Montag, 12. Februar 2024

Oper Straßburg: Porpora - Polifemo, 11.02.2024

Die Arie Alto Giove aus Nicola Porporas Oper Polifemo ist schon seit Jahrzehnten ein viel eingespieltes Bravourstück für Barocksänger. 1994 wurde sie im Film Farinelli des belgischen Regisseurs Gérard Corbiau verwendet (damals gesungen von Dereck Lee Ragin), der die Kastraten als Pop-Stars der damaligen Epoche zurück ins Bewußtsein des Publikums brachte. So bekannt und oft gehört die Arie ist, so unbekannt blieb die Oper: die deutsche Erstaufführung erfolgte erst 2013 in Schwetzingen (mehr hier) und an der Opéra du Rhin ist aktuell die  spannend besetzte französische Erstaufführung zu hören, bei der Franco Fagioli die einst von Farinelli gesungene Rolle des Aci übernimmt. Und auch 18 Jahre nach Fagiolis erstem Auftritt bei den Karlsruher Händel Festspielen ist es ein Erlebnis, dem argentinischen Countertenor zuzuhören.

Historisches
1733 kam Nicola Porpora (*1686 †1768) nach London, wo er die künstlerische Leitung der Opera of the Nobility übernahm, die in direkter Konkurrenz zu Georg Friedrich Händel (*1685 †1759) stand. Händel wurde vom deutschstämmigen britischen Monarchen Georg II. unterstützt, Porpora vom Kronprinzen Friedrich Ludwig, der zu seinem Vater ein sehr schlechtes Verhältnis pflegte. Porpora gelang es, Sänger aus Händels Ensemble abzuwerben und zusätzlich den Star-Kastraten Farinelli zu engagieren. Händel konterte mit Einfallsreichtum. Der Beginn des Jahres 1735 in London war aus heutiger Sicht ein Operngroßereignis. Am 1. Februar 1735 wurde Polifemo uraufgeführt, am 8. Januar 1735 erlebte Händels Ariodante seine Uraufführung, am 16. April 1735 dann Alcina - zwei der beliebtesten Opern des Repertoire. Als Ersatz für Senesino sang Carestini, Anna Maria Strada übernahm die weiblichen Hauptrollen in Händels Opern anstelle der bei Porpora singenden Francesca Cuzzoni. Der Wettbewerb zwischen den beiden Operngesellschaften war für beide ruinös, zudem änderte sich der Publikumsgeschmack. Porpora verließ London, Händel blieb, komponierte noch acht weitere Opern in den folgenden sechs Jahren und widmete sich dann der Komposition von Oratorien. Im Sommer 1741 (im Januar 1741 kam Händels 42. und letzte Oper Deidamia zur Aufführung) komponierte er den Messias und dann bis 1752 14 weitere neue Oratorien.

Worum geht es und was ist zu sehen? 
Ovids Metamorphosen und Homers Odyssee erleben in dieser Oper einen Mythenmix. Der menschenfressende Zyklop Polifemo ist in die Nymphe Galatea verliebt, doch Nymphen neigen dazu, Menschen zu lieben: Galatea und der Schafhirte Aci sind ein Paar. Polifemo tötet aus Eifersucht Aci. 
Odysseus (Ulisse) - auf Irrfahrt seit er von Troja versucht nach Ithaka zu kommen - landet auf der Insel und wird mit seiner Mannschaft vom einäugigen Zyklopen gefangen genommen. Ulisse erhält Unterstützung von der Nymphe Calipso, die  Gefallen am Helden von Troja gefunden hat. Der listige Ulisse schaltet Polifemo aus, der Zyklop verliert sein Auge. Jupiter erhört Galateas Flehen und verwandelt den toten Aci in einen Unsterblichen, der ihm diese Gunst mit der Arie Alto Giove dankt. Die Liebe wird siegen.

