Samstag, 21. März 2015

Tschechow - Drei Schwestern, 20.03.2015

Die neue Karlsruher Inszenierung von Tschechows Drei Schwestern ist leicht angreifbar: die Regisseurin zeigt eine eigenwillige und individuelle Auffassung, die einige ungeschützte Angriffsflächen für schnelle und harte Kritik zulässt. Tatsächlich ist es aber für das Karlsruher Schauspiel vielleicht sogar die bemerkenswerteste Inszenierung der letzten Jahre, bei der gleich mehrere Kunststücke gelingen: durchweg hochklassige Schauspielerleistungen in allen Rollen und eine ansteckende Spielfreude des Ensembles, eine interessante und spannende Regie, bei der man stets wissen will, wie es weiter geht, eine überbordende Phantasie mit vielen guten Einfällen, viel Spaß und Humor und eine stimmige Tschechow'sche Atmosphäre in vierfacher Ausführung - denn jeder der vier Akte ist auf unterschiedliche Weise in Szene gesetzt und man kann sich danach überlegen, in welcher der vier Fassung man sich im eigenen Kopfkino die ganzen Drei Schwestern vorstellen möchte.

Worum geht es?
Die Familie Prosorow - das sind nach dem Tod der Eltern die erwachsenen Kinder Andrej und seine drei Schwestern Olga, Mascha und Irina. Vor elf Jahren war man aus Moskau in eine kleine, langweilige Garnisonsstadt gezogen, in der der Vater als Brigadegeneral tätig wurde. Die Sehnsucht nach einer Rückkehr in die große Heimatstadt ist nie verschwunden.
Olga hat keinen Mann gefunden und unterrichtet als Lehrerin am Gymnasium; sie träumt von einem Leben als Ehefrau.
Mascha hat mehr aus Verzweiflung denn aus Liebe den pedantischen Lehrer Kulygin geheiratet, den sie aber verachtet und und mit Werschinin betrügt.
Irina weiß nicht so recht, was sie aus ihrem Leben machen soll und sucht sich einen Job in einem Telegraphenamt, der ihr aber bald schon keine Freude mehr bereitet. Aus Alternativlosikgkeit will auch sie einen ihrer Verehrer heiraten, aber dieser Plan zerschlägt sich grausam.
Andrej verzichtet auf eine Karriere und nimmt seiner Verlobten und späteren Frau Natascha zuliebe einen unbedeutenden Job an. Er wird depressiv, trinkt und spielt und kann sich in seiner Ehe nicht behaupten. Seine Prolo-Gattin Natascha übernimmt nach und nach das Haus der Prosorows und macht es zu ihrem Zuhause.

Vier Akte gibt es, die in größeren Zeitabständen spielen. Ca. 20 Monate liegen zwischen dem 1., 2. und 3. Akt, der 4. spielt Wochen nach dem 3.
Es passiert viel und doch wenig in diesem Stück. Vieles erahnt man, vieles wird nur angedeutet, nicht alles wird ausgesprochen. Als Zuschauer beobachtet man unglückliche Menschen, die zu lethargisch auf ihr Glück warten, falsch lieben, falsch hoffen, falsch werten und falsch handeln. Olga lebt in der Vergangenheit, Irina in der Zukuft, nur Mascha hat durch eine kurze Affäre eine glückliche Gegenwart. Doch auch sie bleibt ohne Perspektive zurück. Die Geschwister sind Gefangene ihrer eigenen Unverständigkeit: die Kluft zwischen der Realität und der Wunschwelt wächst und die Möglichkeiten, dem entgegen zu wirken, entgleiten ihnen.

Beziehungsgeflecht




Was ist zu sehen (1)?
Die Pointe dieser Inszenierung besteht darin, daß die Akte in umgekehrter Reihenfolge gespielt werden - man beginnt mit dem 4. Akt und endet mit dem 1., eine Art filmisch inspirierte Rückschau vom bedrückend endenden letzten Akt auf die Geschehnisse zuvor, bis ein heiterer und gut gelaunter erster Akt den Abend beschließt. Dazu kommt eine weitere Besonderheit: jeder Akt spielt in einer anderen Epoche, für jeden wurde eine andere Übersetzung gewählt, in jedem dominiert eine andere Spielweise. Dabei liefert die Regie einen Beweis für die Großartigkeit von Tschechows Werken: sogar rückwärts gespielt sind sie spannend!

