Donnerstag, 30. Oktober 2014

Delaporte/de la Patellière - Der Vorname, 29.10.2014

Im Gegensatz zur Karlsruher Oper achtete man im  Karlsruher Schauspiel schon früher auf ein variables Programmangebot. Diese Schauspiel-Spielzeit erscheint bisher besonders geglückt: Mißerfolge hatte man bereits letzte Spielzeit schnell eliminiert und durch die vielen Wiederaufnahmen der bisherigen Erfolgsstücke der vorangegangen drei Spielzeiten mit neuen Darstellern hat man ein interessantes und attraktives Programm. Es sind Komödien, die besonders gut laufen, also Verrücktes Blut (zuerst 2011/12) - Vorname (2012/13) - Richtfest (2013/14)  sowie die Schülerstoffe Agnes (2012/13) - Dantons Tod (2012/13) - Kabale und Liebe (2013/14) und Singspiele wie z.B. der Sommernachtstraum (2013/14). Vergleichbares hat die Karlsruher Oper nicht zu bieten: Die Spielzeiten 2011/12/13 haben keine aktuellen Folgen.

Mittwoch, 22. Oktober 2014

Hübner/Nemitz - Richtfest, 21.10.2014

Seit der Premiere (mehr hier) ist Richtfest ein Publikumsrenner für das Karlsruher Schauspiel: eine intelligente Komödie mit abgründigen Figuren, einer sehr guten Regie und lauter sehr guten Schauspielern. Vor allem die Routiniers Gunnar Schmidt als Soziologieprofessor Ludger, André Wagner als Finanzbeamter Holger und Lisa Schlegel als dessen Frau Birgit zeigen, wie man eine Rolle virtuos aufwertet - ihr Auftritt ist besonders stark und einprägsam. Und auch Sophia Löffler spielt weiterhin mit hoher Präzision und Überzeugungskraft als überforderte Schwangere und Mutter.

Sonntag, 19. Oktober 2014

Krása - Verlobung im Traum, 18.10.2014

Ein sehr gelungener Einstieg in die neue Opernsaison und ein Erfolg in jeder Hinsicht: musikalisch und inszenatorisch, sängerisch und darstellerisch - die Verlobung im Traum lohnt das Kennenlernen!

Zu Person und Werk
Der deutsch-tschechische Komponist Hans Krása (*1899 †1944) starb im Konzentrationslager und teilte das traurige Schicksal anderer Komponisten wie bspw. Viktor Ullmann, Erwin Schulhoff, Pavel Haas und Rudolf Karel. Krásas 1933 in Prag (Dirigent: George Szell) uraufgeführte Oper Verlobung im Traum nach Dostojewskis Novelle Onkelchens Traum verschwand viele Jahrzehnte aus dem Blickfeld. 1994 gab es die deutsche Erstaufführung als Gastspiel aus Prag in Mannheim, 1996 folgte eine CD-Gesamtaufnahme beim Label DECCA und eine konzertante Aufführung in Berlin. Aber kein deutsches Opernhaus fühlte sich dadurch inspiriert, das Stück zu inszenieren. Der Riß in der Rezeptionsgeschichte war also nicht nur durch 12 Jahre NS-Dikatatur bedingt. Es interessierte sich einfach niemand in der vielstädtigen deutschen Opernlandschaft dafür. Warum? Die Gründe dafür kann man sich nach der gestrigen Karlsruher Premiere kaum erklären. Dem Badischen Staatstheater gelingt nun damit eine Entdeckung, die hoffentlich von einem breiten Opernpublikum gewürdigt wird.

Worum geht es?
Eine russische Kleinstadt. Die verschlagene Marja Alexandrowna will ihre hübsche Tochter Sina an einen auf einer Durchreise befindlichen alten und senilen Fürsten verheiraten, um an dessen Vermögen zu kommen und ihrer Tochter Auskommen und Stellung zu sichern. Die Mutter manipuliert den Fürsten dazu, Sina einen Heiratsantrag zu machen, Sina willigt ein. Doch sie hat die Rechnung ohne des Fürsten Neffen Paul gemacht, der seinerseits selber Sina begehrt. Paul verhindert die Ehe: er redet seinem debilen Onkel ein, alles nur geträumt zu haben. Marja Alexandrownas intrigante Schwägerin Nastassja unterstützt Paul bei der Demaskierung und plant eine gesellschaftliche Bloßstellung von Mutter und Tochter.
Die Hauptfigur Sina ist im Gewissenskonflikt: sie liebt den todkranken Fedja (der nicht in der Oper auftritt) und benötigt das Geld, um ihm zu helfen. Sina wird am Ende der Oper mit der Verkündung von Fedjas Tod zur tragischen Figur.
Im Prolog und Epilog tritt der Archivar auf. Zu Beginn erzählt er, daß er diese Geschichte dem Schriftsteller Dostojewski erzählt hat und stimmt auf die Charaktere ein ("schön wie Sina ... unglücklich wie Fedja ... tückisch wie Paul ... seltsam wie der Fürst .... Gott bewahre mich vor einer solchen Mutter"). Am Ende verkündet er, daß Sina letztendlich ohne Liebe eine andere gute Partie heiratet und eine unglückliche Zukunft hat: "Keine Freundschaft, keine Liebe. Sie empfindet nichts, ist kalt wie ein Stein".
   
Was ist zu hören? (1)
Beim ersten Zuhören hat man den Eindruck, Einflüsse verschiedener Komponisten und Stile zu finden, man meint bspw. Richard Strauss oder Kurt Weill (im Programmheft werden auch Strawinsky, Janáček und Gershwin genannt) herauszuhören und Anklänge der damaligen Zeit (Tanz- und Filmmusik). Immer wieder gibt es besondere und interessante musikalische Stellen in dieser Oper, die abwechslungs- und einfallsreich durch kontrastierende Elemente ist, voller Schwung und Esprit und vielen Ensembles. Die kurze Oper (zwei Akte, jeder ca. 50 Minuten) ist kurzweilig und spannend, auf den Punkt und nie sentimental. Ein Höhepunkt ist am Ende des ersten Akts: während Sina singt (Bellinis Casta Diva), um den Fürsten zu beeindrucken, beginnen die anderen Figuren zu tuscheln und übertönen sie schließlich. Das Programmheft bezeichnet das als "montageartigen Überzeichnung" einer "als Parodie zu verstehenden Multistilistik" und "Hans Krása lässt diese ganz unterschiedlichen Elemente so prägnant hervortreten, dass deren Eigensinn immer wieder den reinen Ausdrucksgehalt der dramatischen Situation überlagert. Gefühle treten musikalisch nicht nur als Gefühle der Figuren in Erscheinung, sondern auch als artifizielle Phänomene, die auf historische musikalische Chiffren von Gefühlen verweisen. In dieser Montagetechnik, ein in den 20er Jahren bevorzugtes Stilmittel, äußert sich ein Tonkünstler, der gleichzeitig dramatische Situationen beglaubigt und ihren theatralen Reiz in Szene setzt."
In der Summe eine brillante Leistungsschau des Komponisten, bei der vielleicht die eine unvergessliche Melodie, der eine besondere Moment fehlt - man bewegt sich auf einem Hochplateau ohne ausgeprägte Gipfel.  Vor allem der erste Akt überzeugt durch seine Steigerungen und sein Tempo. Im zweiten Akt gibt es geringfügige Längen und eine Stiländerung: die Figur der Sina verwandelt sich in eine Charakterrolle von Richard Strauss'schem Ausmaß: eine unglückliche Arabella, aber szenisch und musikalisch komischer und doch im Endeffekt traurig. Hier liegt vielleicht der Schwachpunkt -wenn man das überhaupt so nennen kann- dieser Oper: Was für ein Genre ist das denn eigentlich? Keine Buffa, keine Komödie im Sinne Tschechows (melancholische Heiterkeit vor ernstem Hintergrund) und Gogols (Gesellschaftssatire), aber auch keine richtige Charakterkomödie (Sina bleibt etwas zu blaß; ihre Liebe zum unsichtbaren Fedja unklar) und auch kein typisches Lustspiel (kein Liebesglück am Ende). Man sieht Operettenfiguren in einer tragikomischen Oper ohne Happy-End. Vielleicht war es dieser seltsame Stil-Mix einer verfremdeten Operette, die die bundesdeutsche Opernwelt bisher daran gehindert, das Werk zu inszenieren.

Was ist zu sehen?
Regisseur Ingo Kerkhof konzentriert sich auf das Operettenhafte. Er integriert Sinas Charakterschübe in einen amüsanten Hintergrund und vermeidet damit falsche musikdramatischen Komplikationen.  In Karlsruhe interpretiert und inszeniert man Verlobung im Traum mit Blick auf die Entstehungszeit der Oper - sie spielt in den Goldenen Zwanzigern, den 1920er Jahren. Man sieht ein Bühnenbild, das wie eine Szene aus Cabaret wirkt, der Archivar als Erzähler der Geschichte wird zum Conférencier im Frack. Man befindet sich in einer gut gelaunten Revue, die der Oper keine zusätzlichen Bedeutungsebenen aufzwingt. Man konzentriert sich durch viele gute Einfälle und reizvolle Details auf Schwung und Handlungsfluß. Humoristisch ist diese Inszenierung mehrgleisig: man setzt auf prägnante Typisierung der Figuren, die besonders dadurch amüsant wird, daß Sänger und Chor hier auch als Schauspieler gefordert sind und diese Anforderungen bei der Premierenbesetzung sehenswert erfüllt wurden. Dazu kommt eine Mischung aus Situationskomik, Slapstick und liebevoll gestalteten kleineren Einfälle. Immer wieder passiert mehr auf der Bühne als beim ersten Zuschauen wahrnehmbar ist.

Was ist zu hören? (2)
Nicht nur sängerisch, auch schauspielerisch zeigen Sänger und Chor eine homogene und starke Leistung. Agnieszka Tomaszewska ist neu im Karlsruher Ensemble, ihr Einstieg in der Hauptrolle der Sina setzt gleich zu Beginn ein sängerisches Ausrufezeichen: klangschön und höhensicher! Ein Auftritt, der einiges für die Zukunft verspricht. Jaco Venter in der Rolle des alten Fürsten und Katharine Tier als arme Schwägerin haben viel Spaß mit ihren Rollen und übertragen dies auf das Publikum. Armin Kolarczyk ist für die kleine Rolle des Archivars eine Luxusbesetzung.
Für viele Rollen hat man Gäste engagiert: besonders Dana Beth Miller in der Rolle der Mutter bekam für ihre großartige Darstellung viel Applaus, Tenor Christian Voigt hatte zwar mit einer Erkältung zu kämpfen, hinterließ aber einen sehr guten Eindruck.
Entscheidend zum musikalischen Erfolg dieser Oper trugen Justin Brown und das sehr variabel und spielfreudig auftrumpfende Orchester bei, die Krásas Multistilistik auf spannende Weise hörbar machen.

Fazit: BRAVO! In jeder Hinsicht einen lohnende Entdeckung für die das Badische Staatstheater viel Anerkennung und vor allem mehr Publikum verdient denn ...

