Samstag, 17. Februar 2024

Händel - Siroe, 16.02.2024

Homogen hochklassig
So starr die Barockoper mit dem Modell des handlungstreibenden Rezitativs und dessen emotionale Verarbeitung in affektgeladenen Arien auch ist, so flexibel sind die sich daraus ergebenden Interpretationsmöglichkeiten. Modern oder historisierend, humorvoll oder ernst, naiv oder zwielichtig. ob bei Kerzenlicht, in mafiösem Halbdunkel oder unter arkadischer Sonne - die Opera Seria zeigt nur den sichtbaren Teil des Eisbergs und überläßt es deshalb der Regie, durch die Inszenierung mehr zu offenbaren und gerade bei den Karlsruher Händel Festspielen konnte man in der Hinsicht reichhaltig Anschauungsmaterialen bei vielfältigen Inszenierungsstilen sammeln. Aktuell ist man in einer historisierenden Schwertphase in dominanten Bühnengrau, wie auch letztes Jahr bei Ottone ist auch Siroe eine Rückversetzung in Zeiten, wo schwere metallene Stich- und Hiebwaffen verwendet werden. Für den neuen Siroe bekannte sich das Inszenierungsteam im Vorfeld bereits zur Inspirationsquelle Game of Thrones. Die gestrige Premiere setzte also ganz auf Dramatik und Intrigen und wurde diesem Anspruch gerecht: eine solide Inszenierung, der es gelingt, der Handlung passende Szenen zu unterlegen, und die vor allem musikalisch und sängerisch durch eine homogen hochklassige Besetzung getragen wird.

Worum geht es?
Der persische König Cosroe hatte einst einen anderen König und seine Familie getötet, einzig Prinzessin Emira überlebte, die nun incognito als Mann verkleidet unter dem Namen Idaspe am persischen Hof lebt, um sich zu rächen. Nur der sie liebende Thronprinz Siroe kennt ihr Geheimnis und will sie nicht verraten. Emira jedoch plant ihre Vergeltung. Laodice, die Geliebte des Königs, hat Interesse an Siroe und wird von Emira darin bestärkt. Als Siroe sie zurückweist, beschuldigt sie ihn gegenüber dem König, sie bedroht zu haben. Doch Siroe hat noch andere Probleme: sein Bruder Medarse will selber Thronfolger werden und versucht, Siroe zu schaden, indem er Siroes anonyme Warnung eines Attentatsversuchs auf den König an Cosroe gibt und den Verdacht auf seinen Bruder lenkt. Siroe verzweifelt, doch es kommt noch schlimmer, sein Vater läßt ihn in den Kerker werfen. Cosroe fordert Siroe auf, ihm den Verräter zu nennen und Laodice zu heiraten. Doch Siroe schweigt, seine Hinrichtung wird befohlen. Laodice gesteht ihre Lüge und fleht mit Emira/Idaspe um Siroes Leben. Emira enthüllt ihre wahre Identität und verhindert ein Attentat Medarses auf das Leben seines Bruders. Wie fast immer üblich in den Barockopern, erfolgt in den ausweglos verworren scheinenden Zuständen ein glückliches Ende. Siroe verschont den Bruder, überzeugt Emira von seiner Liebe und bewegt den Vater zu Einsicht und Verzicht: Siroe wird König und heiratet Emira.

Historisches
1727 wurde der Händel wohlgesonnene Georg August von Hannover zum englischen König Georg II. gekrönt, Händel komponierte zu diesem Anlaß die vier Coronation Anthems. In der Opernsaison 1727/28 vertonte Händel ein Königstriptychon. Zuerst war der heroische Riccardo Primo (UA November 1727) zu hören, die Uraufführung des dramatischen Siroe erfolgte am 17.02.1728, danach folgte der nachdenkliche Tolomeo (UA April 1728). Händel standen damals seine renommierten Stammkräfte zur Verfügung: Senesino sang Siroe, Faustina Bordoni die Emira und Francesca Cuzzoni Laodice. Aus heutiger Sicht scheint in der Spielzeit insbesondere Siroe ein Erfolg gewesen zu sein, die Oper hat mehr Aufführungen als die beiden anderen. 
Für seine Libretti verwendete Händel nur dreimal Vorlagen von Metastasio, dem berühmtesten und erfolgreichsten Operndichter der Epoche: Siroe (1728), Poro (1731) und Ezio (1732). Fast 30 Opern-Libretti schrieb Metastasio, die angeblich von ca. 250 Komponisten für ca. 800 Vertonungen genutzt sein sollen. Siroe -ein Frühwerk des Librettisten- soll ca. 40 mal vertont worden sein, zuerst 1726 vom Vinci, u.a. auch 1727 von Porpora und Vivaldi, 1728 von Händel, 1733 von Hasse mit Farinelli und Caffarelli als Brüderpaar, vier Jahrzehnte später noch bspw. von Traetta. Händels Helfer Francesco Niccolò Haym hatte den Text rigoros gekürzt, um dem englischen Publikum italienische Rezitative zu ersparen, was dem Verständnis der Handlungsmotive nicht unbedingt förderlich war.

