Auf die mäßig besuchte Operettenpremiere der Lustigen Nibelungen folgte gestern ein ausverkauftes Konzert, das dem Karlsruher Publikum mit Schlagzeuger Martin Grubinger einen prominenten Rückkehrer bescherte. Nach der protestreichen Zerschlagung des renommierten SWR Symphonieorchesters Baden-Baden und Freiburg und der staatlichen Zwangsfusion mit den Stuttgarter Kollegen, nennt sich das Neugebilde SWR Symphonieorchester und gab gestern sein erstes Konzert am Badischen Staatstheater. Das Programm war nicht nur auf dem Papier publikumswirksam: es gab mal wieder ein nordisches Konzert mit finnisch-estnischer Musik.
Die Meditation Cantus in memoriam Benjamin Britten für Streichorchester und Glocke von Arvo Pärt eröffnete das Konzert. Das 1980 entstandene Konzert (vier Jahre nach dem Tod Brittens 1976) ist beliebt aus guten Grund: es ist eingänglich und wirksam, es beginnt leise und zurückhaltend und wird immer dringlicher, dichter und lauter und endet molto espressivo. Der Tod hat hier einen Stachel, der immer tiefer dringt. Auch gestern ging Pärt ging wie im Fluge vorbei, doch die Steigerung wirkte kaum, ein
Trauergesang war das nicht, weder fragil noch introspektiv und
keineswegs pathetisch. Ein zu sachlicher Beginn.
Schlagwerkkonzerte sind die zeitgenössischste Form des Klassikkonzerts und das aus gutem Grund. Der
rhythmisierte Ausdruck ist das Abbild des Homo oeconomicus, (Goethe nahm das in einem berühmten Gedicht vorweg: Du mußt steigen oder sinken / Du mußt herrschen und gewinnen / Oder dienen und verlieren / Leiden oder triumphieren / Amboß oder Hammer sein). Der
Schlagzeuger ist aber auch die Verkörperung des Multitasking-Prinzips, bei dem man sich
mehren Aufgaben gleichzeitig widmet bzw. der Musiker mit Händen und Füßen verschiedene Rhythmen und Schlagfolgen parallel ausführt. Der Spektakelwert des Konzerts
entspricht der Ereignis- und Selbstdarstellungssucht sozialer Netzwerke, die körperliche Anstrengung ist schweißtreibende "ehrliche" Arbeit und ein Sinnbild für die körperliche Fitness und Leistungsfähigkeit des Performers. Das alles prädestiniert das Schlagzeug als Trendkonzertinstrument.
Der finnische Komponist Kalevi Aho (*1949) hat das Konzert für Schlagwerk und Orchester Sieidi 2010 komponiert. Es ist fast 40 Minuten lang und sowohl beim Zuhören als auch beim Zuschauen ein spannendes Vergnügen. Siedi bedeutet Kultstätte, die Assoziation mit Strawinskys Sacre du printemps liegt nahe und wird eingelöst: entfesselte Passagen, brutale Schläge, wilde Rhythmen kontrastieren mit sanften Tönen, der Klang des großen Orchesters ist farbig, Pauken, Streicher, Blech- und Holzbläser kommen zur Geltung, das Spannungsniveau ist konstant hoch, und wenn man dann noch Martin Grubinger als Schlagzeuger hat, kann nichts schief gehen. Nach Frozen in Time gab er gestern seinen zweiten Auftritt und begeisterte das Publikum mit seiner sympathischen Art und hemdsärmligen Virtuosität. Komponist Kalevi Aho ist -wie andere Finnen und Balten- ein leider viel zu selten zu hörender zeitgenössischer Komponist - hoffentlich setzt man in Karlsruhe mal ein Werk von ihm auf die Konzertliste.
Es gibt nicht viele 2. Symphonien unter den zahllos vielen 2. Symphonien - Gustav Mahler und Johannes Brahms haben eine bemerkenswerte Zweite komponiert. Und auch die 1902 uraufgeführte 2. Symphonie von Jean Sibelius gehört in die absolute Spitzengruppe der Zweiten und vor allem das mitreißend großartige Finale muß begeistern und tat dies auch gestern. Das neue SWR Symphonieorchester spielte tadellos und wurde von einem Experten dirigiert. Finnland hat nicht nur große Komponisten, sondern auch zahllose international renommierte Dirigenten hervorgebracht, z.Bsp. Leif Segerstam, Jukka-Pekka Saraste, Esa-Pekka Salonen, Sakari Oramo, Paavo Berglund oder den Dirigenten des gestrigen Konzerts: Osmo Vänskä. Er dirigierte zwar über Pärt hinweg, hielt dann aber bei Aho die Zügel sicher in der Hand und dann gelang ihm ein geradliniger, schnörkelloser und zündender Sibelius. Ein starkes Konzert und viel Applaus - das SWR Orchester wird zukünftig hoffentlich wieder regelmäßig in Karlsruhe gastieren, Martin Grubinger ist ebenfalls jederzeit willkommen.
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.