PS: ... wo ist eigentlich das Karlsruher Opernpublikum abgeblieben?
Ein trauriges Bild bei einer Premiere (aber auch sonst immer öfters) - viele leere Plätze. Wie es so weit kommen konnte, lohnt der Analyse. Sind tatsächlich in den letzten drei Jahren so viele Opernfreunde altersbedingt in die Besucher-Rente gegangen und kommen nicht mehr? Oder gehen sie aktuell einfach nur lieber nach Baden-Baden, Stuttgart, Mannheim und Straßburg? Liegt es an Programm und Spielplan? Fehlt das Publikumsvertrauen in die Operndirektion bei der Wahl von Raritäten wie Verlobung im Traum? Hat es die aktuelle Intendanz innerhalb von drei Jahren geschafft, Stammpublikum zu vertreiben und die falsche Herangehensweise gewählt (teilweise wenig variable Spielpläne, Spezialitäten für Liebhaber statt Sattmacher für neue Zuschauer, tendenziell zu ernst und schwer, Fokus auf das Stadtgebiet unter Vernachlässigung des Umlands)? Vielleicht hat man drei Jahre verschenkt, in denen man sich breiter hätte positionieren können? Wieso ist die Oper anscheinend (oder doch nur scheinbar?) im Abseits gelandet? Die Antwort liegt irgendwo in der Grauzone dazwischen. Die Gewichtung ist diskutabel. Der Abgang von Operndirektor Schaback nach drei Jahren liefert einen weiteren Baustein zum Gesamtbild: die Vorbereitung des Intendanzstarts 2011 war suboptimal: im Schauspiel hatte Intendant Spuhler Planungsfehler bereits eingeräumt, in der Oper sollte er ebenfalls die Fehler benennen und ein erstes Besserungssignal senden. Im Schauspiel scheint das Training-on-the-job inzwischen klare Erfolge zu zeigen: man scheint auf einem guten Weg. Nun ist es an der neuen Opernleitung, das Interesse an der Karlsruher Oper wieder zu wecken und Zuschauer zurückzugewinnen. Am Ende der Spielzeit sollten vor allem die Anzahl der Opernbesucher und die Abonnentenzahlen im Fokus der Diskussion stehen.

Team und Besetzung:
Sina: Agnieszka Tomaszewska
Marja Alexandrowna: Dana Beth Miller (a.G.)
Barbara: Sofia Mara (a.G.)
Nastassja: Katharine Tier
Sofia Petrowna: Hatice Zeliha Kökcek (a.G.)
Paul: Christian Voigt (a.G.)
Archivar der Stadt Mordassow: Armin Kolarczyk
Fürst: Jaco Venter

Musikalische Leitung: GMD Justin Brown
Regie: Ingo Kerkhof
Bühne: Dirk Becker
Kostüme: Inge Medert
Choreografie: Darie Cardyn
Chorleitung: Ulrich Wagner

Sonntag, 12. Oktober 2014

NSA-Projekt: Ich bereue nichts (Edward Snowden), 11.10.2014

So macht Theater Freude und wer nach Ich bereue nichts nicht begeistert oder zumindest zufrieden und gut unterhalten Lust auf  auf mehr Schauspielbesuche bekommt, dem ist im Theater nicht zu helfen. Dem Karlsruher Schauspiel gelingt ein großartiger Spagat: informativ und doch unterhaltend, nachdenklich und doch humorvoll - und das bei einem ernsten und wichtigen Thema. Bravo!

Dienstag, 30. September 2014

1. Symhoniekonzert, 29.09.2014

Mit der kurzen Ouvertüre zur Oper Maskerade des dänischen Komponisten Carl Nielsen begann gut gelaunt die neue Konzertsaison und bereits dieser Einstieg war so gelungen, daß man Nielsen am liebsten noch länger zuhören wollte.

Es folgte eine deutsche Erstaufführung. Dreamscapes (eine Wortschöpfung aus Dream und Landscape, also in etwa Traumschaften) nannte der dänische Komponist Jesper Koch (*1967) sein der Cellistin Michaela Fukačová gewidmetes Cellokonzert. Beide waren bei der deutschen Erstaufführung in Karlsruhe dabei. Während bei vielen neuen Kompositionen die Vielschichtigkeit des Klangbilds beeindruckt und Effekte dominieren, ist Jesper Koch vorrangig ein Erzähler. Sein Cellokonzert ist  überwiegend unaufgeregt mit auftretenden Unruhen. Sein Traum schlägt nie in einen Albtraum um und klingt harmonisch aus. Doch leider fehlt der Musik trotz aller erzählerischen Durchhörbarkeit das Traumhafte und die landschaftliche Ausstrahlungskraft. Der Name Dreamscapes verspricht ein wenig mehr, als das Stück zu halten vermag. Komponist und Cellistin bekamen herzlichen Applaus für ein schönes, aber für einige vielleicht nicht restlos überzeugendes Konzert.

Nach der Pause folgte die 1. Symphonie von Gustav Mahler - der Erstling, der aber kein Anfang ist. Nun ist Justin Brown ja schon einige Jahre als GMD in Karlsruhe und mein persönlich stärkstes, schönstes und nachhaltigstes Erlebnis seiner Konzerthistorie war sein Dirigat der rekonstruierten 10. Symphonie von Mahler. Eine über Tage anhaltende Begeisterung, an die ich mich gerne erinnere. Meine Vorfreude war also groß und wurde gestern nicht enttäuscht. Mit über 100 Musikern spielte die Badische Staatskapelle und ihr Dirigent eine wunderbar gelungene und mitreißende 1. Symphonie, bei der alle Instrumentengruppen einen ausgezeichneten Eindruck hinterließen und Justin Brown stets die richtige Wahl traf und Mahlers Symphonie mit perfektem Ausdruck präsentierte. Der Jubel des Publikums für Orchester und Dirigent war hochverdient. An alle ein dankbares und begeistertes BRAVO für diese beeindruckende Aufführung!

Montag, 29. September 2014

Max E. Cencic - Rokoko, 28.09.2014

Max Emanuel Cencic ist nicht nur Sänger, sondern auch ein geschickter Geschäftsmann und Goldschürfer in den Musikarchiven des 18. Jahrhunderts. Als künstlerischer Leiter des österreichischen Musiklabels Parnassus ist er jährlich an ca. 7-10 CD-Veröffentlichungen mit Barock- und Rokoko-Musik (Opern und Recitals) beteiligt. Mehrere Musikwissenschaftler sind beauftragt, Archive zu sichten und Partituren zu rekonstruieren. Wie in der Pop-Industrie schon lange üblich, wird die CD durch Live-Auftritte vermarktet. Ganze Opern schickt Parnassus auf Tournee. Die bisher bekannteste Produktion (CD + DVD!) ist Artaserse von Leonardo Vinci, bei der fünf Countertenöre die Hauptrollen übernahmen, auch die weiblichen Figuren. Da kaum eine Oper einen Countertenor im Ensemble hat, geschweige denn derer fünf, kann man das Besondere bieten. Ob eine solche Opern- Produktion in den kommenden Jahren auch in Karlsruhe gastieren wird?
 
Letztes Jahr sang Franco Fagioli (auch bei Parnassus unter Vertrag) in Karlsruhe, gestern besuchte also Max E. Cencic das Badische Staatstheater und mußte leider erleben, daß er hier durch fehlende Auftritte bei den Händel Festspielen noch nicht die Reputation besitzt, die Fagioli sich ersungen hat. Nur knapp ein Viertel der Plätze war besetzt. Schade! Ob dies nun wirklich ein Bekanntheitsdefizit oder mangelnde Aufmerksamkeitsgenerierung oder ungünstige Platzierung zwischen den Symphoniekonzerten war, sollten sich die Verantwortlichen fragen. Auch wenn Cencic schon wiederholt im Fernsehen zu sehen und hören war - ein Selbstläufer ist diese Musik und die Stimmbesetzung Countertenor nicht.

Rokoko - das ist eine CD mit Arien aus Opern von Johann Adolph Hasse (etwas mehr zu Hasse auch hier), die bei DECCA erschienen ist (also nicht im eigenen Label). Cencic sagte zur musikalischen Herausforderung: "Man muß viel Virtuosität mitbringen, denn es ist nicht leichte Musik. Außer guten Koloraturen braucht man viel Linie und auch Expressivität." Dem wurde Cencic gestern voll und ganz gerecht. Cencic hat nicht den Stimmumfang und die Höhe Fagiolis oder dessen atemberaubende Koloraturvirtuosität. Er beeindruckt durch die Natürlichkeit seiner Stimmfarbe, die im Gegensatz zu vielen anderen Countertenören nichts Künstliches oder Gekünsteltes hat, also bspw. keine gequetschten oder piepsigen Töne, sondern ein stets schönes authentisches Timbre. Seine Arienauswahl deckte ein breites Spektrum an Affekten ab und zeigte seine ganze Vielfalt und Ausdrucksstärke durch langgezogene lyrische, dunkel gefärbte dramatische und erregt leidenschaftliche Arien.

Das kleine 21-köpfige Orchester Armonia Atenea unter der Leitung von George Petrou erzielte einen elastischen und fließenden Klang, konnte in den orchestralen Zwischenstücken starke eigene Akzente setzen und hinterließ einen sehr guten Eindruck.

Der barocke Funke sprang gestern aufs Publikum über! Herzlicher und langer Applaus begleitete Cencic und das Orchester.

Programm:

Artemisia: Sinfonia

Notte amica, oblio de mali
Arie des Misaele aus Il cantico de tre fanciulli

Solca il mar e nel periglio
Arie des Tigrane aus Tigrane

Siroe re di Persia: Sinfonia

Saper ti basti o cara
Arie des Orazio aus Il trionfo di Clelia

Siam navi all'onde algenti
Arie des Aminta aus L'Olimpiade

- PAUSE -

Mandolin Concerto in G-Dur, op.3 no.11

La sorte mia tiranna
Arie des Siroe aus Siroe re di Persia

De folgori di Giove
Aria des Orazio aus Il trionfo di Clelia

Concerto in F, Op.4, n.1

Dei di Roma, ah, perdonate
Arie des Orazio aus Il trionfo di Clelia

Vo disperato a morte
Arie des Sesto aus Tito Vespasiano

+ 2 Zugaben
Hasse - eine Arie aus Irene
Georg Christoph Wagenseil - eine Arie aus Euridice

Sonntag, 28. September 2014

Operngalas 2014/15

Folgende Sänger hat man für die Operngalas der Spielzeit 2014/15 verpflichtet:

BORIS GODUNOW, 29.11.2014
Boris Godunow - ALEXEI TANOVITSKI
Grigori  - VIKTOR ANTIPENKO

LA BOHÈME,  14.03.2015
Mimi - MARITA SOLBERG
Rudolfo - ARTURO CHACON-CRUZ

PARSIFAL, 14.05.2015
Kundry - MICHAELA SCHUSTER
Gurnemanz - KURT RYDL
Als Parsifal ist für die Spielzeit-Vorstellungen Erik Nelson Werner engagiert

COSÌ FAN TUTTE, 27.06.2015
Fiordiligi - JULIANE BANSE
Guglielmo - JACQUES IMBRAILO

Dienstag, 23. September 2014

Filmvorführung: Birgit Keil - Ein Leben für den Tanz

Am 19.10. (11 Uhr) und 16.11. (19 Uhr) wird das Badische Staatstheater im Kleinen Haus den Dokumentarfilm Birgit Keil - Ein Leben für den Tanz zeigen. Der vom SWR bereits ausgestrahlte Film ist dann in einer um 15 Minuten erweiterten Version (60 Minuten) zu sehen.

Die Karten für die Vorführungen bei freiem Eintritt sind bereits an der Kasse und im Internet erhältlich.

Mehr dazu hier: http://www.staatstheater.karlsruhe.de/programm/info/2007/

Montag, 22. September 2014

Stuttgarter Solist in Karlsruher "Der Widerspenstigen Zähmung"

Die Stuttgarter Nachrichten berichteten, daß der langjährige Erste Solist und Star des Stuttgarter Ballett-Ensembles Filip Barankiewcz im Herbst als Gast in der Hauptrolle von John Crankos Ballett Der Widerspenstigen Zähmung in Karlsruhe auftreten wird.

