Dienstag, 27. Oktober 2020

2. Symphoniekonzert, 26.10.2020

Das 2. Symphoniekonzert der Pandemie-Spielzeit begann unruhig und erregt, wurde dann gelassen erhaben und klang zärtlich aus.

Wolfgang Rihm zu Beginn. Gejagte Form: "Jagd: Bewegung? Form: Stillstand?" schrieb Rihm. "Es gibt den Augenblick, wo die Jagd nach (einer) Form in (deren) Form umschlägt. Aber dieser Moment ist nicht auf- und festhaltbar; allenfalls kann er beschworen werden. Immer wieder. Kurz vorher und kurz danach. Nie aber an 'seinem' Ort. Jagende Formen: fliegende, fliehende Formen (Fuga?). Malewitschs "Quadrate" sind Rechtecke im Flug." Musik in Form gehetzten, expressiven Hakenschlagens. Die Musik beginnt als kleinteilige Flucht mit Streichern und steigert sich zur unerbittlichen Jagd mit Schlagzeug und bedrohlichen Blechbläsern (kurze Momente wirken wie fortgeführter entfesselter Strauss aus Salome und Elektra) und klingt erschöpft aus. Eine handgreiflich sinnliche Musik, auch aufgrund der Besetzung: Streicher und Harfe, Trompeten und Posaunen, Baßtuba und Kontrafagott, drei Schlagzeuger, die neben Trommeln und Becken auch Marimbaphon, Conga, Tomtoms und Bucklegongs und Woodblocks spielen. Ein Vorspiel zum Hören und Sehen, eine (wie bei Rihm üblich) intellektuell komplexe Jagd zwischen Geräuschproduktion und Klangmagie, die von den Musikern bravourös musiziert wurde.

Danach etwas in Karlsruhe rar Gewordenes: ein Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven. Justin Brown setzte 12 Jahre lang kein einziges auf den Konzertplan, man muß zu Anthony Bramall und Kazushi Ono zurückgehen, um die letzten Aufführungen zu finden. Das Klavierkonzert Nr. 4 G-Dur op. 58 beginnt ohne Orchestervorspiel mit dem Pianisten, der sich im Folgenden in symphonischer Umgebung wiederfindet, in der er eine Gefühlswelt voller Schönheit reflektiert, die manchmal wolkenverhangen ist und doch stets im Hellen aufrecht und erhaben steht. Eine induktive Musik, die einzelne innere Haltung charakterisiert das allgemeine Äußere. Pianist Gerhard Oppitz war lange nicht mehr in Karlsruhe. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, spielte er mit Bramall vor ca. 15 Jahren eines der Brahmskonzerte. Gestern musizierte er Beethoven mustergültig, mit betörend schönem, offenen Klang. Das Andante con moto erklang vorbildlich balanciert, weder maniriert noch depressiv. Erst im abschließenden Rondo ertönen zum ersten Mal Trompeten und Pauken, Fritzsch achtete darauf, daß sich der Grundcharakter dennoch nicht ändert - entspannt, gelassen, erhaben aller Anfechtungen und ohne vordergründigen Triumph. In Anlehnung an Mozart könnte man von einem Jupiter-Konzert sprechen. Bravo!

Gustav Mahlers Symphonien fehlen ebenfalls im Konzertplan, insbesondere die überwältigende Zweite (zuletzt von Kazushi Ono vor über 17(!) Jahren als Abschiedskonzert dirigiert), die monumentale Dritte (von Anthony Bramall kurz darauf in seinem allerersten Konzert als GMD dirigiert) oder auch die imposante Fünfte, aus der gestern das berühmte Adagietto erklang. Angeblich eine Liebeserklärung, gesetzt für Streicher und Harfe, von manchen Dirigenten als fragil, wehmütig und fast qualvoll langsam dirigiert (als sehnsüchtige Elegie taugt das Andante aus Mahlers 6. Symphonie besser). GMD Georg Fritzsch interpretierte den langsamen Satz fließend, nicht qualvoll, auch weniger entrückt, eher schwärmend und sehnend. Dazu paßten seine Tempi, Mahler bezeichnete das Adagietto als "sehr langsam", Claudio Abbado benötigte 9 Minuten, Leonard Bernstein hingegen über 11 Minuten, Karajan sogar fast 12, Fritzsch keine 10. Minuten weniger auf eine Kurzstrecke - das ist schon ein bemerkbarer Interpretationsunterschied, doch wie man "sehr langsam" interpretiert, hängt auch von dem ab, was zuvor war und was danach kommt. GMD Fritzsch kündigte an, Mahlers komplette 5. Symphonie in den kommenden (nach Corona-)Jahren im Konzert dem Publikum präsentieren zu wollen.