Sonntag, 5. Januar 2020

Breiner - Ruß (Ballett), 04.01.2020

Aschenputtel im Zechen- und Bergarbeitermilieu
2013 gewann Bridget Breiner für ihre Choreographie zu Ruß. Eine Geschichte von Aschenputtel am Ballett im Revier Gelsenkirchen zum ersten mal den Theaterpreis "Faust", 2015 wiederholte sie diesen Erfolg mit Charlotte Salomon: Der Tod und die Malerin. Nun kann man Ruß auch in Karlsruhe sehen, die gestrige Adaptionspremiere fand im Kleinen Haus statt und erwies sich als Glücksfall, denn man ist nahe dran an dieser intimen und ironischen Märchenerzählung, die die Geschichte hinter der Geschichte ohne märchenhafte Elemente erzählt, und zwar aus der Sicht von Aschenputtels Stiefschwester. Bereits vor der Premiere waren fast alle Tickets für die Vorstellungen bis zum Ende der Spielzeit verkauft, wer dabei sein will, sollte sich bald Karten sichern oder muß auf die Wiederaufnahme 2020/21 warten.

Worum geht es?
Aschenputtel einmal anders, denn die vermeintlich bösen Stiefschwestern und die Stiefmutter bekommen einen Hintergrund. Eine alleinerziehende Mutter mit ihren zwei Töchtern (hier namens Livia und Sophia) findet einen neuen Mann. Doch dessen Tochter Clara ist eine Konkurrentin ihrer beiden neuen Stiefschwestern um den sozialen Aufstieg. Das Publikum erlebt die Liebesgeschichte zwischen Aschenputtel (hier namens Clara, wie in Tschaikowskys Nußknacker) und dem Prinzen (der Sohn des Großindustriellen) aus der Sicht von Livia, die zwar eine komplizierte Beziehung zu ihrer Stiefschwester hat, aber als positive Figur interpretiert wird, die letztendlich ihre Eifersucht überwindet und ebenfalls ein Happy-End bekommt.

Was ist zu sehen?
2013 war diese Choreographie eine Verbeugung vor dem Gelsenkirchner Reviermilieu, doch auch außerhalb des Ruhrpotts funktioniert die Inszenierung, die zwischen Kohlebergbau und Ballsaal spielt. Die Erzählung beginnt mit dem sozialen Abstieg der Mutter und ihrer beiden Töchter und dem Zusammenkommen der nun alleinerziehenden Mutter und einem neuem Versorger. Alba Nadal tanzt diese strenge und harte Mutter grandios ausdrucksstark und überzeugend, anfänglich scheint sie  demütig, in den entscheidenden Momenten setzt sie sich gegen den Mann durch und kämpft für eine bessere Zukunft ihrer Töchter, indem sie Disziplin und Gehorsam fordert. Aschenputtels Vater, sympathisch dargestellt und getanzt von José Urrutia kann sich gegen diese starke Persönlichkeit nicht durchsetzen. Seine Tochter Clara hat rußverschmierte Wangen und tanzt barfuß zu Akkordeonklänge. Rita Duclos tanzt Clara als unbeschwerte und optimistische junge Frau, deren Popularität durch ihre positive Ausstrahlung bewirkt wird.  Ihre Stiefschwestern sind in Ballettschuhen und leiden unter dem Druck, den ihre Mutter ausübt. Die ältere Tochter Livia ist die zentrale Figur dieser Choreographie, Francesca Berruto überzeugt und zeigt eine angespannte Frau, die mit der Erwartungshaltung ihrer Mutter hadert und unter dem Druck leidet. Die jüngeren Schwester Sophia (Sara Zinna) kann im Schatten Livias mehr Unbekümmertheit entwickeln.
Die Ballszene ist eine ironische Hommage an den klassischen Ballettstil. Der Prinz (Emiel Vandenberghe) heißt J.R. Prince (J.R. erinnert an den intriganten Ölproduzenten J.R. Ewing aus der 1980er TV-Soap Dallas) und ist der Sohn des Bergwerkbesitzers. Die Liebesszene zwischen ihm und Clara geschieht zu Klaviermusik, und zwar zu einem der schönsten Liebesduette der Oper: Mon cœur s'ouvre à ta voix aus Saint-Saëns Samson et Dalila in einer Version der Jazzmusikerin Nina Simone (- ein Duett, das musikalisch aufrichtig ist, aber bekanntlich szenisch ambivalent, denn Dalila täuscht ihre Liebe zu Samson nur vor, um Macht über ihn zu erhalten). Es öffnen sich Horizonte, Clara und J.R. kriegen das tradierte makellos glückliche Ende. Livia befreit sich vom familiären Zwang. Ihre Mutter gibt ihr ein Messer, um ihren Fuß so zu verstümmeln, daß er in den Schuh paßt. Livia wirft das Messer weg und geht ihren eigenen Weg. Ihre Befreiung ist tänzerisch intensiv von Berruto dargestellt, die innere Anspannung scheint sie zu zerreißen, doch mit Hilfe des Arbeiters Mitch (Ledian Soto) kann sie ihre Hemmungen ablegen, ihre Bewegungen werden harmonisch und frei, die Choreographie endet mit einer unbekümmerten, lachenden Livia.
Das Zuschauen macht Freude, die neue Karlsruher Kompagnie hat Klasse! 21 Tänzer sind beteiligt, jede solistische Rolle ist übrigens für die kommenden Vorstellungen mehrfach besetzt. Bühnenbild und Kostüme sind einfallsreich, bergbautypische Metallkörbe, die von oben an einem Gestell hängen, sind ein zentrales Element, in der Ballszene verwandeln sie sich zu Kronleuchtern. Drei fahrbare Wandelemente schaffen und begrenzen Räume.