Für alle Interessenten: hier der Link zur Info
http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.filip-barankiewicz-vom-glueck-andere-tanzen-zu-sehen.f6c19cf9-1fcb-4908-87f6-3d6fd23a36e2.html

und hier etwas mehr zur Person http://www.stuttgarter-ballett.de/compagnie/filip-barankiewicz/

@Klaus: Herzlichen Dank für den Hinweis!

Hesse - Das Glasperlenspiel, 21.09.2014

Viel Lärm um .... fast nichts! 
Vor zwei Jahren beklagte sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung über den "fiebrigen Schimmelbefall der deutschsprachigen Theater mit grassierendem Morbus Bearbeiteritis" und darüber, daß "die Theater vor keiner hirnrissigen Roman- oder Filmadaption zurückschrecken". Aus welchem Grund hat man nun am Badischen Staatstheater Hesses umfangreichen (aber doch nicht handlungsreichen) letzten Roman für die Bühne bearbeitet? Eine zufriedenstellende Antwort gab die Premiere nicht, triftige Gründe für die Bühnenfassung kann man in Karlsruhe nicht belegen. Die Bühnenfassung ist episodisch und zieht sich ohne spannende Dramatik oder interessante Konflikte zäh dahin. Eine außergewöhnliche Bühne ist zu wenig, um den Abend erträglicher zu gestalten.

Vorbemerkung: Zur Verdeutlichung befinden sich in einfacher Anführung und kursiver Schrift 'Roman-Textstellen' aus dem Buch.

Zukunftsutopie - Was ist das Glasperlenspiel?
Hesses Roman spielt in ferner Zukunft. Das Glasperlenspiel ist eine zukünftige Entwicklung, also eine überwiegend abstrakte Idee, sowohl im Roman als auch in der Karlsruher Bühnenadaption. Was ist seine Bedeutung? Nach der 'Demoralisierung des Geistes' und des 'Wahrheitssinnes' in der kriegerischen Phase des 20. Jahrhunderts entwickelt eine 'heroisch-asketische Gegenbewegung' über Jahrhunderte mit dem Spiel eine auf Musik und Mathematik basierende, universale 'Weltsprache des Geistigen', eine Vernetzung der Wissenschaften durch etwas, das einer musischen Programmiersprache ähnelt. Das Spiel ist der 'Inbegriff des Geistigen und Musischen' und ein 'sublimer Kult'. Dieser Kult 'enthielt sich jeder eigenen Theologie' und war doch 'nahezu gleichbedeutend mit Gottesdienst' für den echten Spieler. Das 'magische Spiel' verlangt 'seelische Zucht' und 'Hingabe', die 'Loslösung des Geistigen aus dem Weltbetrieb' und ist eine 'symbolhafte Form des Suchens nach dem Vollkommenen'. 'Weltsinn erkennen' ist durch das Glasperlenspiel zum 'Ersatz für Kunst und Philosophie' geworden. Der 'Verzicht auf Hervorbringung von Kunstwerken' ist eine Folge davon.

Worum geht es (1) - Utopie als Zeitkritik
Hesses Roman entstand vor und während dem 2. Weltkrieg und wie jede gute Zukunftsvision liegt ihre Bedeutung in der Reflexion der Gegenwart. 'Ungeistigkeit und Brutalität' sind die Folgen der 'öden Mechanisierung des Lebens, das tiefe Sinken der Moral', 'Glaubenlosigkeit' und 'Unechtheit', bzw. 'keine echte Bildung und keine echte Kunst', sondern eine 'wilde und dilettantische Überproduktion in allen Künsten'. Entwickelt hat sich dieser Zustand im von Hesse sogenannten 'feuilletonistischen Zeitalter', in der 'der Geist eine unerhörte und ihm selbst nicht mehr erträgliche Freiheit genoß' und sich ein verantwortungsloser, egoistischer und narzisstischer Individualismus breit macht und 'das Wesentliche einer Persönlichkeit das Abweichende, das Normwidrige und Einmalige, ja oft geradezu das Pathologische' geworden sei.

Zur Aktualität des Romans (1)
Nirgends ist der Roman aktueller als in den kritischen Aussagen zur Kultur des 20. Jahrhunderts und dort über die 'Demoralisierung des Geistes' und die 'Inflation der Begriffe'. Der heute deregulierte Markt für die digitale Verbreitung von Informationen ist durch substanzielle Reduktion der Qualität bei steigender Quantität der Meinungsverbreitung geprägt. Aufgrund von Vermarktungs- und Profilierungszwängen verbergen sich fehlende Haltung oder mangelnde Originalität und Kreativität hinter leeren Gesten, wichtigtuerischem Aktionismus, politischem Relevanzgetue und moralischer Besserwisserei. Überall wimmelt es von Skandalen, Empörungen und wichtig erscheinenden News, die dann doch bald wieder vergessen sind. Hesse analysiert: 'Über jedes Tagesereignis ergoß sich eine Flut von eifrigem Geschreibe, und die Beibringung, Sichtung und Formulierung all dieser Mitteilungen trug durchaus den Stempel der rasch und verantwortungslos hergestellten Massenware'. Die Generation Facebook mit der Selbstdarstellung des Banalen ist eine Folgeerscheinung.
Geradezu prophetisch kann man auch gewisse Äußerungen Hesses lesen, die an heutige Zustände in Polit-Talk-Shows erinnern, in denen 'beliebte Schauspieler, Tänzer, Turner, Flieger oder auch Dichter sich ...über die mutmaßlichen Ursachen von Finanzkrisen und so weiter' äußerten. 'Es kam dabei einzig darauf an, einen bekannten Namen mit einem gerade aktuellen Thema zusammenzubringen'. Die Folge all dessen ist ein dumpfer Zynismus: 'Es herrschte bei den Guten ein still-düsterer, bei den Schlechten ein hämischer Pessimismus'. Problematisch ist diese Aktualität dadurch, daß sie im Roman nur beschrieben wird und keine Handlungselemente vorhanden sind. Und auch die Karlsruher Inszenierung kann sie nicht gewinnbringend integrieren.

Worum geht es (2) - Eine seltsame Utopie in altmodischem Gewand
Bereits 1948 erkannte der spätere Suhrkamp Verlagsleiter Siegfried Unseld, daß man Hesses Roman "als skurril-abstrakte Spielerei eines Alternden abtun" könnte. Es ist ein seltsames Konstrukt, das Hesse in seiner Utopie entwirft. Eine elitäre Sonderwelt der Hochbegabten, durch eine geistige und räumliche Umsiedlung getrennt vom "normalen Leben" in der Provinz Kastalien ein Ort des politik- und geschichtslosen Daseins in einer 'Sphäre der Zeit- und Kampflosigkeit' finanziert und versorgt von den "normalen Menschen", die der Elite ihr exklusives Geistesleben ermöglichen und im Gegenzug pädagogische Leistungen erhalten. Hesses Figuren sind etwas Besonderes, eine Geistes- und Empfindungselite, die in 'streng eingehaltenem Abstand von den Normalen' lebt. Auffallend oft kommt in Hesses Roman das Wort Elite vor, das kastalische Prinzip beruht auf 'der Auswahl der Besten'. Die Hauptfigur Josef Knecht spürt als Knabe ein 'Entfremdungsgefühl' und die Unerträglichkeiten der gewöhnlichen Welt. Doch 'sein Leiden hatte Sinn gehabt', er wurde, wie andere 'Hochbegabte und Berufene', für die kastalische Ordensschule und sogar in der Folge für die 'engste Elite innerhalb der Elite' erwählt und sah seine 'Berufung als Mahnung und Förderung'.
Der kastalische Orden ist geprägt durch 'Selbstzucht und Würde des Geistes' und den 'Dienst am Überpersönlichen', eine streng hierarchische 'mönchische Gemeinschaft', 'besitz- und ehelos', aber nicht sakral und ohne verbindlichen Jenseitsglauben. Frauen kommen in der kastalischen Welt nicht vor und spielen in dem Roman keine Rolle. Einige Auserwählte dürfen in dieser Utopie geistiges Slow Food genießen, 'während draußen im Schmutz der Welt arme gehetzte Menschen das wirkliche Leben leben und die wirkliche Arbeit tun'. Hesse baut diese Utopie allerdings auf, um ihre Fragwürdigkeit zu zeigen. Die Moral von der Geschichte könnte man folgendermaßen zusammenfassen: Gelehrte im Elfenbeinturm dürfen den Kontakt zum Leben und zu den Menschen nicht verlieren. Ein selbstgemachtes Problem als Gedankenexperiment, fast ohne äußere Handlung und von inneren Entwicklungen bestimmt.    

Worum geht es (3) - Dem Wahren, dem Schönen, dem Heiteren
Hesse zeigt sich als Wertkonservativer: Die 'oberste und heiligste Aufgabe' Kastaliens besteht darin, 'dem Lande und der Welt ihr geistiges Fundament zu erhalten, das sich auch als ein moralisches Element von höchster Wirksamkeit bewährt hat', 'Ehrfurcht vor der Wahrheit', 'Treue gegen den Geist'. 'Heiterkeit' ist in Kastalien 'das höchste edelste aller Ziele'. 'Diese Heiterkeit ist ... höchste Erkenntnis und Liebe, ist bejahen aller Wirklichkeit ... eine Tugend der Heiligen'. Heiter ist 'das Lächeln der Weltüberwinder und Buddhas'. Wie wird dieser Zustand erreicht? Der 'Kult der Wahrheit', der 'Kult des Schönen', verknüpft mit 'meditativer Seelenpflege kann also die Heiterkeit nie ganz verlieren'. Wie stellt man diese Fundamente dar? Gar nicht! Den spirituellen Aspekt des Buches übersetzt man in Karlsruhe gar nicht erst auf die Bühne. Es ist diskutabel, was von Hesse bleibt, wenn man diese Aspekte ausblendet.

Künstliche Konstruktion
Der Roman wirkt in der Summe abstrakt, wirklichkeitsfern und künstlich und ist aufgrund vom Form und Stil heutzutage wenig inspirierend. Hesse konstruiert eine symbolisch getrennte Welt ohne Grautöne, ein zu rigides Schubladensystem zwischen 'Elitehochmut' und 'naiven Leben'. Die psychologisch zurückhaltende und sogar einfache Charakterisierung bietet wenig Konfliktstoff, der gediegene Legendenstil (Unseld sprach bereits 1948 von einem "ehrfürchtig-meditativem Ton") verhindert kritische Reflexion des Erzählers. Es sind Figuren ohne Tiefe, die in eine Bedeutungsperspektive gerückt werden. In Karlsruhe sah man darin eine Chance, "die Leerstellen in eigener kreativer Mitarbeit zu füllen". Das Badische Staatstheater begründete das wie folgt: "Hesse war auch kein völlig unfehlbarer Typ, er kochte auch nur mit Wasser". Ah ja, argumentativ ist das vielleicht für den aufmerksameren Besucher nicht ganz überzeugend. Man macht in Karlsruhe aus einigen naheliegenden Themen ein wenig Theater: zu Beginn ein wenig Freundschafts- und Pubertätsdrama, ein wenig latente Homoerotik (Männerbünde und Knabenliebe scheinen immer noch bei manchen Theaterleuten ein gewisses Interesse auszulösen), ein wenig Lebensdrama und unterdrückte Leidenschaften. Über Ansätze in der Charakterisierung kommt man dabei nicht hinaus. Die Darstellung der Handlung ist episodisch und die Figuren bleiben an der Oberfläche oder werden nur angedeutet vertieft.
  
