Mittwoch, 30. November 2016

Stolpersteine Staatstheater, 29.11.2016

Das war es also, das erst von kaum jemand bemerkte und dennoch zum Theatertreffen 2016 in Berlin eingeladene Stück des Badischen Staatstheaters über die Diskriminierung und Entlassung von Theaterangestellten nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933. Stolpersteine Staatstheater beruht auf einer originellen und überfälligen Idee, die leider konventionelle Folgen hat. Das Badische Staatstheater hat seine eigene Geschichte im Dritten Reich untersucht und erzählt wichtige Geschichten auf teilweise arg zähe Weise. Es ist solides Dokumentarttheater! Und kritisch gesprochen: Es ist lediglich gut gemeintes Dokumentartheater. Wie zu befürchten, erfolgte die Einladung nach Berlin nicht aus künstlerischen Gründen, große inszenatorische Spannung oder schauspielerische Glanzleistungen gibt es keine. Inhalt ging hier vor Form. Man ist inhaltlich überraschungsfrei und ohne den Erkenntniswert auf das Hier und Heute zu übertragen, man verharrt in rückwärtsblickender Haltung. Diese Produktion verdankte ihre Nominierung ihrer Berechenbarkeit. Dabei wäre es so einfach gewesen, die damaligen Mechanismen aktuell erneut aufzudecken und den Blick auf die prekäre Situation von Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit zu werfen. Man muß nur in die Türkei oder nach Osteuropa blicken, sogar in Karlsruhe gab es 2015/2016 einen entsprechenden Vorfall. Das Projekt Stolpersteine Karlsruhe wäre dann grandios und überragend auf der Höhe der Zeit gewesen, wenn es nicht nur zeigen würde, wie nach 1933 sozialer Ausschluß und Berufsverbote funktionierten, wie man Karrierechancen an Gleichschaltung knüpfte und Ausgrenzung legitimierte, sondern wie man auch noch heute Doppelmoral und Opportunismus pflegt. Leider fehlte dazu der Mut oder der Weitblick, das Badische Staatstheater gibt sich in Stolpersteine Staatstheater alle Mühe, die aktuellen politischen Geschehnisse zu ignorieren.

Worum geht es?
Um individuelle Schicksale aus den Archiven, um wahre Geschichte von Opfern in der Zeit nach der NS-Machtergreifung. Man hat sich vier exemplarische Fälle ausgesucht, vier Mitarbeiter des Karlsruher Theaters, die Wege der Sängerin Lilly Jank (sie starb im KZ), des Schauspielers Paul Gemmecke (er beging Selbstmord), der Souffleuse Emma Grandeit (sie überlebte das KZ) und des Schauspielers Hermann Brand (er emigrierte in die Schweiz) werden rekonstruiert. Man sichtet "Bewerbungsschreiben, Arbeitsverträge, geschäftliche und private Briefwechsel werden montiert mit Zeitungsartikeln, Kritiken, Leserbriefen und programmatischen Schriften der Reichstheaterkammer, die einen Eindruck vom bedrohlichen politischen Klima, aber auch vom Fortgang einer erschreckenden Normalität geben. Erinnerungen, Zeitzeugenberichten und persönlichen Gedanken der Darsteller werden ebenfalls Raum gegeben. An anderer Stelle werden bekannte Theatertexte rezitiert und Lieder gesungen. Helden der Theatergeschichte, als welche die vertriebenen Künstler auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs zu sehen waren, werden aufgerufen; Couplets beliebter Operetten, die unter den Nazis als „entartet“ verschrien und vom Spielplan genommen wurden, erklingen." Der Regisseur und sein Team "lassen die Dokumente für sich selbst sprechen – in all ihrer Schonungslosigkeit, ihrer bürokratischen Indifferenz und mitunter unfreiwilligen Komik."
Aussagen von Zeitzeugen gibt es nur eine, am Schluß. Man erfährt nicht, wie die nicht betroffenen Kollegen die Vorfälle am Theater wahrnahmen. Die Gleichschaltung der Bühnen in der NS-Diktatur machte aus vielen hilflose Bücklinge, die in einem Netz der Angst gefangen waren und teilweise erschrocken, teilweise erfreut zuschauen mußten oder konnten, wie andere zur Beute von bösartigen, hungrigen Raubtieren wurden. Und manche konnten den Zufall nutzen und durch die Vakanzen schneller Fuß fassen.

