Montag, 9. Mai 2022

Per aspera ad astra (Ballett), 08.05.2022

Nach knapp über zwei Jahren Virus-Epidemie und sozialen Einschränkungen sowie dem russischen Angriffs- und Zerstörungskrieg gegen die Ukraine und Europa kann die Stimmung schon mal etwas gedrückt sein. Per aspera ad astra -ein Ausdruck von Seneca, den man als Durch Mühsal zu den Sternen oder Durchs Dunkel ans Licht übersetzen kann- ist als dreiteiliges Ballett mit Kreationen von drei Choreographen geprägt von diesem Ringen und Streben hin zu mehr Möglichkeiten, Freiheiten und Ungebundenheiten. Eine optimistische, zwischen Trost und Hoffnung stattfindende Trilogie, die sich ad astra im Verlauf steigert und deren Zahlensymbolik bekanntlich auch für das Göttliche steht und die auch in verschiedener Hinsicht religiösen Ursprung hat und sich musikalisch des christlichen Instruments schlechthin bedient: der Orgel. Das Konzept ging auf, am Schluß gab es Bravo-Rufe und begeisterten Applaus, und wer das Theater nicht gut gelaunt verließ, dem konnte auch sonst nicht geholfen werden.

Was ist zu sehen (1)?
Zu Beginn präsentiert Choreograph Kevin O’Day eine Uraufführung: Unfolding, also Entfaltung zur Musik von Johann Sebastian Bach hat laut Programmheft folgende Bedeutung: "O’Day schöpft für seine Uraufführung Inspiration aus den anderen beiden bereits existierenden Werken und macht das Entfalten von Szenerie, Choreographie und Künstler zum Thema seines Werkes." O'Day hatte die undankbare Aufgabe, eine Ouvertüre zu schaffen, die die nachfolgenden beiden Choreographien nicht überstrahlen und nicht in den Schatten stellen sollte. Unfolding wirkt als Beginn gewollt spröde und ist atmosphärisch dunkler und verhaltener. Das ist im Rahmen der sich steigernden Trilogie passend, dennoch springt der Funke hier zu schwach über. O’Day läßt Bachs berühmtes Air aus der Orchestersuite Nr. 3 zu Beginn nur fragmentarisch ertönen, die Tänzer brauchen, bis sie zueinander finden, um dann Entfaltung durch sich ändernde Konstellationen auch tänzerisch zeigen zu können, dennoch wirken Musik und Tanz hier nicht kongruent.  Es folgen verschiedene Fugen für Streichorchester, unterbrochen von zwei Stücken für Klavier, die als Ruhepunkte konzipiert sind. Der Schluß aus einer Bachkantate, hier gesetzt für vierhändiges Klavier, ist dann der lichte und leichte Ausklang. Das klingt besser als es wirkt, manche Leerstellen entfalten keine Wirkung. Insbesondere Alba Nadal und João Miranda sowie Nami Ito haben starke Szenen in einem gewollt verhaltenen und doch zu wirkungsschwachen Einstiegsballett.

