Donnerstag, 1. September 2022

Vorschau auf die Spielzeit 2022/2023

In Jahren der Entwöhnung
Die Medien berichteten Ende Juli über eine Statistik, die der Deutsche Bühnenverein mit Hilfe von 427 Theatern in den drei großen deutschsprachigen Ländern erstellt hatte. Im Vergleich zur letzten Saison vor Corona und Virusepidemie (2018/19) sei in der Folge die Anzahl der Aufführungen um 70% (auf 22700) und die der Zuschauer um 86% (auf 2,54 Millionen) gesunken. Die Rückkehr des Publikums in der warmen Jahreszeit scheint ebenfalls verhalten, es blieb deutlich leerer als zuvor. Und die schwierigen Zeiten sind noch lange nicht vorbei. Der kommende Winter kann neue Infektionswellen bringen, Energiekrise, horrende Inflation und Politikversagen bringen weitere Komplikationen. Doch selbst dann, wenn nun Virus, Krise und Krieg überwunden wären, hätte das Programm der kommenden Spielzeit am Badischen Staatstheater wenig jauchzende Vorfreude ausgelöst. So verdienstvoll der Einsatz von Ulrich Peters als Interimsintendant zur internen Befriedung auch ist, es benötigt gegenüber dem Publikum mehr Engagement, insbesondere neue Ansätze und neue Gesichter in den beiden großen Sparten Oper und Schauspiel. Doch diese wird es wohl frühestens 2024 mit der neuen Intendanz von Christian Firmbach geben, und wenn man dem designierten Intendanten etwas ans Herzen legen wollte, dann viele neue Gesichter und Ideen sowie unbedingt eine Abwendung vom Klienteltheater und eine Entkrampfung und Entideologisierung durch Rückkehr zum Qualitätsprinzip ohne erhobenen Zeigefinger. Zeitgleich zur äußeren Krise befindet man sich am Karlsruher Staatstheater in einer Übergangszeit und im Umbau, immerhin die innere Krise scheint überwunden, doch noch immer sieht man Personal, das einen unguten Beigeschmack auslöst und an das dunkle Jahrzehnt erinnert. Es gibt zu viele Faktoren, die aktuell nicht gerade enthusiasmusfördernd sind. Es werden nicht wenige sein, die für die kommenden zwei Jahre einen Übergang der Hemmungen und Stockungen erwarten und weitere verlorene bzw. vertane Jahre befürchten. Die Frage wird sein, ob man der Grauheit dieser Stimmung auf der Bühne Paroli bieten kann, also zur quasi klassischen Aufgabe der Bühne erfolgreich zurückkehren wird.

Oper
Wie immer kurz vor einem Wechsel der Intendanz  kommen wenige neue Sänger hinzu, andere schauen sich frühzeitig nach neuen Arbeitsplätzen um, und die Stunde der freiberuflichen Sänger schlägt. Bei Salome und Aida war das kaum übersehbar, zentrale Rollen werden nicht mehr aus dem Ensemble, sondern mit Gästen besetzt. Wer große Rollen in Opern wie dem fliegenden Holländer oder Elektra singen wird, ist noch unbekannt. Es gibt aber nicht nur neue Stimmen zu entdecken, sondern auch neue Ensemble-Sänger, die für eine kurze Zeit nach Karlsruhe wechseln: Dorothea Spilger war eine beeindruckende Amneris (mehr hier) und wird in Karlsruhe ihre erste Carmen singen, die schwedische Sopranistin Matilda Sterby soll als Micaëla in Carmen und Mimì in La Bohème zwei zentrale Rollen übernehmen; Weiterhin kommt die deutsch-französische Mezzosopranistin Florence Losseau sowie die Altistin Jasmin Etminan. Es scheinen zwei Baritone das Haus verlassen zu haben: der junge Äneas Humm und der zuverlässige Seung-Gi Jung, Nachfolger sind noch nicht auf der Ensemble-Seite im Internet erkennbar.
Das Programm der kommenden Spielzeit war bei Ankündigung eine Enttäuschung. Überwiegend Werke, die man in den letzten 20 Jahren in Karlsruhe bereits hören konnte (mehr hier). Es wird ein langer Weg zu mehr Vielfalt und Abwechslung im Opernprogramm, aber angesichts der unklaren Epidemieprognose im Winter ist das evtl. auch einfach nur eine defensive Planung. Dennoch, prickelnde Vorfreude und Spannung verbindet aktuell wohl kaum jemand mit dem Opernangebot der kommenden Saison.

