Dienstag, 20. September 2022

1. Symphoniekonzert, 19.09.2022

Pfade in die Natur und Wege ins Paradies
Gustav Mahler (*1860 †1911) und Jean Sibelius (*1865 †1957) waren Zeitgenossen, 1907 lernten sich beide anläßlich einer Konzertreise Mahlers nach Finnland kennen. Mahler starb zu früh, Sibelius verstummte zu früh und komponierte die letzten 25 Jahre seines Lebens kein weiteres Stück. Gestern erklangen zwei Werke, die im Abstand weniger Jahre entstanden, und ganz unterschiedliche Wege begehen: Sibelius' Violinkonzert (UA1904) und Mahlers 4. Symphonie (UA 1901).

Jean Sibelius komponierte nur ein einziges Solistenkonzert. Das Violinkonzert d-Moll, op. 47 erlebte erst eine mißratene Uraufführung, dann eine Umarbeitung und fand erst ab den 1930ern Eingang ins Standardrepertoire, wo es sich in der kleinen Spitzengruppe der großen Violinkonzerte neben Beethoven, Mendelssohn, Bruch, Brahms, Dvořák, Tschaikowsky und Elgar etablierte. Als Konzerte des 20. Jahrhunderts sind Sibelius und Elgar deutlich populärer als die Konzerte von Alban Berg, Prokofjew, Schostakowitsch, Bartók und Britten, die moderner, aber auch spröder klingen. Sibelius kann man als Gegenstück zu Tschaikowskys pompösen Solistenkonzert sehen, es wirkt naturverbunden, herb und melancholisch - und tatsächlich entstand es in der bekannten Fassung nach dem Umzug von Helsinki aufs Land nach Järvenpää, wo Sibelius aus seiner Villa Ainola auf einen See blickte.
Die junge, in den USA aufgewachsene Solistin Maria Ioudenitch gewann Preise beim Internationalen Ysaye-Musikwettbewerb, beim Internationalen Tibor-Varga-Violinwettbewerb und beim Joseph Joachim Violinwettbewerb, der ihr nun auch einen Auftritt in Karlsruhe einbrachte. Sie interpretierte Sibelius' Konzert mit Durchsicht, Klarheit und warmen Ton, insbesondere den ersten beiden Sätze (wie auch später der Zugabe von J.S. Bach) verlieh sie etwas Behutsames und Vorsichtiges, das sich allerdings nicht zurückhielt, sondern sich öffnete. Der leise Beginn des Allegro moderato erklang geheimnisvoll aufsteigend, die drei Themenblöcke kombinierte sie zu einem gestisch zurückhaltend und refelektiert anmutenden Einstieg. Das Adagio di molto erklang wie eine empfindsam und verträumt gespielte Phantasie, das Allegro ma non tanto  war dann der erwartet tänzerische Schlußsatz. Man kann breitere Spannungsbögen aufbauen und Sibelius leidenschaftlicherer interpretieren, Ioudenitchs Ansatz betonte weniger das Herbe und musizierte Sibelius' Konzert als fragile Schönheit.

Gustav Mahler komponierte seine 4. Symphonie G-Dur für Orchester und Sopransolo, bei manchen Mahlerianern heißt sie auch Die Posaunenlose, wobei auch keine Tuba verwendet wird. Die vier Satzbezeichnungen sind vielsagend: Bedächtig. Nicht eilen - In gemächlicher Bewegung ohne Hast - Ruhevoll - Sehr behaglich. Die letzte der sogenannten Wunderhorn-Symphonien mit Gedichtvertonungen ist für Mahlersche Verhältnisse klein besetzt und relativ kurz. Das Werk wirkt heiter, nur selten ist die Sonne verdeckt, doch versteckt sich an manchen Stellen etwas Unheilvolles und Unheimliches, das da ist, aber ignoriert wird, und erst im 3. Satz tritt kurz eine Tragik hervor. Mahler öffnet eine weitere Dimension in dieser so leicht wirkenden Symphonie, die im letzten Satz offenbar wird: ein Sopran singt ein Wunderhorn-Gedicht, das eine kindliche Vorstellung vom Paradies enthält: "Wir genießen die himmlischen Freuden, d'rum tun wir das Irdische meiden". Und wer in den Himmel will, der muß zuvor sterben. Das Heitere und Helle der 4. Symphonie ist trügerisch, es wirkt wie eine Flucht aus dem Elend und die Letztsehnsucht eines glücklicheren Lebens im Jenseits, ein Epilog zum Himmel mit Wehmut auf Erden, die Mahler in dissonante oder ersterbende Klänge packt. Bei GMD Georg Fritzsch wirkte das Werk nie eintönig oder starr, der leichte Klang, der Farbenreichtum des Orchesters überzeugten, nur das Bedächtig. Nicht eilen des 1. Satzes kippte gelegentlich ins Rasante und Eilende und manche Abgründe wurden mit Lautstärke überwunden. Die koreanische Sopranistin Hye Jung Lee scheint das Ensemble nach einem einjährigen Intermezzo wieder verlassen zu haben und schien gestern ihre Abschiedsvorstellungen mit Nachdruck zu gestalten. Viel Applaus belohnte den engagierten Saisoneinstieg.