Was ist zu sehen (2)?
Nach der ersten Pause folgte ein spannender moderner Klassiker. Der Amerikaner Glen Tetley (*1926 †2007) choreographierte Voluntaries 1973 für das Stuttgarter Ballett, wo er nach dem Tod John Crankos von 1974 bis 1976 dessen Nachfolger als Ballettdirektor wurde. Tetley wählte für sein Schaffen überwiegend Musik des 20. Jahrhunderts und nutzte abstrakte Bühnenbilder, tänzerisch kombinierte er Einflüsse des amerikanischen modernen Tanzes -Tetley war u.a.Tänzer am Broadway- mit klassischen Ballett und war damit stilprägend für das zeitgenössische Tanztheater. Voluntaries wird aufgeführt zum Konzert für Orgel, Streicher und Pauke von Francis Poulenc und scheint damals kurz nach dem Tod Crankos als Requiem und Trauerarbeit gewirkt zu haben. Birgit Keil war eine der beiden Solistinnen der Uraufführung, Bridget Breiner bewunderte Voluntaries seit ihrem ersten Jahr als junge Ballerina in Stuttgart, als sie in Voluntaries tanzte. Das Programmheft erläutert: "Voluntaries nennt man in der Kirchenmusik freie Orgel-Improvisationen, die vor, während oder nach dem Gottesdienst gespielt werden." Der religiös angelehnte Titel in Verbindung mit dem Orgelkonzert und der Choreographie ist aussagekräftig. Daß Voluntaries quasi als Requiem für John Cranko empfunden wurde, ist leicht nachvollziehbar.. Das Programmheft erläutert nachdrücklich und anschaulich: "Vom Ballett stammen das Schrittmaterial für die Beine und die Klarheit der Linien. Der Oberkörper und die Arme aber sind in Voluntaries manchmal zum Zerreißen angespannt, Fäuste werden geballt, die Ellenbogen abgeknickt. Tetley setzt die expressive, völlig auf den Ausdruck konzentrierte Dynamik des Modern Dance auch im Ballett frei: Die Grand Jetés explodieren geradezu auf die Bühne, die Männer schwingen die Körper der Frauen in weiten Bögen hinter ihrem Rücken hinauf. Die großen, raumgreifenden Bewegungen zeigen nicht einfach eine virtuose Technik, sondern wirken manchmal wie ein Freisprengen des Körpers. Immer wieder recken die Tänzer ihre Arme anklagend nach oben, die Blicke gehen suchend hinauf; mit den hohen, weiten Hebungen und den vielen Sprüngen strebt Voluntaries ständig von der Erde weg, auf der Suche nach Transzendenz, nach Erlösung. Neben dem zentralen Solopaar tanzt ein Trio aus zwei Männern und einer Frau, ergänzt durch ein Corps de ballet aus sechs Paaren. Aus einer tröstenden Umarmung heraus reckt der Solist seine Partnerin auf den ersten Orgelakkord nach oben, ihre Faust verschließt den zum stummen Schrei geöffneten Mund. Diese religiöse Pose in der Form eines Kreuzes wiederholt sich leitmotivartig, auch die Solistin des Trios schwebt später minutenlang wie eine Madonna durch die Lüfte."
Das Publikum reagierte mit Bravos und langen Applaus auf diese spannende und abwechslungsreiche Choreographie, bei der insbesondere die Tänzer des Pas de deux Balkiya Zhanburchinova und Timoteo Mock sowie des Pas de trois Carolin Steitz, Olgert Collaku und Daniel Rittoles sich  in Szene setzen konnten.

Was ist zu sehen (3)?

Zum Abschluß eine Choreographie der Ballettdirektorin Bridget Breiner. Blessed Unrest - eine gesegnete Unruhe also soll die 2017 entstandene Choreographie zu Camille Saint-Saëns beliebter Orgelsymphonie c-Moll, op. 78 ausdrücken, die wie schon Voluntaries durch die gelungene "Balance zwischen Gruppe und Individuum" geprägt ist Das Programmheft bestätigt: "Obwohl mehr als vierzig Jahre zwischen Voluntaries und Blessed Unrest liegen und beide Werke vollkommen für sich stehen können, ist eine gewisse Seelenverwandtschaft zwischen ihnen nicht zu verkennen." Beide Choreographien der Orgelkonzerte wirken zusammengehörend. Im Verlauf des Per aspera ad astra ist Breiners Kreation die Steigerung zur Begeisterung. Aus dem starken Ballett-Corps kann man bspw. Balkiya Zhanburchinova, Bridgett Zehr, Francesca Berruto sowie Pablo Octávio, José Urrutia und Ledian Soto hervorheben.