Die Inszenierung versetzt die Handlung in eine Filmkulisse der 1950/60er. Man befindet sich in den Dreharbeiten zu einem Sandalenfilm. Als Inspiration nennt der Regisseur Filme von Ray Harryhausen (bspw. Jason und die Argonauten, Sindbads siebte Reise) Das übergroße gemalte Filmplakat im Stil der damaligen Zeit sieht man zu Beginn. Man sieht bemalte Leinwände und Pappkulissen des Filmdrehs. Aci ist Kulissenmaler im Filmteam, die anderen Figuren Darsteller im Film: Galatea, Calipso und Nerea als Nymphen, ein muskelbepackter Ullisse, der Darsteller des Latexmonsters Polifemo ist auch der Regisseur, der Aci nicht wie im Libretto mit einem Felsen, sondern mit einem Scheinwerfer außer Gefecht setzt. Die Unsterblickeit Acis ist in diesem Zusammenhang nur eine Metapher für sein Überleben und das Liebsglück, während der Regisseur/Polifemo von einem Polizisten abgeführt wird. Das ist mit Augenzwinkern erzählt, das Publikum darf gelegentlich lachen, das Hin und Her bei den Dreharbeiten zwischen Set und Aufnahme sorgt für kurzweilige Unterhaltung. Das ist weder langweilig noch aufregend, sondern harmlos unterhaltsam.

Was ist zu hören?
Porpora war nicht nur Komponist, sondern auch Gesangslehrer, seine Opern gelten als Vokalakrobatik in oftmals dramatisch unverbindlich gestalteten Arien. Seit der Wiederaufnahme von Serse bei den Händel Festspielen 2019 war Franco Fagioli nicht mehr am Badischen Staatstheater zu hören und der kerzenlichtbeleuchtete Riccardo Primo ist auch schon wieder ein Jahrzehnt her (das wunderschöne Duett aus dieser Produktion kann man übrigens hier bei youtube nachhören). Fünf Jahre sind lang genug und Anlaß, ins benachbarte Elsaß zu fahren. Die Rolle des Aci, die bei der Uraufführung von Farinelli gesungen wurde, gilt als besonders herausfordernd hinsichtlich der erforderlichen Technik und des Stimmumfangs. Fagioli meistert das auf seine ganz typische Weise: er brilliert einerseits in den langsamen Arien mit tieferen Passagen, in denen er sich ganz auf seine Ausdrucksfähigkeit verlassen kann: Morirei del partir nel momento im 1. Akt und Alto Giove gelangen grandios. Alto Giove verzauberte mit manchen Passagen, die ganz transzendent schwebend den Pathos der Ehrfurcht vermittelten (aktuell nachzuhören bei Instagram bspw. hier). Bei Dolci, fresche aurette grate fehlte im hingegen der Schmelz, das er 2016 (mehr hier) und zuvor 2012 bei einem Konzert in Karlsruhe (mehr hier) der Arie verleihen konnte (zum Nachhören hier bei youtube). Noch immer singt Fagioli mit langen Atem und virtuos schnellen Vokalisen, auch bei den schwindelerregend gesungenen Koloraturen in trompetenuntermalten Nell'attendere il mio bene (hier Fagiolis Einspielung von 2014 auf seiner CD Il maestro Porpora bei youtube) und Acis letzter Arie, dem schwer zu singenden Senti il fato erwies sich Fagioli immer noch als zuverlässig. Fagioli trennt wie gewohnt hörbar die Register und wechselte von Kopf- zu Bruststimme und erzeugte seine atemberaubenden Koloraturläufe zur Begeisterung des Publikums. Aber leichte Abnutzungserscheinungen (es war die vierte Vorstellung in sieben Tagen) waren bemerkbar: die Stimme war beweglich, aber nicht immer geschmeidig, nicht mehr so voluminös und etwas enger. Das ist Klagen auf hohem Niveau, noch immer zelebriert Fagioli eine Stimmakrobatik wie kaum ein zweiter.
Die zweite Rolle für einen Countertenor ist Ulisse, die für die Tessitura des Senesino komponiert wurde. Paul-Antoine Bénos-Djian zeigt stimmliche Strahlkraft und angedunkeltes Mezzo-Timbre sowie eine starke Bühnenpräsenz - ein Name, den man sich merken sollte und der auch ein Kandidat für ein Engagement bei den Karlsruher Händel Festspielen ist-, seine letzte Arie Quel vasto, quel fiero mit Trompetenbegleitung erklang ungestüm und mitreißend.
Als Galatea singt Madison Nonoa mit beweglicher, runder Stimme, leuchtender Höhe und schönem Timbre. Galateas Klage über Acis Tod Smanie d'affano ist ein Höhepunkt der Oper, der von Nonoa mit Seufzen, lang gehaltenen Tönen und fließenden Koloraturen zelebriert wurde.
Auch Altistin Delphine Galou war bereits bei den Karlsruher Händel Festspielen 2009, und zwar in der ersten historischen Kerzenlichtproduktion des Radamisto. Als Calipso bleibt sie szenisch etwas im Hintergrund,  konnte aber stimmlich ihr dunkelschönes Timbre zur Geltung bringen. Der Polifemo wird von José Coca Loza mit markantem Bass gesungen, die kleine Rolle der Nerea ist mit Alysia Hanshaw sehr gut besetzt. 