Nebengeschichte: Drei legendäre Dirigenten in Karlsruhe
Der damalige Karlsruher Musikdirektor Josef Krips hatte den jungen Dirigenten Georg Solti nach Karlsruhe verpflichtet, wenige Tage nachdem er 1933 seinen Posten antrat, bekam er die Kündigung. Auch Krips mußte gehen. Ein junger Solorepetitor mußte als Dirigent einspringen: Josef Keilberth profitierte von der Säuberungswelle und startete seine Karriere. Von allen dreien kann man heute noch CDs mit Aufnahmen erhalten.
Josef Krips zitierte 1927 ein prophetisches Motto aus den Meistersingern, das zur Intendanz von Peter Spuhler passt:

   

Perspektivwechsel: Hexenjagd und Gleichschaltungsversuche findet man auch heute wieder in Karlsruhe
Niemand dürfte heute noch von der Perfidie der NS-Methoden überrascht sein, die personelle Aussortierung ist für autoritäre Systeme immer noch elementar. Die Gleichschaltungen in der früheren DDR bzw. den Ländern des damaligen Ostblocks oder auch die Versuche der USA mit dem Komitee für unamerikanische Umtriebe in der McCarthy-Ära sind in der Nachfolge zu sehen. Doch prinzipielle Ähnlichkeiten treten auch heute mehr oder weniger offen immer noch ins Auge. In Europa und der Türkei kann man beobachten, wie Medien und Presse unter Druck geraten, Säuberungsaktionen stattfinden und korrumpierende Oligarchien Einfluß nehmen. Wer nicht wegschauen will, entdeckt übrigens in Karlsruhe eine häßliche Parallele. Dr. Marc Jongen ist ein langjähriger akademischer Mitarbeiter für Philosophie und Ästhetik der Karlsruher Hochschule für Gestaltung (HfG) und sah sich 2015/2016 plötzlich mit der öffentlichen Forderung konfrontiert, man solle ihn aus dem Lehrdienst entfernen oder marginalisieren, obwohl kein Fehlverhalten vorlag. Was war passiert? Der Mann ist Mitglied einer inzwischen neu im Landtag vertretenen Partei. Diese Partei, so kontrovers sie auch einer Mehrheit erscheint, ist als verfassungskonform eingestuft und nicht verboten, der Hochschuldozent trennt strikt zwischen privater Meinung und seinen Äußerungen und Arbeit als Dozent für Philosophie im Rahmen seiner Seminare und Tätigkeiten, eine Indoktrinierung liegt nicht vor (und spräche vor allem für ziemlich naive Studenten). Die Hochschule bescheinigte Jongen auch gegenüber der Presse, daß keine Beschwerden gegen seine Arbeit vorliegen. Herr Jongen achtet die Gesetzte der Bundesrepublik, wieso also sollten die Gesetzte nicht ihn achten?

Manche politische Gegner sahen das anders und versuchten eine Debatte anzustoßen, bei der man den Eindruck gewinnen konnte, daß die autoritäre Demokratie mit Hang zum Totalitarismus nach osteuropäischen oder Erdogan-türkischem Vorbild auch in Deutschland Anhänger findet. In einem offenen Brief an das Rektorat wurde gefordert, man solle Jongen als Herausgeber der hochschuleigenen Schriftenreihe absetzen. Eine Denunzierung in Briefform, bei der es nicht viel Phantasie braucht, um es in ein schikanierendes Schriftstück aus der NS-Zeit zu transkribieren. Ein Prorektor der Hochschule erwies sich dann zum Glück als Demokrat: "Es macht ein Mitarbeiter unseres Hauses von seinem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch. So, das ist das Kernfaktum. Und daran nehmen Leute Anstoß. Da kann ich sagen: das ist der Skandal!"