Schauspiel
Schauspieldirektorin Anna Bergmann wird auch in den kommenden beiden Spielzeiten den strengen Stallgeruch als Zögling*in des rausgeworfenen früheren Intendanten nicht mehr los werden. Als Regisseurin ist Bergmann profiliert, als Schauspieldirektorin enttäuschte sie durch fehlende Vielfalt, enge Perspektiven und ideologische Zäune. Sie ist Repräsentantin eines Theaters als Ort der freiwilligen Scheuklappenträger und zeigefingerspießigen Oberlehrer. In der kommenden Saison versucht sie sich erneut an einer Form, an der das Karlsruher Schauspiel seit über einem Jahrzehnt scheitert: Komödien. Lustspiele und Rasanz sind Anna Bergmanns Sache bisher nicht, bei ihr, wie auch bei ihren letzten beiden Vorgängern, durfte das Publikum kaum lachen. Auch sonst hat man ein Jahrzehnt fast ohne Erfolgsinszenierungen hinter sich. Wo frühere Jahrzehnte durch bleibende freudvolle Erinnerungen an spektakulär gelungene Produktionen glänzten, hat sich im vergangenen Jahrzehnt ein muffiges Miesepeter*innen-Theater breitgemacht, das keinen Sinn für Humor hat und nur der verklemmten ideologischen Selbstbefriedigung weniger Verantwortlicher*innen dient.
Nur acht Neuproduktionen, davon fünf im Kleinen Haus. Das ist wenig, auch wenn man berücksichtigt, daß es umbaubedingt erst Ende Oktober die erste Premiere gibt. Doch immerhin kündigt man über 20 Wiederaufnahmen an, wovon ungefähr die Hälfte allerdings nicht wirklich die Qualität besitzen, einer Wiederaufnahme würdig zu sein.
Die neuen Produktionen sind nicht reizlos. Bei Tschechows frühem Drama Iwanow wird die depressive und letztendlich Selbstmord begehende männliche Hauptfigur mit einer Schauspielerin besetzt. Eine spannende Idee, die eine große Aufgabe für die Darstellerin der Titelfigur mit sich bringt.
Brechts Leben des Galilei scheint Abiturthema zu werden. Ob man hier den Mut aufbringt, das Stück zu modernisieren, scheint fraglich, ebenso bei der letzten Premiere der Saison: einer Dramatisierung von Klaus Manns Roman Mephisto.
An den Gott des Gemetzels von Yasmin Reza werden manche sich noch erinnern: die Komödie wurde zuletzt 2006/07 in Karlsruhe inszeniert (Regie: Hans-Ulrich Becker). Mal schauen, ob man die damalige Produktion übertreffen kann. Und wenn das Molière-Potpourri Das famose Leben der Geizigen keine Lacher haben sollte, dann ist auch keine Hoffnung mehr. Immerhin kündigt das Karlsruher Schauspiel an, "furios unterhaltsam" sein zu wollen. Wer wollte daran glauben? Aber man sollte das Theater dennoch beim Wort nehmen.

Ballett
Nun aber endlich zu spannenden, vorfreudeauslösenden Perspektiven. Mit Giselle gibt es einen Klassiker in modernisiertem Gewand, auf Bridget Breiners  Großkreation für Tänzer, Chor und Orchester Maria Stuart warten die Karlsruher Ballettfans dann drei epidemiebeeinträchtige Jahre und Jazz mit Live-Band verspricht ebenfalls Attraktives. Unter den Wiederaufnahmen befinden sich die Erfolgsproduktionen Per aspera ad astra (mehr hier) und Ruß (mehr hier). Hier werden die Qualitätsanforderungen des Publikums erfüllt, Breiner ist auch über 2024 hinaus eine gute Wahl als Ballettdirektorin.

