: Javier Amo
Jack / Herzbube: Vladimir Shklyarov
Mutter / Herzkönigin: Séverine Ferrolier
Zauberer / Hutmacher: Jonah Cook
Radscha / Raupe: Henry Grey
Herzogin: Matej Urban
Köchin: Mia Rudic
Lakai 1 / Frosch: Marco Arena
Lakai 2 / Fisch: Konstantin Ivkin
sowie weitere Tänzer des Bayerischen Staatsballetts
Musik: Joby Talbot
Bayerisches Staatsorchester
Musikalische Leitung: Myron Romanul
Choreographie Christopher Wheeldon
Bühne und Kostüme: Bob Crowley
Libretto: Nicholas Wright
Licht: Natasha Katz
Projektionen: Jon Driscoll, Gemma Carrington
Original Sounddesign: Andrew Bruce
Puppenkonzept und -design: Toby Olié
Magic Consultant: Paul Kieve
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.