Was ist zu hören?
Man erlebt nicht nur eine Ballett, sondern auch ein spannendes Konzert! Dominic Limburg dirigiert die Badische Staatskapelle, Organist Carsten Wiebusch spielt die beiden Orgelkonzerte und das Klaviersolo im ersten Teil. Das Ergebnis ist mitreißend und man bekommt für sein Eintrittsgeld gleichermaßen Tänzer und Musiker, Ballett und Symphoniekonzert.

Fazit: Bravo! Visuell und akustisch ein Erlebnis! Bridget Breiner hat Per aspera ad astra als Ersatz für die auf April 2023 verschobene Maria Stuart ins Programm genommen und damit eine sehr gute Entscheidung getroffen. Dieses Ballett sollte wegen Voluntaries und Blessed Unrest  ein Publikumserfolg werden.

PS (1):
Im Publikum waren u.a. Birgit Keil, Vladimir Klos und Reginaldo Oliveira.

PS (2): Drei ukrainische Mitglieder des Staatsballetts kamen beim Schlußapplaus mit der blaugelben Fahne des überfallenen Landes auf die Bühne und zeigten nachdrücklich, daß obwohl Deutschland keine direkte Kriegspartei ist, es sich dennoch indirekt zu beteiligen hat, denn man kann in diesem Land nicht einfach wegschauen und den Kopf in den Sand stecken, um die Realität auszublenden, daß man den Aggressor nicht widerstandslos morden lassen kann.

PS (3): Die Maskenpflicht ist entfallen, auch ohne Mundschutz kann man nun wieder Vorstellungen besuchen.

Besetzung und Team:
UNFOLDING
Tänzer: Paul Calderone, Nami Ito, Joan Ivars Ribes, João Miranda, Alba Nadal, Pablo Octávio, Lucia Solari, Joshua Swain
Choreographie & Bühne: Kevin O'Day
Kostüme: Elisabeth Richter
Licht: Ingo Jooß

Musik: Johann Sebastian Bach
I. Air aus Orchestersuite No. 3 D-Dur BWV 1068
II. Contrapunctus 9 aus Die Kunst der Fuge BWV 1080
III. Sarabande aus Partita No. 6 e-Moll BWV 830
IV. Contrapunctus 7 aus Die Kunst der Fuge BWV 1080
V. Air aus Partita No. 6 e-Moll BWV 830
VI. Contrapunctus 13 inverus aus Die Kunst der Fuge BWV 1080
VII. Sonatina aus Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit (Actus Tragicus) BWV 106
Klaviersolo: Carsten Wiebusch
    
VOLUNTARIES    
Tänzer:
Pas de deux: Balkiya Zhanburchinova; Timoteo Mock
Pas de trois: Carolin Steitz; Olgert Collaku, Daniel Rittoles
6 Paare: Francesca Berruto, Nami Ito, Momoka Kikuchi, Carolina Martins, Alba Nadal, Hiyori Yamamoto; Tymofiy Bykovets, Paul Calderone, Gabriel Capizzi, Baris Comak, Joan Ivars Ribes, João Miranda
Choreographie: Glen Tetley
Musik: Francis Poulenc
Bühne & Kostüm: Rouben Ter-Arutunian
Licht: John B. Read
Einstudierung: Bronwen Curry, Alexander Zaytsev

Musik: Francis Poulenc - Konzert für Orgel, Streicher und Pauken
    
BLESSED UNREST 
Tänzer: Natsuka Abe, Francesca Berruto, Paul Calderone, Gabriel Capizzi,  Olgert Collaku, Baris Comak, Anastasiya Didenko, Rita Duclos, Joan Ivars Ribes, Momoka Kikuchi, Carolina Martins, João Miranda, Pablo Octávio, Daniel Rittoles, Louiz Rodrigues, Ledian Soto, José Urrutia, Bridgett Zehr, Balkiya Zhanburchinova 
Choreographie: Bridget Breiner
Musik: Camille Saint-Saëns
Bühne & Kostüme: Jean-Marc Puissant
Licht: Bonnie Beecher

Musik: Camille Saint-Saëns - Orgelsymphonie c-Moll, op. 78