Der Protest der Anständigen war zu leise, auch politische Gegner und Journalisten mahnten zwar, den Politiker vom Hochschullehrer zu unterscheiden, doch auch in der Bundesrepublik bekämpft man Menschen im Berufsleben, wenn man ihre Stellung nicht akzeptieren will. Die Parallelen sind frappant: ein Jude als Herausgeber einer wissenschaftlichen Buchreihe war im 3. Reich unmöglich, Herr Jongen wurde vom Rektor Zielinski als Herausgeber der Schriftenreihe „HfG Forschung“ seines Amts enthoben und in allen leitungsrelevanten Tätigkeiten durch Kollegen ersetzt. Eine Entlassung verhindern die Gesetze, seine Funktionen wurden ihm aus politischen Gründen (nicht wegen seiner Leistung oder seinem Verhalten) genommen - eine Maßregelung als Bestrafung aufgrund seiner privaten politischen Haltung und pauschale Einordnung als Bedrohung unter den Gesichtspunkten der Feindeslogik. Die Meinungsfreiheit blieb auf der Strecke. Die Begründung des HfG-Rektors mußte sich winden, um den eigenen Anspruch auszuhebeln: Um die Meinungsfreiheit zu schützen, müsse die Meinungsfreiheit eingeschränkt werden. Wer eine unbequeme Haltung hat, darf von nun an anscheinend wieder beruflich aussortiert werden? Das wirkt im zweiten Blick wie ein Aufruf zur Denunziation. Man legitimiert erneut eine manichäische Weltanschauung, eine Zweiklassengesellschaft, in der die selbsternannten Bürger erster Klasse in Notwehr ihre Gegner diskriminieren dürfen. Tatsächlich steht man hier vor den Scherben einer Selbstherrlichkeit, die der Bezug zur Realität abhanden gekommen ist. Eine demokratische Selbstaufgabe aus moralischer Rechthaberei und Überlegenheitspose, die bestrafen will.

Denunziantentum und einschüchternde Unterdrückungsmechanismen -Regisseur Kroesinger nannte das in einem Interview den "langsamen Prozess der Entwürdigung"- gehören also noch heute zur politischen Wirklichkeit, selbst in der Bundesrepublik. Die Verrohung und Rückwärtsentwicklung der Sitten wird kaum noch wahrgenommen. Der Fall Jongen wirkt wie eine Farce mit brisantem Beigeschmack: Diejenigen werden zu Wegbereitern eines neuen Totalitarismus, die sich am lautesten damit brüsten, zum Hort lupenreiner Demokraten zu gehören. Die Hexenjagd nach Vorbild McCarthy ist für sie nur dann schlimm, wenn es nicht die eigene Couleur trifft. Jeder konstruiert sich seine Doppelmoral, wie sie ihm gerade paßt. Die Fähigkeit zur demokratischen Überparteilichkeit geht da verloren, wo sie bewahrt werden sollte: wer Meinungsfreiheit unterbinden will, hat den ersten Schritt zum autoritären Staat getan. Damals wie heute schauen zu viele lieber weg und meinen, daß es schon die Richtigen treffe. Man sollte sich hier aber nichts vormachen: wer heute seine Maßstäbe relativiert und wegschaut, hätte das vor 80 Jahren erst recht getan.
 