Was ist zu sehen (2)?
Regisseurin Anna Bergmann gelingt es, jeder Figur einen Charakter zu geben, und das in vier unterschiedlichen Akt-Inszenierungen. Sie ermöglicht den Schauspielern wunderbare Rolleninterpretationen, die diese mit hoher Spielfreude und Engagement dem Publikum vermitteln. Alle -wirklich alle- Schauspieler glänzen in dieser Inszenierung. Man kann dabei eigentlich niemand hervorheben, aber ein besonders herzliches Danke geht hier an Joanna Kitzl, Cornelia Gröschel und Sophia Löffler sowie Jannek Petri, Jan Andreesen, Maximilian Grünewald und Frank Wiegard!

Was ist zu sehen (3)?
Tschechows Ehefrau Olga Knipper war auch eine berühmte Schauspielerin, die über Jahrzehnte Tschechows Rollen verinnerlichte und  folgenden Hinweis für authentischen Tschechow gab: "Man muß Tschechow lieben, sich in ihn hineindenken, in die Atmosphäre bestimmter Gesellschaftsschichten eintauchen. Man muß die Menschen lieben, so wie Tschechow und das Leben der Menschen leben, die er geschaffen hat."
Es sind wirklich nicht die erschütterndsten und dramatischsten Drei Schwestern, die man in Karlsruhe sieht, die Verzweiflung wird einigen zu verborgen sein. Doch bei allem Klamauk und Unsinn, der gestern auf der Bühne war und den einige bestimmt als ein Zuviel empfanden - die Sympathie zu Tschechows Figuren ist hier immer vorhanden, wenn man sich darauf einlässt.

Fazit (1): BRAVO und Glückwunsch an alle Beteiligten! Ich hoffe, diese anregenden und kurzweiligen  Drei Schwestern noch oft und öfters besuchen und beobachten zu können.

Fazit (2): Der Leistungspfeil am Karlsruher Schauspiel weist in dieser Saison bisher nach oben. Dabei ist man nun noch durchaus sehr heterogen: Nicht alles ist Gold, was glänzt, manche Perlen sind hingegen versteckt, immer wieder gibt es auch Blech, aber es ist nun ein Mehrwert zu spüren. Vor allem in der Dramaturgie ist man deutlich stärker geworden: einfallsreicher und doppelbödiger.  Es scheint als würde man langsam das erforderliche Level erreichen, bei dem die Freude am Theater in Karlsruhe wieder beginnen kann.
 
PS:
Man verwendet für jeden Akt unterschiedliche Übersetzungen, und zwar von August Scholz (4. Akt), Peter Urban (3. Akt), Gudrun Düwel (2. Akt) und Barbara Lehmann (1. Akt)
   
PS: Die letzten beiden Karlsruher Inszenierungen der Drei Schwestern waren Chefsache: die Schauspieldirektoren selber führten Regie (Schauspielerinnen der drei Schwestern in der Klammer)
1987 István Bödy (Heidelore Kress - Sylvia Wempner - Regina Kassim)
2000 Peter Hatházy (Bettina Franke - Kathrin Busch - Nikola Norgauer)
(beide in der Übersetzung von Andrea Clemens)

 
Besetzung & Team:
Andrej Sergejewitsch Prosorow: Thomas Halle
Olga: Ute Baggeröhr
Mascha: Joanna Kitzl
Irina: Cornelia Gröschel
Natascha: Sophia Löffler
Fedor Iljitsch Kulygin: Frank Wiegard
Alexander Ignatjewitsch Werschinin: Jannek Petri
Iwan Romanowitsch Tschebutykin: Klaus Cofalka-Adami
Baron Tusenbach: Jan Andreesen
Soljony: Maximilian Grünewald
Fedodik: Jonathan Bruckmeier
Anfissa: Eva Derleder
Ferapont: Ronald Funke
Pioniere: Kantorei und Chorschule an der Lutherkirche (Lutherana)

Regie: Anna Bergmann
Bühne: Janina Audick
Kostüme: Lane Schäfer
Musik: Heiko Schnurpel
Video: Sacha Benedetti

2 Kommentare:

  1. @Christina
    Von meiner Seite sind diese 3 Schwestern eine klare Empfehlung ... allerdings mit folgenden Einschränkungen:

    Ich kannte das Stück zuvor schon gut und konnte Personen und Handlungsstränge klar identifizieren. Es könnte verwirrend sein, wenn man das Stück nicht kennt. Nach meiner Meinung findet man sich aber schnell zurecht. Ich kann allerdings nicht sagen, ob das jetzt ein geeigneter Einsteiger-Tschechow ist oder nicht.