Emmanuelle Haïm dirigiert ihr knapp dreißigköpfigen Barock-Ensembles Concert d'Astrée sehr hörenswert mit Sorgfalt für Details. Flöten, Hörner und Oben spielen auf, besonders schön: Acis vierte Arie Nell'attendere il mio bene erklingt mit stürmischer Trompetenuntermalung. Klangfarben und Klangfülle beeindrucken.

Fazit: Früher, als man in beiden Ländern noch kooperierte, hätte man diesen Polifemo als Gastspiel zu den Karlsruher Händel Festspielen eingeladen.  So lohnte sich der Ausflug ins altehrwürdig heruntergekommene Straßburger Operngebäude, um diese Rarität angemessen zu hören.

PS: Die erst kürzlich veröffentlichte erste CD-Einspielung von Polifemo durch Max E. Cencics Label Parnassus erfolgte ohne Fagioli, sondern mit Yuriy Mynenko als Aci, der aktuell den Ottone in Händels Oper in Karlsruhe singt.

Besetzung und Team
Aci: Franco Fagioli
Galatea: Madison Nonoa
Ulisse: Paul-Antoine Bénos-Djian
Calipso: Delphine Galou
Polifemo: José Coca Loza
Nerea: Alysia Hanshaw

Le Concert d’Astrée
Dirigent:  Emmanuelle Haïm
Regie: Bruno Ravella
Bühne und Kostüme: Annemarie Woods
Licht: D.M. Wood

2 Kommentare:

  1. Ich war in der Aufführung am Freitag und kann Ihre Eindrücke nur bestätigen. Ich war mir anfangs unsicher, ob ich bei Fagioli nicht doch zu überkritisch war, bin aber nun erleichtert, dass Ihre Hörerfahrung ähnlich war. Ob man bei Fagioli nun karrieretechnisch Spätsommer und Frühherbst konstatieren möchte, ist irgendwie auch egal. Am 5. Juni singt er übrigens in Basel (Tolomeo)...

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    1. Vielen Dank Herr Kaspar. Ich habe Fagioli seit Serse nicht mehr gehört. Nun ist Aci zweifellos eine herausfordernde Rolle, bei der man in Top-Form sein muß und selbst dann kaum alles korrekt singen kann. Unabhängig davon gab es für mich allerdings manche Stellen, bei denen Fagiolis Stimme nicht optimal klang, die Töne gepresst oder seltsam rauh, fast scheppernd. Deswegen auch oben mancher Link zu youtube: er klang schon runder. Ob seine Stimmbänder einfach nur erschöpft waren oder er karrieretechnisch in eine Spätphase eintritt, will ich noch gar nicht diskutieren. Es bleiben ihm noch immer die Möglichkeiten, die etwas weniger komplizierten Rollen mit anderem Stimmumfang zu singen; Serse wurde bspw, wie der in Karlsruhe noch fehlende Faramondo für Caffarelli geschrieben. Da ich den Eindruck hatte, daß sich Fagioli in Serse stimmlich sehr wohl gefühlt hat, hatte ich insgeheim gehofft, ihn in dieser Rolle noch in KA zu erleben.
      Als Dirigent ist er ebenfalls schon in Erscheinung getreten, mal schauen, ob das der parallele Karriereweg wird.

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