Was ist zu sehen?
Es gibt keine Bühne, die Zuschauer sitzen auf sehr unbequemen Hockern (Tipp: besser auf die wenigen Stühle setzen) an Tischen, an denen auch die Schauspieler agieren. Auf den Tischen liegen später Kopien der Akten aus dem Badischen Landesarchiv. Die Schauspieler lesen Dokumente, Briefwechsel und Erinnerungen vor. Dabei gibt es zähe Momente, die bürokratischen Texte sind nicht für die Bühne geschrieben und bestehen auch aus formaljuristischen Einlassungen, die alle persönlichen Belange hinter der offiziellen Abwicklung verbergen. Das Bemühen der Betroffenen prallt auf eine undurchdringliche Vorschriftswand. Der Abend setzt nicht auf Drama und Pathos, Existenzen werden abgefertigt. Hannah Arendts Ausdruck der Banalität des Bösen findet sich hier wieder. Man verfolgt die akribisch recherchierten Aktenanalysen als Variationen auf ein Thema - eine gewisse Ermüdungstendenz läßt sich nicht verschweigen.
Interessanterweise mißlingt die Bühnenkonstellation, man sitzt am gleichen Tisch, eine klassische Bühne hätte den Unterschied produziert, daß man alles besser sehen könnte, die Projektionen auf Leinwänden sind oft nur Schemen am Rande des Blickfeld der Zuschauer.
Trotz der inhaltlich wichtigen Themenidee wirkt die Umsetzung nüchtern, geschäftsmäßig, immer wieder etwas sich zäh in Länge ziehend. Die vier souveränen Schauspieler haben kaum Spielraum: Veronika Bachfischer, Antonia Mohr, Jonathan Bruckmeier und Gunnar Schmidt - das gemeinsame Aktenwälzen erfordert keine außergewöhnlichen Leistungen, man liest aber sehr gut vor. Es ist deutlich nicht die künstlerische Form, sondern die inhaltliche Beschäftigung, die dominiert und wie zu erwarten mit zwei Stunden Spieldauer mindesten 25% zu lange ist.
Die Gegenwart wird von der Inszenierung ignoriert, keine Geschichte aus dem hier und heute wird erzählt, keine Parallelen aufgedeckt, die Schauspieler dürfen noch persönlich wirkende Einlassungen von sich geben, die durch ihre Schlichtheit überraschen. Die Ambition "politisches Theater" erweist sich erneut als Etikett ohne Substanz.

Fazit: Eine sehr gute und überfällige Idee, sehr gut recherchiert, doch ohne die zündende Idee und den erforderlichen Brückenschlag über die Zeiten ins heute. Die Botschaft hätte angesichts der zunehmenden Gleichschaltungstendenzen viel deutlicher ausfallen müssen. Schade, daß das Karlsruher Schauspiel die Hürde des politischen Theaters nicht nimmt. Stolpersteine Staatstheater wäre nur dann gelungen und bemerkenswert gewesen, wenn es stringenter und kurzweiliger gewesen wäre und die heutigen Parallelen tiefer verfolgt und aufgedeckt hätte, wie man Gegner beruflich benachteiligt oder sie aus Amt und Funktion verdrängt. So ist es leichtfertig oberflächenversiegelt - eine Selbstzähmung, die harmlos genug für eine Einladung nach Berlin war.

PS: Es ist bedauerlich, welchen geringen Stellenwert Meinungsfreiheit besitzt, wer würde eine Maxime wie der von Rosa Luxemburg heute noch zustimmen: "Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden."  oder auch "Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt." Von dem Voltaire zugeschriebenen heroischen Wert der Meinungsfreiheit "Ich lehne ab, was Sie sagen, aber ich werde bis auf den Tod Ihr Recht verteidigen, es zu sagen.", soll gar nicht erst die Rede sein.

Team und Besetzung:
Schauspieler: Veronika Bachfischer, Antonia Mohr, Jonathan Bruckmeier, Gunnar Schmidt.
Dokumentartheater von Hans-Werner Kroesinger, Textfassung Regine Dura

Regie: Hans-Werner Kroesinger
Bühne/Kostüme/Video: Rob Moonen
Musik: Daniel Dorsch