Worum geht es (4) - Handlungselemente
Der Lebenslauf von Josef Knecht, einem Meister des Glasperlenspiels, wird im Buch rückblickend aus noch weiterer Zukunft als eine Art Heiligenlegende erzählt. Auf der Karlsruher Bühne beginnt die Aufarbeitung von Knechts Werdegang hingegen bald nach dem Handlungsende des Buchs. Der Roman schildert den Werdegang Knechts vom begabten Schüler zum Magister des Ordens der Glasperlenspieler, seine Zweifel an der freiwilligen Isolation, seine Rückkehr in die normale Welt als Hauslehrer eines Jungen und sein baldiger Tod. Es ist eine Sage ohne echte Botschaft, die höchstens darlegt, daß die Abwehr-, Verweigerungs- und Rückzugshaltung gegen die Zumutungen der Welt, deren 'Ungeistigkeit und Brutalität' keine Lösung ist. Denn wer nicht in seiner Zeit lebt, wird von ihr übergangen. Die Gefahr des Bedeutungsverlusts des kastalischen Ordens erkennt Josef Knecht und kann doch sein Werk nicht weiterführen. Hesse lässt Knecht nach dem Ordensaustritt schnell sterben. Eine Weiterführung der Geschichte hätte sein Scheitern beschreiben müssen oder wäre zum Märchen geworden. Die Vereinbarkeit von wahrem und wirklichen Leben oder der richtige Weg zwischen Teilhabe und Absonderung ist bei Hesse allerdings kein Thema. Hier setzt die wenig geglückte dramaturgische Erfindung des Badischen Staatstheaters an: wie in Thomas Manns Tod in Venedig bricht Knechts bisheriges Leben zusammen, als er sich beim ersten Blick in einen Knaben verliebt. Zu den Klängen von Mahlers Adagietto aus der 5. Symphonie verfällt Knecht (wie in Viscontis Verfilmung der Mann-Novelle, nur nicht so geschmackvoll, sondern fast schon an der Grenze zum Kitsch) unwiderruflich dem Reiz des Jungen (der in Karlsruhe von einer Schauspielerin gespielt wird). Hesses Glasperlenspiel wird also auf der Bühne zu einer Geschichte über unterdrückte Sexualität umgedeutet.

Zur Aktualität des Romans (2)
Hesses Bücher erzählen Geschichten über Suchende: seine Figuren suchen Sinn oder Zuflucht aus einer spirituellen Obdachlosigkeit. Seine Vision im Glasperlenspiel, so "skurril" sie auch erscheinen mag, gibt neue Bedeutungen für ehemals religiös oder philosophische geprägte Ziele wie Erleuchtung und Erlösung und handelt nicht -wie nun in Karlsruhe- von unterdrückten sexuellen Wünschen. Hesses Antworten sind allerdings gegen den Zeitgeist: die kastalische Heiterkeit und Gelassenheit, die sich beim Sterben des Musikmeisters zu einer erleuchteten Entweltlichung steigert, werden durch eine reduktionistische Lebensweise (Besitz- und Ehelosigkeit) erreicht, einer Rückzugsstrategie der politik- und geschichtsfreien Weltabgewandtheit ohne Tagesaktualität. Befreiung findet das Individuum bei Hesse in 'überindividueller Tätigkeit', Gehorsam und Pflicht im kastalischen Orden. Erlösung bietet Kastalien und das Glasperlenspiel nur den Hochbegabten.
Hesses Roman ist auch eine Geschichte vom Schlußmachen und Neuanfangen. Knecht verlässt die Komfortzone, um sich einer Herausforderung zu stellen. Hesses Verdienst im Glasperlenspiel besteht im Teilnehmenwollen, am Anteilhabenwollen am Gelungenen, also Teil der Lösung zu sein und nicht Teil des Problems. Doch selbst Knecht verlässt den Orden nicht nur aus Anteilnahme am Leben der 'Weltmenschen' oder aus Sorge um dem Fortbestand des Spiels. Ein wenig Psychologie lässt Hesse zu. Auch in Kastalien gibt es Mangel, und sei es wie bei Knecht nur ganz einfach die Langeweile des Hochbegabten. Knecht ist 'seit einer Weile an der Grenze', wo seine 'Arbeit als Glasperlenspielmeister zur ewigen Wiederholung, zur leeren Übung und Formel' geworden ist, 'ohne Freude, ohne Begeisterung ... manchmal sogar ohne Glauben. Es war Zeit damit aufzuhören'. Knechts Schlußmachen ist nicht ausschließlich uneigennützig und selbstlos. In Karlsruhe findet man für diese Aspekte keinen Platz - sie passen nicht ins übergestülpte Konzept der unterdrückten Homosexualität.

Worum geht es (5) - Handlungselemente
Verschiedenen Personen begegnet Josef Knecht auf seinem Lebensweg. Der Musikmeister erkennt seine Begabung und fördert ihn (sein späteres Sterben hat im Buch etwas Buddhistisches, einen 'heiteren Glanz des Entwerdens'. Im Stück fehlt wie bereits oben beschrieben der Mut zu einer spirituellen Deutung, hier ist die Figur eher dement - Senilität statt Erleuchtung).
Knechts treuester Freund im Orden ist der Außenseiter und Individualist Fritz Tegularius, ein 'labiler und gefährdeter Charakter' und Feind aller Normierung.
Wichtigen Einfluß hat der Benediktinerpater Jakobus (Thomas Meinhardt), mit dessen Hilfe es Knecht gelingt, wohlwollende Neutralität zwischen Kastalien und der katholischen Kirche zu etablieren und in der Hierarchie Kastaliens aufzusteigen. In der Karlsruher Inszenierung bekommt die katholische Kirche ihr Fett weg: der Benediktiner der Zukunft trägt keine Ordenstracht mehr, sondern ist ein eitler Geck, der sich beim erstmöglichen Anlaß entkleidet und vom jungen Josef Knecht sexuelle Gefälligkeiten für seine Unterstützung erhält.
In der Schule trifft Knecht auf seinen Freund-Gegner Plinio-Designori, 'der Nicht-Erwählte', der nur als Hospitant in der Ordensschule ist, das normale Leben gegen Kastalien verteidigt und nicht überlieferte Diskussionsrunden mit Josef führt. Hier setzt die freie Erfindung des Badischen Staatstheaters ein und gestaltet einen Freundschaftskonflikt von überschaubarem Ausmaß.
Designori wird Jahrzehnte später (im zweiten Teil nach der Pause) das Verbindungselement zur gewöhnlichen Welt. Designori erkannte, daß er 'kein Kastalier, kein Mensch von Rang' sei und blickt zu den Ordensleuten empor 'mit einer Verehrung, einem Minderwertigkeitsgefühl'. Als Vermittler zwischen beiden Welten war er gescheitert, sein Gesicht war 'durch den Ausdruck des Leidens' und 'Welttraurigkeit' gezeichnet. Seine resignierende Melancholie fordert Knechts 'seelenärztliche Tätigkeit', die ihn wieder 'Lächeln und Lachen' lehrte.
Knecht will nach seiner Demission Plinios Sohn Tito (die Pointe: der Junge, in den er sich auf der Bühne verliebte) als Hauslehrer betreuen und ertrinkt beim ersten Ausflug mit ihm. Tito dominiert auch die Karlsruher Inszenierung. Er erforscht Knechts Leben ....

Was ist zu sehen (1)?
Ursprünglich sollte die Premiere bereits vor wenigen Monaten stattfinden. Doch man bemerkte, daß Hesse wußte, was er tat, als er einen Roman und kein Theaterstück schrieb und daß die Theaterfassung des Romans in einer klassischen Bühnensituation nicht funktionierte. Um mögliche Langeweile zu kaschieren, investierte man in Visuelles. Statt eines Bühnenbilds gibt es nun eine sehr aufwändige Rauminstallation. Ein raumfüllender Einbau für ca. 250 Zuschauer im Kleinen Haus wurde konstruiert, um die Ordensgemeinschaft Kastaliens erlebbar zu machen: ein Rückzugsort ("Jeder Blick führt nach innen"), ein siebenseitiger Trichter mit Sogwirkung nach unten und (unter Mithilfe des ZKM) 360°- Projektionen von Filmaufnahmen. Bühne und Kostüme hat Sebastian Hannak entworfen, der bereits zuvor in Karlsruhe sehr interessante und flexible Arbeiten zeigte und auch diese Inszenierung aufwertet. Hannak beschreibt im Programmheft aufschlußreich sein Vorgehen.

Was ist zu sehen(2)?   
Für die Schauspieler gibt es leider mal wieder nur wenige Möglichkeiten, ihre Rollen zu entwickeln. Es sind Scheingefechte, die man sich auf der Bühne liefert: hohe Worte und hohle Phrasen, bedeutungsschwangere Scheinkonflikte und schale Pointen. Vieles wird angedeutet, nichts richtig entwickelt, die Figuren bleiben in episodischer Konstruktion oberflächlich. Immer wieder sieht man Wirkungen ohne oder mit zu künstlicher Ursache. Alle Schauspieler sind engagiert bei der Sache und machen das Beste aus der Situation. Als Ganzes funktioniert dieses Glasperlenspiel leider nicht auf der Bühne.

NACHTRAG: Nicht zu vergessen - ein homogenes Ensemble und dennoch - besonders vier Schauspieler hatten gestern starke Momente: Veronika Bachfischer, Berthold Toetzke, Hannes Fischer und Gunnar Schmidt - BRAVO!

Fazit: Es schien, als würde das Glasperlenspiel ein Höhepunkt der Saison werden, aber es ist nur ein vorgetäuschter Höhepunkt, bei dem einige bemerken werden, daß er unecht ist. Eine höhere Stufe der Spiritualität betritt man bei der Bühnenfassung nur, wenn man zuvor oder in der Pause ausreichend Alkohol konsumiert.

Team und Besetzung
Josef Knecht (jung): Jonathan Bruckmeier
Josef Knecht (alt): André Wagner
Plinio Designori (jung): Maximilian Grünewald
Plinio Designori (alt): Frank Wiegard
Musikmeister: Hannes Fischer
Alexander (Yogameister): Berthold Toetzke
Direktor: Gunnar Schmidt
Tegularius: Ralf Wegner
Frau Designori: Agnes Mann
Pater Jakobus: Thomas Meinhardt
Tito Designori: Veronika Bachfischer
Petrus: Luis Quintana
Dubois: Ronald Funke

Für die Bühne bearbeitet von Martin Nimz und Konstantin Küspert
Regie: Martin Nimz
Bühne & Kostüme: Sebastian Hannak
Video: Thorsten Hallscheidt
Licht: Christoph Pöschko
Musik: Clemens Rynkowski

Panoramaprojektion:
Regie: Thorsten Hallscheidt
360°Kamera: Jan Gerigk, ZKM
Projektionssoftware: Bernd Lintermann, ZKM
Produktionsmanagement: Jan Gerigk, ZKM
Installation: Achim Göbel
Technische Unterstützung: Manfred Hauffen, ZKM

Sonntag, 21. September 2014

Theaterfest, 20.09.2014

Ein strahlend schöner Spätsommertag und wie so oft ein Theaterfest in positiver und aufgeschlossener Atmosphäre. Es muß mal wieder attestiert werden: Karlsruhe hat einfach ein bemerkenswert gutes Publikum und viele Abonnenten, die ihr Theater über einen langen Zeitraum unterstützen und selbstverständlich auch dann, wenn nicht alles rund läuft.

