Freitag, 5. Juni 2015

Camus - Das Mißverständnis / Lotz - Die lächerliche Finsternis, 04.06.2015

Großes Theater! Zwei interessante Gastspiele an einem Abend - Graz und Wiesbaden, ein schon klassischer, etwas über 70 Jahre alter Text in einer ungewöhnlichen und spannenden Inszenierung mit lebensgroßen Puppen und etwas Neues, Zeitbezogenes mit wahrscheinlich kurzer Bühnen-Halbwertszeit in einer ebenfalls überzeugenden und einfallsreichen Inszenierung.
Spannend bei dieser Gegenüberstellung an einem Abend ist die Herangehensweise der Autoren, die spontan folgende Vergleichsmöglichkeiten aufwerfen können: beide Stücke sind Reisen in eine triste Welt, beide enden mit einem Mord, Camus' 1944 uraufgeführter Text ist eine Geschichte über Sinnlosigkeit als Tragödie, Lotz' 2014 uraufgeführter Text hingegen ist eine sinnlose Geschichte als Groteske. Bei Camus ist das Sein absurd, bei Lotz das Handeln, Camus ist Humanist, Lotz ist Moralist.

Albert Camus - Das Mißverständnis  
Camus' Geschichte handelt von der anonymen Rückkehr des 20 Jahre verloren geglaubten Sohns nach Hause zu Mutter und Schwester in deren Gasthof, die ihn als Gast jedoch nicht erkennen und aus Gier töten und ausrauben, um selber aus ihrem Leben auszubrechen und sich dabei einreden, daß sie human und schmerzlos töten: „Mord heißt, der Natur geringfügig vorzugreifen.
Regisseur Nikolaus Habjan kündigte vorab an: „Es wird sehr düster werden, sehr heftig. Mutter und Tochter ermorden ja Gäste in ihrem Hotel und rauben sie aus. Unter anderem den eigenen Sohn. Die große Frage ist: Wussten sie wirklich nicht, dass er es ist?“  Die Grazer Umsetzung ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert: für die drei Familienmitglieder benutzen die Schauspieler lebensgroße Torsos, die sie als Puppe vor sich her tragen und denen sie doppelt Leben einhauchen: durch eine filigrane Spielweise, die das innerlich verhärtete, vergrämte der Figuren unmißverständlich hervortreten lässt und durch eine sprachlich exakte und virtuose Artikulation, die dem Text Tiefe verleiht. Die drei Schauspieler sind großartig, vor allem Regisseur und Schauspieler Nikolaus Habjan (Martha) und Seyneb Saleh (Mutter), die so eindringlich und intensiv spielen, daß man hier wirklich eine existentialistische Tragödie zu sehen bekommt und nicht nur einen spannenden Krimi. Das schiefe Bühnenbild mit Rezeption und Treppe, Kunstnebel, dunkler Bühne und immer wieder Musik Gustav Mahlers verstärkt den atmosphärischen Eindruck. Habjan wird nächste Spielzeit in Karlsruhe inszenieren und zu einem Gastspiel kommen - es wird spannend zu sehen, was dieses Multitalent hier auf die Bühne bringen wird

Schauspielhaus Graz
Schauspieler:
Nikolaus Habjan: Martha
Florian Köhler: Jan
Seyneb Saleh: Mutter / Maria