    Ich befürchtete während der Vorstellung gelegentlich, daß die Inszenierung nun abstürze, doch die Regie bekam für meinen Geschmack immer wieder die Kurve, Das Gleichgewicht von Inhalt und Form bekam ab und zu starke Schlagseite und schlingerte, es kenterte aber nicht - ein heikler, aber heiterer Balanceakt.

    Es gibt aber schon einige Dinge, die je nach Standpunkt läppisch und banal erscheinen werden. Das dritte Bild ist alberner Klamauk - aber für mich hat Tschechow viel Komik, deshalb finde ich das stimmig.
    Auch eine minutenlange Nacktszene ist vorhanden. Die ist wie jede Nacktszene überflüssig und viele Tschechow-Fans mit Feingefühl werden das als grobe Geschmacklosigkeit sehen.

    Sie sehen, über vieles kann man sich bei dieser Inszenierung aufregen. Es gab für mich genug positive Argumente:
    Die Schauspieler sind großartig und mit vollem Engagement dabei und ich habe mich nie gelangweilt - ich wollte immer wissen, wie es sich weiterentwickelt.



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  2. @anonym
    Ich kann mir sehr gut vorstellen, daß es auch einige Leute gibt, die diese Interpretation nicht mögen.
    Aber es handelt sich nur um Theater! Ich sehe keinen Grund, warum Sie Mitarbeiter des BaSta dafür persönlich angreifen. Hätten Sie auf gewisse Adjektive verzichtet, hätte ich Ihren interessanten Kommentar gerne veröffentlicht.

    Ich stimme Ihnen zu: Es gibt schwach motivierte Stellen, die nicht direkt zum Stück beitragen, sondern nur zur Grundstimmung des Abends. Es gibt albernen Humor und platten Unfug. einen nackten Thomas Halle und eine entblößte weibliche Brust. Dann noch rückwärts gespielt mit fortschreitendem Epochenwechsel – das scheint vordergründig keinen Sinn zu machen.

    Lassen sich mich deutlicher werden: Es gibt nun sicher einige Entrüstungsmenschen, die solche Vorbehalte vorbringen: wie „Er ist ja nackt" oder „Die Reihenfolge stimmt nicht“. Worauf alle jene, die eine Inszenierung mehr als Kunstwerk betrachten, antworten "Oh, darauf habe ich gar nicht geachtet“. Die Art zu sehen, trennt diese beiden durch Welten. Ich kann mich mit solchen Einzelheiten also abfinden, wenn ich die Haltung der Regie zum Stück überzeugend finde.

    Ich hatte 2012 bei Tschechows Möwe ein ähnliches Erlebnis wie Sie. Ich nannte es „Theater zum Abgewöhnen“, da man daraus ein langweiliges „Psycho-Horror-Drama einer kaputten Mutter-Sohn Beziehung mit Figuren aus dem psychologischen Kuriostätenkabinett“ machte, die mir komplett substanzlos vorkam und keinen künstlerischen Mehrwert hatte. Es gab auch keine originellen Einfälle – nur Vordergrund, keinen Hintergrund. Vor allem die Schauspieler langweilten mich – keine Figur interessierte mich. Eine Figur war stets doppelt auf der Bühne – aber die Unterscheidung wirkte nicht. Der Regisseur hatte keine überzeugende Haltung und diffamierte alle Figuren.

    Hier ist das nun anders: es gibt wunderbare Schauspielleistungen und mehr Einfälle, als man bei einem Besuch wahrnehmen kann. Der Hintergrund ist lebendig – ich wußte kaum, wen ich beobachten sollte. Die Haltung von Frau Bergmann ist für mich originell und künstlerisch, denn sie schafft vier verschiedene Stimmungen, die mich überraschten, die ich aber nachempfinden konnte.

    Es war also leider nicht Ihr Tschechow. Ich habe Tschechows gesammelte Werke aufgrund jahrzehntelanger Zuneigung an prominenter Stelle in meinem Bücherschrank – für mich hingegen war die Premiere ein großer Tschechow-Abend! Sie können diese Inszenierung abhaken, ich sie noch öfters besuchen. Es wird auch wieder anders kommen ….

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