Freitag, 12. September 2014

Dokumentarfilm über Birgit Keil im SWR

Am 22. September feiert Birgit Keil einen runden Geburtstag. Das Regionalfernsehen des SWR bringt ihr zu Ehren am Sonntag den Dokumentarfilm

Birgit Keil - ein Leben für den Tanz
Ein Film von Harold Woetzel (45 Minuten)
Sonntag, 14. September 2014 um 10:30 Uhr im SWR Fernsehen

Nachtrag: Inzwischen ist der Film hier in der Mediathek: http://swrmediathek.de/player.htm?show=3b887820-3ca4-11e4-8726-0026b975f2e6

Gestern gab es bereits ein kurze Würdigung des SWR in der Reihe KUNSCHT!, die ebenfalls am Sonntag, 14.9.2014 um 9.15 Uhr im Fernsehen zu sehen ist und hier in der Mediathek abgerufen werden kann:http://swrmediathek.de/player.htm?show=2aea45b0-39f3-11e4-888c-0026b975f2e6

Und nicht zu vergessen: das Badische Staatstheater richtet für seine Ballett-Direktorin am 27.09.14 einen Abend mit Gästen aus.

Mittwoch, 10. September 2014

Programm des Karlsruher Theaterfests am 20.09.2014

Eröffnung des Theaterfests und Begrüßung durch Oberbürgermeister Dr. Frank Mentrup und Generalintendant Peter Spuhler
11.00 AUF DEM THEATERVORPLATZ

Donnerstag, 4. September 2014

Neuer Bildband „Birgit Keil – Ballerina“

Am 15. August erschien im Henschel Verlag ein interessanter Bildband: "Birgit Keil. Ballerina: Glück ist, wenn auch die Seele tanzt"

Die Stuttgarter Zeitung weist in ihrem Online-Angebot darauf hin. Hier der Link:
http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.bildband-birgit-keil-ballerina-ungesehene-bilder-von-der-elegantissima.48038b3e-243d-4b7a-bdfa-d7aef6658319.html

Montag, 1. September 2014

Die kommende Spielzeit 2014/15 im Überblick

Am Montag 15.09.2014 beginnt der Vorverkauf für die kommende Spielzeit. Viele Höhepunkte und spannende Vergleiche stehen 2014/15 in Karlsruhe bevor. Anbei ein kurzer Überblick.

BALLETT - Steigerungen auf hohem Niveau
Nachdem die großen Handlungsballette des 19. Jahrhunderts in Karlsruhe über ein Jahrzehnt getanzt und neu erzählt wurden, konnte Birgit Keil für die nächste Saison eine kleine Sensation ankündigen: ein Meisterwerk des 20. Jahrhunderts - Der Widerspenstigen Zähmung von John Cranko. Und ein neues Handlungsballett wird ebenfalls auf dem Programm stehen: Der Prozess nach Franz Kafka, choreographiert von Davide Bombana. Dazu Mythos, Nußknacker, Dornröschen und Giselle als Wiederaufnahmen. Wer nicht weiß, was er im Staatstheater besuchen soll, ist mit dem Karlsruher Ballett immer gut beraten. Hier die Links zu den Premieren und Wiederaufnahmen des Balletts auf den Seiten des Badischen Staatstheaters.

  
OPER -  Neues, Vertrautes und Nahes
Parsifal und Falstaff - Wagners und Verdis letzte Opern werden 2015 gegenüber gestellt. Dazu Puccinis La Bohème, also drei Opern, die erst im letzten Jahrzehnt (200X) in Karlsruhe zu hören waren und in mindestens zwei Fällen die Messlatte sehr hoch legten. Giancarlo del Monacos Inszenierung von La Bohème  war so erfolgreich und beliebt, das sie gar nicht erst aus dem Repertoire-Lager hätte verschwinden dürfen. Mit ihr zu konkurrieren wird keine leichte Sache. Und Falstaff hatte mit Günter von Kannen bei seinem letzten Karlsruher Auftritt und vor allem mit Ambrogio Maestri (der diese Rolle inzwischen auch an der MET in New York singt) in den Hauptrollen Sänger, die als Referenz schwer aus der Erinnerung zu vertreiben sind. Harte Konkurrenz, die sich die Karlsruher Oper selber stellt.
I
phigenie auf Tauris
gehört zu Glucks bedeutendsten Opern und stellt das Badische Staatstheater vor die Herausforderung, in einer Zeit wachsender Popularität von Barock- und Rokoko-Opern, musikalisch und sängerisch den richtigen Klang zu finden. Den richtigen Klang findet man zweifellos bei den Händel Festspielen: diese werden mit Teseo eröffnet, Regie und Ausstattung erfolgt durch NICO AND THE NAVIGATORS, ein Inszenierungs-Ensemble, das bereits bei den Händel-Festspielen der Oper Halle mit Barockopern überzeugte. Mit zwei tendenziell eher amüsanten Raritäten startet man in die Spielzeit: Hans Krásas Verlobung im Traum basiert auf einer komischen Erzählung Dostojewskis: Offenbachs komische Oper Fantasio soll unverdienterweise wenig bekannt geblieben sein.
Wiederaufgenommen werden u.a. Riccardo Primo, Boris Godunow, Maskenball, Meistersinger, Fledermaus. Wiederaufgewärmt werden La Traviata, Tosca, Cosi fan tutte, Zauberflöte, Hänsel und Gretel, Rosenkavalier.
Hier die Links zu den Premieren und Wiederaufnahmen der Oper auf den Seiten des Badischen Staatstheaters.

NACHTRAG, 10.09.2014: Nun doch nicht NICO AND THE NAVIGATORS. Das Badische Staatstheater hat eine Änderung bekannt gegeben: Teseo wird auf die Bühne gebracht von Daniel Pfluger (Regie), Flurin Borg Madsen (Bühne) und Janine Werthmann (Kostüme).


SYMPHONIEKONZERTE
GMD Justin Brown hat eine sehr interessante Mischung zusammengestellt: Beliebtes und Bekanntes wird zu hören sein, u.a.: Mahlers 1.Symphonie, Mussorgskys Bilder einer Ausstellung, Richard Strauss' Heldenleben, Bruckners monumentale 8. Symphonie, Haydns Symphonie mit dem Paukenschlag, Mendelssohns 2. Symphonie und Berlioz' Symphonie fantastique. Dies wird spannend ergänzt durch viele neue und unbekannte Solokonzerte: ein Cellokonzert von Jesper Koch, ein Doppelkonzert für Violine und Cello von Thomas Larcher, Violinkonzerte von Weinberg und Thomas Adès, ein Capriccio für Klavier von Wolfgang Rihm und ein Klavierkonzert von Miroslav Srnka. Justin Browns Aussage „Diese Konzertsaison ist die für mich schönste und inhaltlich überzeugendste meiner Zeit in Karlsruhe" konnte ich beim Lesen spontan bestätigen.
Hier die Links zu den Symphoniekonzerten und Kammerkonzerten auf den Seiten des Badischen Staatstheaters.

 
SCHAUSPIEL - Neustart oder das Ende der Abwärtsspirale?
Acht neue Schauspieler im Ensemble, im vierten Jahr hat man nun alle Dramaturgen des Beginns ausgetauscht - dem Schauspiel darf man viel Glück und vor allem Erfolg beim kleinen Neustart wünschen. Es gibt zwar weniger Neu-Programm als üblich, aber die Zusammenstellung der Programmpunkte ist ausgeglichener (Neues/Bewährtes bzw. Heiteres/Ernstes) und auf den ersten Blick auch weniger auf Zielgruppen schielend als zuvor. Doch ein schneller Blick von außen auf die Programmgestaltung ist kaum aussagekräftig. Auch bei den Zuschauern werden (abgesehen von "Fans" die nach Sympathie urteilen) nicht die guten Absichten bewertet, sondern die Qualität des Bühnengeschehens: Was will man mit einer Inszenierung sagen? Hat man die richtige Form für die Umsetzung gefunden?  Und hat man die richtigen Künstler für die Rolle gewählt?- sind bspw. Fragen, die relevant sind. Künstlerisch profiliert man sich durch was Wie?, nicht durch da Was?. In Karlsruhe ist das Schauspiel zu oft gut gemeint, aber leider nicht gut gemacht.
Hier eine Übersicht:

Schauspiel  
DAS INTERVIEW von Theo van Gogh
GIFT von Lot Vekemans
SCHATTEN (EURYDIKE SAGT) von Elfriede Jelinek
DREI SCHWESTERN von Anton Tschechow
TOD UND WIEDERAUFERSTEHUNG DER WELT MEINER ELTERN IN MIR von Nis-Momme Stockmann
ZUHAUSE Tragikomische Monologe von Ingrid Lausund

Alter & Krankheit
DIE UHR TICKT von Peca Stefan. UA/Auftragswerk im Rahmen des ETC-Projekts The art of Ageing
DU SOLLST DEN WALD NICHT VOR DEM HASEN LOBEN von Jörn Klare

Philosophisches Theater
DAS GLASPERLENSPIEL nach dem Roman von Hermann Hesse
DIE BANALITÄT DER LIEBE von Savyon Liebrecht

Schülertheater
DIE RÄUBER von Friedrich Schiller

Dokumentarisches Theater
ICH BEREUE NICHTS Ein NSA-Projekt

Dazu kommen als Wiederaufnahme vor allem die Komödien der letzten 3 Jahre (Verrücktes Blut, Der Vorname, Richtfest, Benefiz) sowie die Schülerstücke (Agnes, Dantons Tod, Kabale und Liebe, Maienschlager, Die Leiden des jungen Werther) und die Musikrevuen (Dylan, Rio Reiser sowie Sommernachtstraum).
Hier die Links zu den Premieren und Wiederaufnahmen des Schauspiels auf den Seiten des Badischen Staatstheaters.

Mittwoch, 20. August 2014

Rückblick (4): Zuschauerzahlen 2013/14

Die aufmerksamen Stammzuschauer des Badischen Staatstheaters waren von den Besucherzahlen der Spielzeit 2013/14 überrascht und irritiert. Und tatsächlich scheint es diskutabel, wie seriös sich das Badische Staatstheater mit seinen Zahlen präsentiert.

Im Vorwort zum Magazin Nr. 12 schreibt Peter Spuhler: "Zum Ende der vergangenen Spielzeit konnten wir uns erneut über gestiegene Besucherzahlen freuen (335.000)."

Bei den langjährigen Besuchern des Badischen Staatstheaters wurde die Freude wahrscheinlich schnell durch Skepsis überlagert. Und tatsächlich: Besucherzahlen sind keine Zuschauerzahlen. In Karlsruhe hat man in der Spielzeit 2013/14 ca. 305.000 Eintrittskarten für Vorstellungen des Badischen Staatstheaters abgesetzt.

Wie kommt die Fehldifferenz von ca. 30.000 Besuchern zustande?
Einerseits sind das Abonnenten und Zuschauer anderer Theater, die Gastspiele des Badischen Staatstheaters in anderen Städten besucht haben, auch die thailändischen Besucher, die das Gastspiel des Badischen Staatsballetts in Bangkok sahen oder den Tannhäuser in Korea. Dazu kommen all die Besucher, die ohne Eintrittskarte bei kostenlosen Veranstaltungen, Begleitprogrammen und Führungen zugegen waren. In den offiziellen Statistiken und Jahrbüchern zählt das meines Wissens nicht: dort wird man die oben genannte niedrigere Zahl finden.