Konzert
In zwei Jahren endet der Vertrag mit Georg Fritzsch. Wird er bleiben oder wird es mit dem Intendantenwechsel auch einen neuen GMD geben? Die Rentengrenze hat Fritzsch (*1963) dann noch nicht erreicht, aus Publikumssicht spricht alles für ihn, insbesondere seine Affinität zu Richard Strauss. Die Alpensymphonie im komplett Strauss gewidmeten 6. Konzert ist zweifellos ein Höhepunkt der Konzertsaison. Ansonsten sind Fritzsch' Planungen solide: Christian Josts Trompetenkonzert und Cristóbal Halffters Bratschenkonzert sind die einzigen Zumutungen überwiegend unerhörter Musik - ob sie hörenswert sind, bleibt abzuwarten. Als Zuhörer beschränken sich die Entdeckungen in der bevorstehenden Saison auf das Wiederhören des Gängigen und evtl. Unvertrauten.  Dabei geht es auch anders: beim Gastkonzert des SWR Symphonieorchester 2017 erklang mit dem Konzert für Schlagwerk und Orchester von Kalevi Aho ein fulminantes Beispiel moderner Musik, die in Karlsruhe fehlt.

12 Kommentare:

  1. Lieber Honigsammler,
    es ist schön zu lesen, dass Sie "noch" auf Spannendes in der Opernsparte gehofft hatten. Die Vorschauen der neuen Spielzeiten sind doch seit Jahren eine einzige Enttäuschung. Nie wird die Besetzung preisgegeben, obwohl man allenorten zu hören bekommt, dass Besetzungen schon Jahre im Voraus gebucht oder geplant sind. Die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit scheint in dieser Hinsicht wohl regelmäßig zu schlafen oder das Publikum scheint das Haus nicht zu interessieren. Man geht doch nicht in die Oper wegen der Oper an sich oder wegen der jungen wilden Regisseure (mit Ausnahme von Kratzer), sondern weil die Sprache der Oper der Gesang ist, man sich ergo auf die SÄNGER freut... Es muss ja nicht gleich Bryn Terfel im Holländer sein (wo sind eigentlich die Gala-Abende hin entschwunden?), aber ein allseits beliebter Sänger des Hauses würde die Vorfreude wecken, Besucher anlocken, Kasse und Zuschauerraum füllen...
    Aber wenn bspw. die gesamte Riege der tiefen Frauenstimmen irgendwelchen Sparplänen zum Opfer fallen, nichts Spannendes in neuen Formaten oder an neuen oder lange nicht gespielten Opern hinzukommt, dann wundern die Zahlen von 86% weniger Besuchern nicht wirklich.

    Hoffen wir, dass ein Herr Firmbach, der wie durch ein Wunder in den Theaterferien aus dem Hut gezaubert wurde, mehr Transparenz an den Tag legt, damit die von Ihnen angesprochene Vorfreude bei den Besuchern auch wirklich mal geweckt werden kann. Denn irgendwann macht man sich dann nämlich nicht mehr die Mühe zu schauen, was in Karlsruhe läuft, sondern fährt gleich nach Mannheim, Stuttgart und Co.

    Herzliche Grüße von KS

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    1. Vielen Dank für Ihren Kommentar. Der stete Wechsel des Personals in der "Öffentlichkeitsarbeit" scheint mit ein Indiz für die Strategielosigkeit des Theaters, insbesondere in der Oper. Das Operngala-Abo verschwand übrigens wegen Corona, die Gefahr der Absagen war zu groß. Mal schauen, ob das nach der Epidemie zurück kommt. Mit Baden-Baden hat man dazu einen Konkurrenten, der sich auf die ganz großen Namen verlässt.

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  2. OK, alles gut...vergessen Sie bitte nicht, dass Uli Peters für den neuen Intendanten ein Repertoire aufbauen möchte, das es leider in KA im Moment nicht gibt.....