Was ist zu hören?
Als Ballett ist Aschenputtel ist vor allem durch Prokofjews Cinderella bekannt, die hier allerdings nicht zum Einsatz kommt. Breiner kombiniert Musik aus ganz unterschiedlichen Sphären. Ironisch wird die Geschichte oft, wenn Ausschnitte aus Johann Strauß' unvollendet gebliebenem Ballett Aschenbrödel zu hören sind. Die musikalische Collage erhält weiterhin durch amerikanische Arbeiterlieder und von Marko Kassl grandios live gespielter Akkordeonmusik einen ganz eigenen Charakter.

Fazit: Wer Karten ergattert hat, darf sich freuen. Ein kurzweiliges, unterhaltsames und überraschendes Ballett, das Lust auf mehr macht.

PS: Prominenz bei der Premiere: Birgit Keil, Vladimir Klos, Achim Thorwald und Bruna Andrade waren im Publikum.

Besetzung und Team:  
Livia: Francesca Berruto  
Sophia: Sara Zinna        
Mutter Alba Nada
Clara: Rita Duclos
Vater: José Urrutia 
J. R. Prince: Emiel Vandenberghe 
Mitch: Ledian Soto

Choreografie & Inszenierung: Bridget Breiner
Einstudierung: Lynne Charles
Bühne & Kostüme: Jürgen Kirner
Licht: Patrick Fuchs
Akkordeon: Marko Kassl        

2 Kommentare:

  1. Eine sehr schöne Geschichte, die an diesem Abend erzählt wurde. Für mich auch eine vollkommen neue Sicht auf diese alte Geschichte. Tänzerisch toll, Bühnenbild und Kostüm gut. Und für mich schön, endlich mal wieder ein Ballett im kleinen Haus zu sehen (abgesehen von Choreografen stellen sich vor und Gastspielen der Akademie des Tanzes). Dieses kleine Haus hat durch seine offene Bühne und der Nähe aller Plätze zur Bühne einen ganz eigenen Charme. Auch Plätze in den hinteren Reihen sind immer noch absolut empfehlenswert und nah am Geschehen! Um so bedauerlicher, dass es diese Bühne, wenn die Sanierung denn mal beginnen sollte, nicht mehr lange existiert. Bietet sie doch ganz andere Möglichkeiten, wenn auch technische Einschränkungen, die die neue "Standard-Guckkasten-Bühne" nicht mehr bieten kann!
    Ich freue mich persönlich sehr, dass das Ballet anscheinend seine Qualität weiterhin behält und das Staatstheater trägt. Bridget Breiner macht -bis jetzt- augenscheinlich einen guten Job. Auch die Tänzerinnen und Tänzer des neuen Staatsballetts sind sehr gut und wirken für mich -positiv- deutlich heterogener in ihrer Erscheinung, als zu Birgit Keils Zeiten. Es ändert sich etwas, aber meiner Meinung nach nicht negativ!
    Ich hoffe auf weitere tolle Ballette, bin sehr gespannt auf Maria Stuart und hoffe, dass es auch nach der Spielzeit 20/21 wieder ein Ballett im kleinen Haus geben wird. Es ist einfach etwas ganz anderes als im großen Haus und etwas sehr Besonderes.

    AntwortenLöschen
  2. Vielen Dank für Ihren Kommentar. Ich gehe spartenübergreifend gerne ins Kleine Haus. Während der Intendanz von Pavel Fieber gab es dort Opernaufführungen, an die ich mich sehr gerne erinnere (Rossini, Donizettis Viva la mamma, die Händel-Festspiele waren in einer Fehlentscheidung Fiebers dorthin aufs Abstellgleis verbannt). Ruß funktioniert auch meines Erachtens im Kleinen Haus besser als auf einer größeren Bühne, man ist nahe dran, sieht alles, wird besser eingebunden. Regelmäßig Ballett im Kleinen Haus? Ich bin dabei, für Ruß habe ich mir bereits noch mal Tickets gesichert.

    Bridget Breiner profitiert von Birgit Keils Vorarbeit, das Ballett ist die beliebteste Sparte und das Publikum vorhanden, Breiner hat es bisher verstanden, das Publikum abzuholen und mitzunehmen. Es kommt darauf an, diese positive Stimmung zu erhalten. Maria Stuart hat den Willen zum spektakulären Ballettereignis - ich hoffe, Breiners Mut wird belohnt und ihr Ballett ein großer Erfolg, dann hat sie es definitiv geschafft und ist angekommen. In der nächsten Saison setzt man u.a. auf ein bewährtes Ballett - man hört, daß eine neue Giselle kommen könnte, und zwar von David Dawson, der Giselle 2008 als abendfüllendes Handlungsballett für das Ballett der Semperoper Dresden kreierte. Meine erste Reaktion war: schon wieder Giselle? Okay, aber ich habe die letzte Giselle noch sehr gut vor Augen und im Ohr, ich habe sie einige mal während Birgit Keils Ära gesehen und bin nicht unmittelbar motiviert. Ich hoffe, es geht nicht zu vielen wie mir, daß sich eine leichte Sättigung einstellt.

    In der Oper habe ich ein ähnliches Problem: es kommen zu viele Opern, die es erst vor wenigen Jahren gab, die ich noch vor meinem inneren Augen und Ohr sehe und höre. So vieles, was es lange nicht gab, fehlt weiterhin. Mich als Mehrfachgeher lockt man mit Abwechslung.

    AntwortenLöschen