Zahlen im Überblick
305.000 Eintrittskarten für Vorstellungen des Badischen Staatstheaters in Karlsruhe und dennoch ist die Auslastung auf ca. 80% gesunken (2012/13: 85%, ca. 300.00 Eintrittskarten / 2011/12: 81%, ca. 275.500 Eintrittskarten / 2010/11: 84%, ca. 277.000 Eintrittskarten)
Der Grund für die gesunkene Auslastung liegt darin, daß die Anzahl der Vorstellungen massiv gestiegen ist. Gab es 2011/12 noch 786, waren es 2012/13 bereits 883 und in der letzten Saison 985 Aufführungen. (Zum Vergleich: 1989/1990: 554 Vorstellungen mit ca. 365.000 Zuschauer und 90% Auslastung.) Es gibt also so viele Vorstellungen wie noch nie, der Besucherzuwachs ist quantitativ erzeugt.

Im Kritik-Kreuzfeuer
Wieso diese seltsame und mit früheren Jahren nicht vergleichbare "Besucherzahl"? Ist das nur Public Relations? Die Zahl wird aber nur von wenigen wahrgenommen und selten hinterfragt. Die Karlsruher Intendanz fühlt sich anscheinend nicht fest im Sattel sitzend. Man könnte den Eindruck haben, als ob es sich um eine geschönte Gesamtzahl handelt, die der Intendanz etwas Luft und Zustimmung verschaffen soll. Peter Spuhler hat noch einen Vertrag für die nächsten sieben Jahre, um die Sanierung und den Neubau zu erledigen. Doch mit einer anderen Baustelle scheint es mehr Mühe zu geben: die Hebung der künstlerische Leistungsfähigkeit in Schauspiel und Oper sollte endlich stärkere Aufmerksamkeit bekommen und Resultate zeigen. Es fehlt an Souveränität in beiden Sparten.

Fazit: Das Badische Staatstheater gibt ein gutes Beispiel, wie aussageschwach Statistiken sein können. Belastbare und aussagefähige Zahlen sind in Karlsruhe nicht transparent. Was quantitativ positiv erscheinen mag, kaschiert aktuell nur die Probleme und qualitativen Defizite am Haus.

Freitag, 25. Juli 2014

Rückblick (3) - Die Spielzeit 2013/14 des Badischen Staatstheaters

Die Kunst ist, das Gesamtpaket zu schnüren
Das Badische Staatstheater ist auch drei Jahre nach dem Intendanzwechsel noch nicht auf dem angemessenen Leistungsniveau angekommen und vor allem künstlerisch hat die Intendanz Spuhler weiterhin ihre Defizite. Doch am Ende einer langen Spielzeit soll etwas anderes zu Beginn stehen:

Viel Lob für Ballett, Orchester, Chor und Einzelkünstler

Wieder einmal glänzte das Karlsruher Ballett und der Höhepunkt war Reginald Oliveiras spannende Choreographie in der Mythos-Trilogie. Viele Opernsänger und einige Schauspieler konnten Ausrufezeichen setzen, die Händel Festspiele waren im besten und schönsten Sinne Festspiele. Viele leisten Abend für Abend Besonderes und folgende möchte ich hervorheben:

And the Oscar goes to......
  • Bruna  Andrade und Flavio Salamanka in Reginaldo Oliveriras Der Fall M. des Mythos Ballettabends!
  • Armin Kolarczyk als Oppenheimer in Dr. Atomic und Beckmesser in den Meistersingern - für mich der Sänger der Spielzeit!
  • großartige Sänger im Maskenball: Ewa Wolak und Barbara Dobrzanska sowie Andrea Shin und Seung-Gi Jung boten hochspannende Aufführungen!
  • Franco Fagioli für sein Solo-Konzert und seinen Auftritt im unvergesslichen Riccardo Primo!
  • Lisa Schlegel als unersetzbare und unvergleichliche Darstellerin in Richtfest und Benefiz!
  • Gunnar Schmidt schuf für mich mit seiner großartigen Interpretation des Soziologieprofessors Ludger in Richtfest die Figur der Saison - komisch mit jeder Faser. Bravo!
  • Chor und Orchester, die konstant ihr Potential abrufen!
  • den Kartenvorverkauf, der mir seit Jahr und Tag kompetent hilft, meine vielen Eintrittskarten zu bekommen!
 
Publikumsliebling Ballett   

Der tänzerischen und körperlichen Leistungsfähigkeit des Karlsruher Staatsballetts kann man nur höchsten Respekt zollen. Und tatsächlich hat man die Besucherzahlen um sensationelle 9% gesteigert. Das Ballett Birgit Keils ist die Vorzeigesparte bei der das Gesamtpaket aus Qualität, Anspruch und Umsetzung stimmt.

Oper im Abseits

Die Besucherzahlen der Oper stagnieren (trotz oder wegen der Programmgestaltung, je nach Standpunkt) in den letzten drei Jahren auf niedrigem Niveau. Zum Glück hat man immer noch ein sehr treues Publikum in Karlsruhe. Wenn es nur nach Zahlen gehen würde, müsste man zwar nicht den (jetzt kommenden) Abgang der Opernleitung fordern, aber ein Überdenken der bisherigen Planungsweise erscheint notwendig. Für Opern-Liebhaber war es in den letzten drei Jahren ein Programm, das viel Neues und Ungehörtes nach Karlsruhe brachte, aber zu selten restlos begeisterte: programmatisch oft zu ernst und zu sperrig, mit teilweise wenig variablen Monatsprogrammen und zu wenig Fokus auf die Sänger. Man kann gespannt sein, welche Änderungen der neue Operndirektor vornehmen wird und welche Sänger er austauscht bzw. holt.

In der Oper gab es in der abgelaufenen Spielzeit die ganze Bandbreite an Erlebnissen. Das Jahr bot einen stabil inszenierten Maskenball, die Fledermaus war hingegen nur ein Hörerlebnis, das visuell keine mehrfachen Besuche lohnte. Dr. Atomic lag zwischen Hochspannung / Begeisterung (1.Akt) und Langeweile (2.Akt). Die Händel Festspiele waren das Highlight der Spielzeit mit einer fast perfekten Zusammenstellung und einem Riccardo Primo, der überregional viel für das Badische Staatstheater erreichte. Wagners Meistersinger erwiesen sich als grandios und sehr speziell: umstritten, spannend und selbstbezüglich. Der Doppelabend Ravel/Strawinsky zeigte Ordentliches. Gerade erst erfolgte mit Boris Godunow die letzte, wieder nur musikalisch überzeugende Premiere.

Die kommende Spielzeit liegt noch überwiegend in der Verantwortung von Schaback/Feuchtner. Folgende Programmlinien lassen sich über die vergangen drei Jahre und die kommende Spielzeit identifizieren:
  • Wagner: Lohengrin - Tannhäuser - Meistersinger -> Parsifal
  • Französische Oper: Berlioz - Spontini - Ravel/Strawinsky  -> Gluck
  • Oper des 20. Jahrhunderts: Delius - Britten - Ravel/Strawinsky -> Krása
  • Politische Oper: Wallenberg - Die Passagierin - Dr. Atomic -> Fantasio
  • Operette: Offenbach - Künneke - Strauss -> Offenbach
  • Verdi: Rigoletto -  / - Maskenball -> Falstaff
  • Händel Festspiele: Alessandro - Triumph of ... - Riccardo I. ->Teseo
Der neue Operndirektor Michael Fichtenholz hat bereits angekündigt, daß Wagner-Opern und zeitgenössische Werke weiterhin einen Programmbestandteil ausmachen sollen. Aber wen überrascht das? Die langjährigen Stammzuschauer kennen die Erfolgsformel und Hausgötter: Händel - Mozart - Wagner - R. Strauss, dazu ausgewogen Modernes, Italienisches und Französisches, Bekanntes und Ausgrabungen. Die Kunst ist, das Gesamtpaket zu schnüren.

Konzertprogramm mit Handschrift
Auch bei den Konzerten hat sich in den letzten Jahren einiges getan und vor allem wurde hier bisher der Mut belohnt, weniger Bekanntes und Neues zu spielen. Die Zuschauerzahlen sind auf hohem Niveau fast konstant. Vorbildlich und spannend auch in der kommenden Konzertsaison, auf die man sich freuen kann. Bravo!

Weniger Lob
Zur vermeintlichen Halbzeit der damals noch nicht verlängerten Intendanz hatte ich einige Kritikpunkte (die sich hier befinden). Vielleicht lege ich heutzutage einfach den falschen Maßstab an, wenn ich vom Badischen Staatstheater erwarte, mich zum Nachdenken zu bringen, mich zu inspirieren, zu begeistern oder zu verblüffen, um mich Jahre später noch an besondere Momente, Aufführungen und Inszenierungen lebhaft erinnern zu können. Intendanz (mehr hier im ersten Teil des Rückblicks) und Schauspiel (mehr auch hier in Teil 2) bewegen sich bisher nicht auf der Höhe meiner Erwartungen, dem Gesamtpaket mangelt es (noch) an Substanz.

Besucherzahlen steigen um 3%!
Bei den Gesamtbesucherzahlen (ca 310.000) kann man sich glücklicherweise dennoch weiter stabilisieren. Das Ballett ist weiterhin mit 90% Auslastung Spitzenreiter (ca 52.500 Zuschauer) und hat den größten Zuwachs. Quasi stagnierende Besucherzahlen haben 2013/14 Oper (ca 104.500 Besucher ), Konzert (ca 36.000) und das Kindertheater (ca 33.000). Auch im Schauspiel (ca 85.000) legte man trotz weiterhin bestehender Defizite zu, doch hier hat man am stärksten aus seinen Fehlern gelernt. Das Karlsruher Schauspiel ist allerdings auch das beste Beispiel, daß gute Zahlen kein Beleg für gute Qualität sind.
Es heißt zu Recht, man solle nur der Statistik glauben, die man selber erstellt hat. Leider agiert man am Badischen Staatstheater immer noch nicht transparent: komplette und belastbare Statistiken werden (noch) nicht veröffentlicht. Anscheinend konnte sich das Schauspiel durch die konsequenten Besuche von Schulklassen in den letzten beiden Jahren deutlich nach oben bewegen. Auch die Anzahl der Aufführungen hat man wahrscheinlich gesteigert und die bisherigen Mißerfolge wurden schneller aus dem Spielplan genommen. Interessant wäre in allen Sparten eine Aufgliederung der Besucherzahlen nach Vollpreis/Ermäßigungen/Stehplätzen, Abo/freier Verkauf, Anzahl der Aufführungen und Auslastung.

FAZIT: Das Ballett ist weiterhin die Lieblingssparte der Karlsruher, der Oper fehlen die Zuschauer, die es aufgrund seiner Bedeutung und Leistungsfähigkeit benötigt, während das Schauspiel vordergründig gut dasteht, obwohl es sich immer wieder hilf- und ratlos präsentierte und es an guten Hauptrollenschauspielern mangelt. Die Bemühungen und Anstrengungen um Normalisierung sind vorhanden, aber es mangelt der Intendanz bisher (noch) an künstlerischem Format.
Im Hinblick auf die notwendigen Veränderungen am Badischen Staatstheater kann man nur hoffen, daß Öffentlichkeit und Presse sich nicht mit oberflächlichen Analysen und vordergründigen Wertigkeiten abspeisen lassen. Erfolg ist Nachhaltigkeit ist Qualität. An einigen Stellen hat man in den letzten drei Jahren Strohfeuer entzündet, an deren Nachhaltigkeit man Zweifel haben muß.