Was ist zu sehen?
oder
Händel trifft Game of Thrones (auf dem falschen Kanal)
Intendant Ulrich Peters führt zum Abschied noch mal selber Regie bei den Händel Festspielen (wie schon zuerst 1998 bei seiner schönen und  gelungen Rodelinda und zuletzt 2011 bei der ordentlich unterhaltsamen Partenope - ein 13-Jahre-Rhythmus). Im Programmheft erklärt er: "Wir waren bei der Arbeit am Stück verblüfft, ... wie nah wir mit der Story aber eigentlich an den berühmten Netflix-Serien wie zum Beispiel Game of Thrones sind. Tatsächlich ist unsere Oper auch ein Spiel, ein Kampf um den Thron, ein Kampf zwischen zwei sehr unterschiedlichen Brüdern, einer Frau und einer als Mann verkleideten Frau und eine böse Intrige jagt die nächste. Da fallen Parallelen auf, mit denen wir gespielt haben. Wer also genau hinschaut … Eigentlich könnte man aus der Oper – wie auch aus vielen Shakespeare-Dramen – ganze Streaming-Serien machen. Diese Werke sind quasi kondensierte Serien, losgelöst von einem konkreten historischen Kontext."
Okay, die 73 Folgen von Game of Thrones sind allerdings keine Netflix-Serie, sondern liefen auf HBO. Allzu fleißig und interessiert scheint man die Serie nicht geschaut zu haben, die sich neben komplex verflochtenen Handlungssträngen durch starke Personencharakterisierung, Brutalität und Nacktheit sowie einem unsentimentalen Umgang mit ihren Figuren auszeichnete. Insbesondere visuell hat dieser Ansatz Auswirkungen. Der für diese Produktion zurückgekehrte langjährige Ausstattungsleiter Christian Floeren verlegt den antik persischen Siroe in ein Schwert-Zeitalter mit europäisch wirkenden Mittelalter-Kostümen: Leder und Pelz, Ornamente und Brustpanzer. Ein Statist sieht allerdings aus wie ein Elbe aus den Herr der Ringe Verfilmungen, Medarses Arie im zweiten Akt zitiert mit brennendem Schwert und kurzzeitig digital im Hintergrund eingeblendeten Drachen Game of Thrones. Die Regie setzt ganz auf sichtbaren Teil des Eisbergs und will ohne psychologische Ausflüge eine spannende Geschichte erzählen - und das funktioniert!

Was ist zu hören?
Bei der Orchesterbesetzung schien Händel zu sparen, neben Streichern und Basso continuo gönnt der Komponist dem Publikum nur noch Oboen und Fagotte, es gibt weder Duette noch Chor.  Doch trotz der karg anmutenden Besetzung klang Siroe gestern spannend und zupackend. Dirigent Attilio Cremonesi dirigiert oft straff und treibt das Geschehen voran, da hämmert schon mal das Cembalo, und es wird kräftig in die Saiten der Barockgitarre gegriffen. Die Deutschen Händel-Solisten musizierten wie gewöhnlich als kompetenter Klangkörper mit grandiosem Farbenreichtum. Bereits nach der Pause gab es viele Bravo-Rufe. Erst vor fünf Tagen durfte der Verfasser dieser Zeilen in Straßburg ein französisches Barockensemble hören, das nach seinem Erachten zwar sehr gut musizierte, aber erneut läßt der Klang der Deutschen Händel-Solisten alles verblassen: Siroe klingt großartig und CD-reif. Man kann diese Oper anders, aber nicht besser musizieren. BRAVO!