INSZENIERUNG: Nikolaus Habjan
BÜHNE: Jakob Brossmann
KOSTÜME: Denise Heschl


Wolfram Lotz - Die lächerliche Finsternis
Nachdem Die lächerliche Finsternis 2014 in Wien uraufgeführt wurde (in 3sat konnte man im Mai die Wiener Produktion im Rahmen des Berliner Theatertreffens sehen), folgten schnell vier weitere Theater, die diesen Text  ebenfalls inszenierten: Berlin, Hamburg, Essen und Wiesbaden, wo die junge Regisseurin Felicitas Braun am Hessischen Staatstheater viele gute Ideen hatten und ein kurzweilige Reise in die Finsternis inszenierte.
Lotz Inspiration war der Hamburger Prozess gegen somalische Piraten: "Wie schreibe ich über diese Leute, ihre Situation, ihr Empfinden, ihre Lage, auch wenn ich nicht darüber schreiben kann, weil ich nichts weiß". Lotz' Kritikpunkt ist, "dass wir als Gesellschaft an Orten handeln, militärisch und ökonomisch, obwohl wir davon nur selbstgemachte Bilder haben bzw. erhalten, die uns die dortige Realität und also die Ausmaße unseres Handelns nicht wirklich zeigen. Durch diese Differenz entsteht sehr viel Leid, ganz konkret. Dieser Differenz müssen wir uns bewusst sein, gerade um halbwegs verantwortlich handeln zu können!"

Autor Lotz' Stück über einen somalischen Piraten, (ein kurzer Handlungsstrang zu Beginn, der schnell beiseite geschoben -oder hier eurozentristisch weggetragen- wird) und zwei Bundeswehr Soldaten, die in einem Patrouillenboot auf dem imaginären Fluß Hindukusch in die Regenwälder Afghanistans vordringen, um einen durchgedrehten Kameraden zur Strecke zu bringen (Joseph Conrads Herz der Finsternis und Francis Ford Coppolas Apocalyspe Now lassen grüßen) beschreibt eine Situation, die zeigen soll, wie wenig man über die Menschen und Länder weiß, in denen auch der Westen Krieg führt. Text und Inszenierung sind durch Verfremdungen und Konflikte mit der Wirklichkeit geprägt. Der somalische Pirat ist eine Frau in Stöckelschuhen, seltsame Figuren erscheinen und erzählen ihre Geschichten, der Autor tritt als Figur selber auf und wird von einer seiner Figuren angefleht, nicht sterben zu müssen. Realität und Fiktion, Geist und Leben - sie sind unversöhnbar, keines verwirklicht sich im anderen und die Wirklichkeit ist eine Ansammlung von Absurditäten. Wie hilft man richtig, wie handelt man richtig? Wie man es auch macht, geschehen Fehler mit schwerwiegenden Konsequenzen unbekannten Ausmaßes. Nicht zu handeln ist unverantwortlich, wer handelt macht sich schuldig - ein Konflikt, den die politischen Parteien bis zur Ermüdung und Politikverdrossenheit ausreizen. Bestes Beispiel für eine Tragödie, doch Lotz entschied sich für eine Groteske. Skurril, teilweise bizarr und nicht immer plausibel - das scheint für einige zeitgenössische Autoren der angemessene Zugriff zur Beschreibung der Gegenwart zu sein (Nis-Momme Stockmann hatte ja gerade erst Premiere in Karlsruhe). Beide, Lotz und Stockmann, ringen um die beste Form für ein heutiges Lebensgefühl und überzeugen durch die sprachliche Qualität ihrer Texte und ihre Phantasie. Vielleicht sollte man sich von beiden wünschen, sich von ihren Stereotypen zu verabschieden und noch stärker an der Individualität jeder Szene, jeder Figur und jeder Haltung zu feilen und weniger moralistisch zu denken.
Ein spannender Text, gute Schauspieler, eine sehr gelungene und fast durchweg schlüssige Inszenierung - Bravo!

Hessisches Staatstheater Wiesbaden
Schauspieler: 
Kruna Savić: Michael Ultimo Pussi / Eingeborene / Autor / Tofdau
Christian Erdt: Hauptfeldwebel Pellner
Ulrich Rechenbach: Stefan Dorsch
Benjamin Krämer-Jenster: Lodetti / Bojan Stojković / Reverend Carter / Deutinger
 
INSZENIERUNG: Felicitas Braun
BÜHNE & KOSTÜME: Sonja Böhm
VIDEO: Moritz Grewenig