In eigener Sache:

HERZLICHEN DANK für Ihr Interesse und Ihre Kommentare. Über 85.000 Seitenaufrufe in der abgelaufenen Spielzeit und überregionale Leser, die das Badische Staatstheater mit seinen Stärken und Schwächen, seinen Künstlern und treuem Publikum verstärkt wahrnehmen, sind weiterhin eine Verpflichtung dieses Tagebuch öffentlich zu halten.


ÜBERSICHT:
Oper:

Adams - Dr. Atomic
Britten - Peter Grimes
Händel - Riccardo Primo
Händel - Rinaldo
Mussorgsky - Boris Godunow
Ravel - Das Kind und die Zauberdinge
Strauß - Die Fledermaus
Strawinsky - Die Nachtigall
Verdi - Ein Maskenball
Wagner - Der fliegende Holländer
Wagner - Die Meistersinger von Nürnberg
Weinberg - Die Passagierin

Ballett:
Ballett-Gala
Mythos
Sissi (Gastspiel des Balletts Hannover)
Tschaikowsky - Dornröschen
Tschaikowsky - Nußknacker

Schauspiel:
Hübner/Nemitz - Richtfest 
Kaiser - Gas I/II
Lausund - Benefiz
Schiller - Kabale und Liebe
Schnitzler - Der einsame Weg
Shakespeare - Ein Sommernachtstraum
Williams - Endstation Sehnsucht

    
Konzerte:
8 Symphoniekonzerte
Franco Fagioli - Arien für Caffarelli

Diverses:
Händel Festspiele 2014
Theaterfest 2013


PS: Nur zum privaten Gebrauch / persönliche Statistik für die Spielzeit 2013/2014:
19 Opernbesuche / 11 Produktionen
9 Konzertbesuche / 9 Konzerte
8 Schauspielbesuche / 7 Produktionen
5 Ballettbesuche / 5 Produktionen
Theaterfest
Fazit: 42 Abende im Badischen Staatstheater. Es gab halt schon schönere Jahre: spannender, inspirierender, künstlerisch erfüllter ....

Donnerstag, 24. Juli 2014

Mussorgsky - Boris Godunow, 23.07.2014

Die Premiere (mehr dazu hier) kam beim Publikum gut an. Allerdings ist diese Zustimmung nur musikalisch berechtigt, denn gegen die Inszenierung kann man Vorbehalte anmelden.

Kein Haifischbecken, keine Unterprivilegierten
Man konnte mehr erwarten, vor allem nachdem Regisseur Hermann im Karlsruher Theatermagazin Nr. 11 ambitionierte Pläne hatte:

"Das Geniale bei Mussorgsky scheint mir, daß er die persönliche Situation von Boris unmittelbar mit einer politischen verbindet. Wir erleben diesen schwachen Zaren inmitten eines politischen Haifischbeckens und wissen nicht, ob wir ihn lieben oder hassen sollen. Genau diese Ambivalenz macht das Werk so faszinierend, die Sympathien des Publikums für einen vermeidlichen Mörder zu erwecken – ist er Opfer oder Täter? Und das unterdrückte russische Volk? Ich glaube schon, daß man versuchen muß, die Verlorenheit der weltweit Unterprivilegierten unserer Zeit darzustellen. Es scheint mir, als gebe es etwas wie eine Art internationale Armut, ein schwieriger Begriff; mal sehen, ob man das deutlich auf die Bühne bringen kann."

Für den Chor fand der Regisseur keine zufriedenstellenden Antworten. Das unterdrückte russische Volk hat hier keine Bedeutung und der Chor ist darstellerisch unterfordert. Auch das politische Haifischbecken ist eher ein Kleinfisch-Aquarium. Schuiski gewinnt nur durch die Darstellungskraft Matthias Wohlbrechts Profil, ansonsten verleiht ihm die Regie keine Haifischzähne. Auch Dimitri wird im Ur-Boris nicht zum Gegenspieler.

Der Feind ist die eigene Frage als Gestalt
Was bleibt? Die Karlsruher Inszenierung stellt die Titelfigur in den Mittelpunkt eines zu konturenlosen Umfelds. Anderes ist besser getroffen: verängstigte Kinder, dominante Amme und eine offene Gewaltbereitschaft Godunows zu Beginn. Mussorgsky zeigt Boris bereits mit seiner Auftrittsarie als unsicher und zweifelnd. Deshalb hatte die Regie den guten Einfall, die Rolle des Polizisten auch vom Darsteller des Boris singen zu lassen. Es heißt, der Feind ist die eigene Frage als Gestalt. Boris Godunow ist dieser Frage nicht gewachsen: seine Sorge um Legitimation und Machterhalt, um das Erbe und die Sicherheit seiner Kinder, um die Wohlfahrt der Bevölkerung, die von Hungersnöten geplagt werden - Boris muß sich von unlösbaren Fragen und damit teilweise unangreifbaren Feinden umzingelt fühlen und zerbricht daran. Die psychische Zerrüttung deutet an, daß Boris Godunow nicht hemmungs- und gewissenlos seine Pläne verfolgte. Godunow ist ein Herrscher mit Skrupeln und Gewissen. Sein Versuch ein guter Zar zu sein scheitert an den Umständen und Zeitläufen. Auch das hätte die Regie tragischer darlegen sollen. Der Regisseur wollte die Unentschiedenheit betonen, seine Regie spricht aber mehr über die eigene Unentschlossenheit des Ausdrucks.

Auf der Habenseite: Gorny, Kaspeli, Wohlbrecht, Shin und Weinschenk - die zentralen Figuren sind bestens durch hauseigene Sänger besetzt

Wer ihn nur in anderer Version kennt, muß sich an den unrunden Ur-Boris erst gewöhnen.  Schade, daß die Regie nicht stärker formt. So wirkt der Ur-Boris in seiner Gesamtarchitektur doch ein wenig holprig. Spätere Fassungen scheinen fürs Publikum attraktiver zu sein. Dennoch lohnt der Besuch zum Kennenlernen, denn musiziert und gesungen wird hörenswert.

Sonntag, 20. Juli 2014

Mussorgsky - Boris Godunow, 19.07.2014

Boris Godunow -ein zentrales Meisterwerk der russischen Oper- bekam gestern viel Applaus nach einer erfolgreichen und guten Premiere im Badischen Staatstheater. Leider blieb die Inszenierung zu konturenlos, viele Fragen bleiben nicht nur offen, sie werden gar nicht erst gestellt.

Geschichtlicher Hintergrund
Fast 40 Jahre lang hatte Iwan der Schreckliche (†1584) Rußland geknechtet, ihm folgte Iwans schwachsinniger Sohn Fjodor, für den Boris Godunow bis zu seinem Tod die Geschäfte führte, bevor er selber für sieben Jahre als Zar folgte, aber erst nachdem auch Iwans jüngster Sohn Dimitri im Alter von 8 Jahren tot mit einer Wunde am Hals gefunden wurde. Ob es sich um einen Auftragsmord oder einen Zufall der Geschichte handelte, konnte nie geklärt werden. Boris Godunow hatte später den Ruf des Prinzenmörders und mußte sich aber zu Lebzeiten mit einem falschen Dimitri beschäftigen - einem Hochstapler, der Anspruch auf den Thron erhob und die Legitimität Godunows infrage stellte.
Es war eine "Zeit der Wirren" für Rußland: schwach und zerstritten, wirtschaftlich verarmt und verwüstet. Godunow stabilisierte das Land, förderte den Handel und doch blieb es aufgrund der unklaren Machtverhältnisse anfällig und unsicher. Godunow starb aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands im Jahr 1605 in unruhigen Zeiten. Der falsche Dimitri kam danach kurz auf den Thron und wurde ermordet. Erst 1613 stabilisierte sich Rußland mit dem ersten Zaren aus der Dynastie der Romanows.

Versionsfrage
Mussorgsky hinterließ eine Ur-Fassung, eine später überarbeite Original-Fassung (bei der ein Bild fehlte und drei neue hinzugefügt wurden) und noch einen Klavierauszug letzter Hand. Dazu kommen noch verschiedene Umarbeitungen, Mischfassung und Neuorchestrierungen von Rimsky-Korsakow und Schostakowitsch. Über Vor- und Nachteile zu diskutieren, ist müßig. In Karlsruhe entschloss man sich für die erste Fassung, den Ur-Boris von 1869 in Mussorgskys eigener Instrumentierung, denn laut Regisseur  David Hermann: "Die Urfassung kommt den ursprünglichen Absichten des Komponisten am nächsten. Die späteren Fassungen haben auch ihre Meriten, aber sie kamen doch zu erheblichen Teilen durch Anregungen von Außen zustande".

Worum geht es? Oder in diesem Fall besser: Worum geht es nicht?
Der scheidende Chefdramaturg Dr. Bernd Feuchtner hat erneut ein hochinformatives Programmheft zusammengestellt. (Im Internet findet es sich zur Zeit hier als pdf).
Der Regisseur Hermann gibt die Idee vor: "Wie komme ich an die Macht und was macht sie dann mit mir – damit setzt Boris Godunow sich auseinander. Es gibt starke Parallelen zwischen dieser Oper und Macbeth. Beide Hauptfiguren sind innerlich beschädigt durch einen Mord und gehen an dieser Schuldfrage letztlich kaputt." Diese Vorgabe ist gut, bleibt aber leider zu blaß. Der Inszenierung fehlt der rote Faden: Der Ur-Boris erscheint handlungsarm und mit nur schwachen Zusammenhängen, Episodisches überwiegt. Die Urfassung endet nicht mit der sonst bekannten und üblichen Klage des Narren, sondern mit Godunows Tod.

Die Parallelen des damaligen Zars zum heutigen russischen Präsidenten und seiner Selbstinszenierung durch die Medien meidet der Regisseur und auch eine Wertung Godunows nimmt er nicht aktiv vor. Es bleibt für den Zuschauer eine offene Frage, ob der Mörder Godunow nur zum Wohle des Volkes handeln wollte oder ob er der starke Mann zu sein scheint, der sich zum Herrscher ernennen lässt, die Bojaren entmachtet und als Retter und Wohltäter gesehen werden will, bei dem das Beste für das Land wie so oft auch das Beste für die Herrschenden, ihre Macht und ihre Geldbörsen ist. Eine aktuelle Parabel der prä- und postdemokratischen "starken Männer" bringt Hermann nicht auf die Bühne. Godunows Zerrissenheit zwischen Zweifel und Machtanspruch bleibt diffus; im 5. Bild stellt ein langer Tisch mit Holzfiguren keine überzeugende Metapher dar.

Rimsky-Korsakow nannte die Oper nach seiner Umarbeitung ein „musikalisches Volksdrama“. Der Charakter der Erstfassung ist anders. Dazu der Regisseur: "In der Karlsruher Aufführung versuchen wir vor allem, möglichst nahe an die Psyche des Boris heran zu kommen. Der Chor bildet in der Urfassung nur den – wichtigen – Hintergrund des Geschehens. In unserer Aufführung wird er erst am Ende eine aktive Rolle einnehmen".  Bei der Urfassung des Boris geht es also weniger um russische Geschichtsbilder, um farbige Episoden oder anschauliche Milieustudien. Das wahre Drama ist auch nicht das das Leid der Bevölkerung während der Zeit der Wirren - kein Volksdrama, kein Drama der Ohnmacht, der Verführbarkeit, der Parteinahme, der Irrtümer und der Machtkämpfe, die auf dem Rücken des Volks ausgetragen werden. Auch im Schlußbild gewinnt der Chor in der neuen Karlsruher Inszenierung kein zusätzliches Format.