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    1. Vielen Dank für den Hinweis! Ich rechne es Herrn Peters hoch an, daß er sich für diesen Interimsposten mit sehr beschränkter Gestaltungsmöglichkeit zur Verfügung stellte. Doch statt Carmen hätte es auch der Trovatore sein können, statt La Bohème hätte man bspw. Pagliacci/Cavalleria rusticana spielen können, anstelle von Rusalka evtl. Massenets Manon. Was nun zu hören ist, gab es halt schon im letzten Jahrzehnt oder davor, ich hab es noch vor Augen und im Ohr. Es scheint mir nachvollziehbar, daß diese Werke nicht gerade Begeisterung und ein "Endlich!" auslösten.

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  3. Kann ja alles noch kommen ...
    .

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  4. Wenn man in die Opernspielpläne der näheren Umgebung schaut, entdeckt man viele Doppelungen mit Karlsruhe (warum spricht man sich nicht ab?) aber vor allem auch viel Interessantes im unbekannten Repertoire. Das Publikum hat also die Wahl und entscheidet am Ende, wo es hingeht. Zum Glück ist die Opernhausdichte in der Region hoch und man ist nicht auf Karlsruhe angewiesen.

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  5. Ich finde es schon okay, dass Ulrich Peters erst mal wieder das Repertoire aufbaut. Schwerpunkte setzen kann, darf und muss dann sein Nachfolger.
    Und ja, sicher hätte es nicht nochmal Boheme sein müssen. Aber das Haus hat eben bestimmte Sänger und müsste für andere Werke weit tiefer in die Tasche greifen.
    Allerdings wäre ich wirklich dankbar für zeitigere Besetzungshinweise. Ich ginge gerne nochmal in die Salome oder sogar in die misslungene Elektra, wenn ich eine andere Besetzung als zuvor erhielte. So füllt sich der Opernkalender eben immer mehr und Karlsruhe bleibt Füllmasse. Schade. Aber immerhin kennen wir unseren Spielplan schon - in Mannheim ist die ganze Leitung auf Tauchstation.

    Nebenbei: Ulrich Peters war am Mittwoch bei der Premiere der Vinci-Oper in Bayreuth. Hoffentlich wird er Cencics Regieeifer ein wenig ausbremsen...

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    1. Vielen lieben Dank Herr Kaspar für Ihren treffenden Kommentar. Ich vermisse Ihren Blog. Als ich mir im Frühsommer überlegte, im September nach Bayreuth zu fahren, waren die guten Karten für Vorstellungen von Leonardo Vincis Alessandro nell' Indie schon ausverkauft. Mehr als die Inszenierung interessieren mich die Sänger, und wer weiß, hoffentlich ist Peters deshalb nach Bayreuth gefahren, um für 2024 zu planen. Franco Fagioli singt hoffentlich unverändert? Wie gefielen Ihnen Bruno de Sá, Maayan Licht und Jake Arditti? Welchen von ihnen würden Sie gerne bei den Händel Festspielen hören?

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    2. Ich finde, dass Fagiolis Stimme etwas dünner geworden ist, aber er war imposant wie eh und je. Bruno de Sa hatte ich schon vor anderthalb Jahren bei einem Scarlatti-Oratorium in Salzburg und ich war absolut "geflasht". Auch in Bayreuth war er umwerfend, er klingt als Sopranist eben deutlich heller, femininer, aber - im Gegensatz zu anderen männlichen Sopranisten - nie "kieksig". Den Namen muss man sich merken! Mayaan Licht fand ich okay, mehr nicht. Deutlich besser in meinen (!) Ohren klang da Jake Arditti.

      Die fair bepreisten Karten waren wirklich schnell weg, ich habe schon zu nächtlicher Stunde zugeschlagen. Es hat sich gelohnt.

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    3. Vielen Dank für die Auskunft!

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  6. Nachtrag: Habe da was verwechselt - Cencic führt dieses Mal ja gar nicht Regie.

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    1. Stimmt, Carlos Wagner führt bei Ottone Regie, Cencic ist das countertenorale Zugpferd

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