Auch bei den Sängern hat man ein homogen hochklassiges Ensemble, bei der man kaum weiß, wenn man hervorheben soll. Die Sopranistin Sophie Junker als Emira/Idaspe begeistert mit einer Stimme, die sich ständig neu von ihrer schönsten Seite zeigen kann, und das sowohl dramatisch als auch lyrisch. Ihr erste Arie D'ogni amator la fede war entwaffnend gut, im dritten Akt gelang ihr ein besonders eindringliches Ch'io mai vi possa. Was für eine tolle Stimme! BRAVO! 
Als Laodice weiß Shira Patchornik  zu gefallen, ihre Stimme ist hell, klar, tragend und verfügt über ein schöne Stimmfarbe. In ihrer Rolle versucht sie ihren Platz zu finden und steht am Abgrund,  Patchornik findet dafür eindringliche, schmeichelnde und flehentliche Töne. BRAVO!
Armin Kolarczyk als König Cosroe singt drei eindrucksvolle Arien. Besonders beeindruckend seine Arie im 3. Akt Gelido in ogni vena für die er viele Bravos bekam. Cosroes Söhne werden von Countertenören gesungen. Der Bösewicht Medarse wird vom italienischen Countertenor Filippo Mineccia charakterisiert, im 1. Akt gelang ihm ein eindrückliches Che épiù fedele,  im 2. Akt ließ er mit Fra l'orror della tempesta aufhorchen. Manch einer wird sich gefragt haben, wieso Mineccia nicht als Siroe engagiert wurde, den Medarse war gestern auffälliger als Siroe. In der Titelrolle des Siroe singt der polnische Countertenor Rafał Tomkiewicz mit gelegentlich zu sanft wirkendem Timbre. Tomkiewicz hat eine schöne, sichere Stimme, die gestern kaum zulegen wollte und der es  etwas an Temperament fehlte. Die bemerkenswerteste Stelle in Siroe ist vielleicht die Kerkerszene im dritten Akt, in der Händel genial die Situation in Klänge übersetzt: Siroe ist verlassen, verzweifelt und vereinsamt. Deggio morire, oh stelle erklang nachdrücklich und zeigte Tomkiewiczs Klasse!
Konstantin Ingenpass hat als Arasse eigentlich nur Rezitative, überzeugte aber durch eloquente Phrasierung und darf, damit er nicht leer ausgeht, eine Arie singen. Wieso man ihm allerdings im 3. Akt Un zeffiro spirò aus Rodelinda singen läßt, erschließt sich nicht. Aber egal, man fand wohl nichts anderes, nun darf der Soldat einen Zephir hauchen lassen. 

Fazit: BRAVO an alle Beteiligten. Eindrücklich gelungen! Wer Händel-Opern mag, sollte diesen Siroe gehört haben

PS: Die gestrige Premiere von Siroe begann mit Geschwafel, wenn auch nicht so banal wie im letzten Jahr. Wieso müssen zu Beginn der Händel-Festspiele vor dem Premierenpublikum Ansprachen gehalten werden? Das könnte man auch im Foyer oder bei der Einführung im Blauen Haus. So setzt man sich als Zuschauer hin, freut sich, und bekommt dann erst mal einen Dämpfer mit leerer Zwangsbeschallung. Land und Stadt schicken Politiker mit Grußworten, denen oft die Verlegenheit, irgendetwas sagen zu müssen, qualvoll anzuhören ist. Gestern waren es immerhin Ministerin und Oberbürgermeister, die sich besser aus der Affäre zogen als zuletzt.

Besetzung und Team:
Siroe: Rafał Tomkiewicz
Emira: Sophie Junker 
Laodice: Shira Patchornik 
Medarse: Filippo Mineccia 
Cosroe: Armin Kolarczyk
Arasse: Konstantin Ingenpass 

Deutsche Händel-Solisten
Musikalische Leitung: Attilio Cremonesi
Regie: Dr. Ulrich Peters
Ausstattung: Christian Floeren 
Kampfchoreografie: Annette Bauer 
Licht: Christoph Pöschko

2 Kommentare:

  1. Ich war in der Vorstellung am Mittwoch und kann Ihnen nahezu uneingeschränkt zustimmen: tolle Inszenierung und tolles musikalisches Gesamtpaket. Zu Rafał Tomkiewicz: der Siroe zeichnet sich ja vor allem durch moralische Zweifel aus, was zu seiner misslichen Lage maßgeblich beiträgt; Showstopper wie Medarse hat er nicht wirklich. Seine einzig große Nummer - die Kerkerszene - liefert er, wie Sie ja schrieben, großartig ab. Der von mir sehr geschätzte Mineccia wäre mit seinem weit charakteristischeren Altus in der Titelpartie deplaziert gewesen. An Temperament hat es Tomkiewicz gestern jedenfalls nicht gefehlt. Auf eine der Folgevorstellungen freue ich mich schon jetzt.

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    1. Vielen Dank Herr Kaspar für Ihre Anmerkung. Bei Siroe scheint es tatsächlich noch eine Steigerung gegeben zu haben. Beim heutigen Ottone wurde mir erzählt, daß Tomkiewicz in einer nachfolgenden Vorstellung zugelegt hatte. Leider hat es bei mir dieses Jahr nur zu einer Vorstellung gereicht. Der Vorverkauf für die Händel-Festspiele 2025 soll am 3. Juni beginnen und Siroe wird am 28.02.25 wieder aufgenommen.

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