Was ist zu sehen?
Überwiegend schön bebilderte Szenen, atmosphärisch in passender Düsterheit mit Kostümen aus der Jetztzeit. Im 4. Bild, der Schänke an der litauischen Grenze, wechselt die Inszenierung vorübergehend ihre Form und wir seltsam skurril, ohne originell oder pointiert zu sein; wie ein Fremdkörper wirkt sie unpassend und zusammenhanglos.

Was ist zu hören?
Zwei Bässe bekamen gestern den meisten Applaus: Godunow ist eine Parade- und Wunsch-Rolle für Publikumsliebling Konstantin Gorny, der die Bühne mit seiner Ausstrahlung und Stimme beherrscht und mit seinen Monologen immer wieder für Spannung sorgt. Herausragend ergänzt wird Gorny durch Avtandil Kaspeli, der einen ganz starken Auftritt als Pimen hat und sich sichtbar über die vielen Bravos und den Jubel des Karlsruher Publikums freute. Mit Pimen hat Kaspeli in Karlsruhe seine erste Paraderolle gefunden. Bravo!
Und auch die Tenöre überzeugten: Otrepjew wird stimmschön von Andrea Shin gesungen, der zwielichtige Schujski wird von Matthias Wohlbrecht zur profilierten Figur und Hans-Jörg Weinschenk ist zwar offiziell im Ruhestand, aber das merkte man ihm gestern in der Rolle des Narrs nicht an. Überhaupt verdienten sich alle Sänger und Musiker ein Bravo! für eine tadellose Leistung. Ein großes Lob geht erneut an den Badischen Staatsopernchor und Extrachor, der von Ulrich Wagner und Stefan Neubert perfekt vorbereitet erschien, und den Kinderchor des Cantus Juvenum, der wieder einen schönen kleinen Auftritt hat.
Entgegen der ursprünglichen Ankündigung dirigiert nicht Justin Brown, sondern Johannes Willig die Neuinszenierung mit sicherer Hand.

Fazit: Musikalisch hochwertig und überzeugend, inszenatorisch ist man überwiegend unauffällig. Man kann nicht beeindrucken und schon gar nicht begeistern. Der ganzen Inszenierung fehlt etwas: sie gewinnt szenisch zu wenig hinzu und bleibt seltsam unentschlossen in der Aussage. Dieser Ur-Boris setzt sich gegen spätere Fassungen der Oper nicht durch.

PS: Kurzer Blick zurück - Intendant Günter Könemann inszenierte eigenhändig den letzten Karlsruher Boris Godunow in der Spielzeit 1988/89 als Koproduktion mit der Straßburger Opera du Rhin. Damals wurde Rimsky-Korsakows Bearbeitung gespielt und in Deutsch gesungen. Hans-Jörg Weinschenk war schon damals mit dabei (und zwar als Missail; Edward Gauntt als Schtschelkalow). Ansonsten waren u.a. folgende Premieren-Besetzungen zu hören: Gabor Andrasy (Boris Godunow), Frode Olsen (Pimen), Ingrid Lehmann-Bartz (Fjodor), Nemi Rouilly-Bertagni (Xenia), Mario Muraro (Otrepjew).
Bei der Neueinstudierung 1994 gab es Änderungen: im Rahmen einer Zusammenarbeit mit der Oper in Nowosibirsk wurde die von Schostakowitsch instrumentierte Version in russischer Sprache gespielt. Es sangen u.a.: Alexander Morosov (Boris Godunow), Simon Yang (Pimen), Clara O'Brien (Fjodor), Zsuzsanna Bazsinska (Xenia) sowie weitere Sänger aus Nowosibirsk.
Als 1992 Chowanschtschina als Gastspiel des Estonia Theater Tallinn in Karlsruhe gegeben wurde, war ebenfalls die von Schostakowitsch instrumentiere Fassung zu hören.

Besetzung & Team
Boris Godunow / Nikititsch: Konstantin Gorny    
Fjodor: Dilara Baştar
Wassili Iwanowitsch Schuiski: Matthias Wohlbrecht
Grigori Otrepjew: Andrea Shin
Missail: Max Friedrich Schäffer
Warlaam: Lucas Harbour
Pimen: Avtandil Kaspeli
Xenia: Larissa Wäspy
Xenias Amme: Rebecca Raffell
Wirtin: Stefanie Schaefer
Andrei Schtschelkalow: Gabriel Urrutia Benet
Narr: Hans-Jörg Weinschenk
Ein Leibbojar & Bojar Chrustschow: Nando Zickgraf
Mitjuch: Andreas Netzner
Polizist: Yang Xu

Musikalische Leitung: Johannes Willig
Regie: David Hermann
Bühne und Kostüme: Christof Hetzer
Chorleitung: Ulrich Wagner
Einstudierung Kinderchor: Anette Schneider

Freitag, 11. Juli 2014

Edith Haller als Elsa von Brabant in Bayreuth

Man muß immer wieder respektvoll anerkennen, was für eine starke Sänger-Auswahl der frühere stellvertretende Karlsruher Operndirektor Thomas Brux für das Ensemble des Badischen Staatstheaters getroffen hat:  bspw. Barbara Dobrzanska, Walter Donati, Armin Kolarczyk und Sabina Willeit. Lance Ryan und Edith Haller sind seitdem auch Stammgäste bei Bayreuther Aufführungen.

Edith Haller singt nun dieses Jahr für die sich im Mutterschutz befindende Annette Dasch die Elsa im Bayreuther Lohengrin von Hans Neuenfels (mehr zur Inszenierung hier). Klaus Florian Vogt singt den Lohengrin. Haller und Vogt traten bereits in Karlsruhe zusammen als Siegmund und Sieglinde in der Walküre auf. Thomas Brux hatte wirklich eine glückliche Hand bei seiner Arbeit für das Badische Staatstheater.

Mehr zu Edith Haller auch hier: https://www.bayreuther-festspiele.de/fsdb/personen/14376/index.htm
Und Lance Ryan: https://www.bayreuther-festspiele.de/fsdb/personen/14693/index.htm

Sonntag, 6. Juli 2014

Rückblick (2): Auf Langzeit-Diät. Das Karlsruher Schauspiel in der Spielzeit 2013/14

Was ist bloß mit dem Karlsruher Schauspiel los?
Gerade mal noch 11 Premieren im Schauspiel (einschließlich Projekt-Theaters, aber abzüglich Doku- und Volkstheaters) wird man in der kommenden Saison auf die Beine stellen, vor zwei Jahren waren es noch 15, Knut Weber brachte 2004/2005 sogar 18 einschließlich vier Downtown-Projekte. Dazu kommen nun nach drei Jahren viele Abgänge und Wechsel im Ensemble - von einem eingespielten Team ist man weit entfernt und es fehlen Hauptrollendarsteller.

Dienstag, 1. Juli 2014

8.Symphoniekonzert, 30.06.2014

Eine schöne Symphoniekonzertsaison geht zu Ende. Das letzte Konzert der Spielzeit stand im Zeichen der unterlaufenen Erwartungen. Große Namen mit eher weniger bekannten Werken standen im Mittelpunkt.
Zu Beginn allerdings Zeitgenössisches. Georg Friedrich Haas' (*1953) Bearbeitung aus dem Jahr 2003 der 9. Klaviersonate von Alexander Skrjabin. Haas nannte seine Instrumentierung Opus 68 und das Programmheft versprach nicht zu viel: "Was im Klavierklang versteckt lag, entfesselt er zu einem Kosmos an Farbigkeit." Tatsächlich ein Stück voller orchestraler Feinheiten, das beim Publikum gut ankam.

Boris Berezovsky ist ein Star der Klavierszene und von Statur, Technik und Spiel der richtige Pianist für die großen, ausdauerfordernden und schweren Klavierkonzerte. Brahms (den er letzte Spielzeit in Karlsruhe spielte) und Rachmaninow scheinen für ihn prädestiniert, besonders das 2. und 3. Klavierkonzert des Russen sind diesbezüglich beliebte Bravourstücke. Aber Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 4? Was hat es denn mit dem auf sich? Ein wenig Filmmusik, ein wenig Bravour, ein wenig Show, auch ein wenig Leere, aber das auf spielfreudig hohen Niveau - das konnte man erwarten. Doch es kam besser: Berezovsky und Brown legten oft ein hohes Tempo vor und musizierten ein rasantes und virtuoses Plädoyer für dieses Konzert, das zwar nicht die Dichte seiner Vorgänger hat, aber doch nur relativ schwächer ist und jenseits dieser Relation gestern das Publikum begeisterte. Als Zugabe gab es etwas Ungewöhnliches: Winterabend - ein Lied von Nikolai Medtner. Zusammen mit einer Sängerin wurde der Winterabend von Berezovsky eher untypisch präsentiert, denn Winterlandschaft und Dunkelheit waren nicht zu hören, sondern Wärme und Leidenschaft.

Dimitri Schostakowitsch hat große Symphonien geschrieben, einige davon waren lange nicht mehr in Karlsruhe zu hören (bspw. Nr. 4, 6, 7, 8 und die 5. kann man gerne öfters live erleben).  Nun wählte Justin Brown nach der spröden 14. im Jahr 2011 (mehr hier) die Symphonie Nr. 15. Späte und letzte Werke haben oft etwas Rätselhaftes, das man je nach Standpunkt als Vermächtnis, Botschaft oder einfach auch im Sinne nachlassender Kreativität eines gealterten Komponisten begreifen kann. Schostakowitschs 15. Symphonie zitiert Rossini und Wagner und benötigt eigentlich nur zwei Satzbezeichnungen (Adagio und Allegretto). Besonders die orchestral verdichteten Höhepunkte in den Adagios und die vielen solistischen Passagen für verschiedene Instrumente blieben gestern in Erinnerung und bildeten einen sehr guten Abschluß einer immer wieder positiv überraschenden Konzertsaison. So gab es am Ende viele Bravos für Justin Brown und die Badische Staatskapelle.
Und auch von der kommenden Saison kann man einiges erwarten. Brown hat diesbezüglich nachvollziehbar und richtig darauf hingewiesen: „Diese Konzertsaison ist die für mich schönste und inhaltlich überzeugendste meiner Zeit in Karlsruhe". 2014/15 wird spannend!

Montag, 16. Juni 2014

Rückblick (1): Standortbestimmung. Eine Kritik der Intendanz Spuhler

2011 mit Beginn dieses Besucher-Tagebuchs hätte ich nicht gedacht, daß ich mal eine Intendanz erlebe, die mir gerade zu Beginn so wenig Freude, Spaß, Spannung und Inspiration gibt. Wie fasst man Unbehagen in Worte? In der Übertreibung liegt die Anschauung! Das Folgende ist oft subjektiv zugespitzt und verarbeitet und beschreibt persönliche Eindrücke und Erfahrungen.

Sonntag, 15. Juni 2014

Ravel - Das Kind und die Zauberdinge / Strawinsky - Die Nachtigall, 14.06.2014

Großes Desinteresse beim Publikum gegenüber Ravel und Strawinsky: selten sieht man in einer Karlsruher Premiere so viele leere Plätze im Rang und Balkon. Attraktiv wirkt die Kombination der beiden Kurzopern anscheinend nicht: zu leicht, zu unbedeutend, zu belanglos? Dabei sollten es doch gerade zwei sommerlich-leichte Mini-Opern (beide jeweils ca 45 Minuten) sein, die den richtigen Kontrast zu den vermeintlich schweren und langen Opern bieten können, mit denen man sich in letzter Zeit in Karlsruhe vorwiegend beschäftigt hat. Die beiden Kurzopern haben deutlich mehr Aufmerksamkeit verdient, auch wenn es einen guten Grund gibt, wieso beide selten zu hören sind: es sind eher Meisterwerke auf dem Papier als auf der Bühne.