Dauerhampeliade
Die gestrige Musical-Premiere von Shockheaded Peter - eine 1998 uraufgeführte "Junk-Oper nach Motiven aus Der Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann" - bringt über weite Strecken außer Gehopse und Gehampel nichts zuwege. Es gibt fahlen Klamauk, der schnell in ermüdendem Leerlauf stecken bleibt,
kontrastiert durch einen Pseudo-Ernst, der nicht makaber ist, etwas zu klebrige Sentimentalität und eine hysterische Überzeichnung, die schnell nervt. Manche schauspielerischen Einzelleistungen retteten den Abend vor der Pleite.
Pfui! Garst'ger Struwwelpeter!
Im Laufe der
Zeiten ändern sich die Meinungen über die richtigen Erziehungsmethoden
regelmäßig und häufig, wie zahllose Bücher zur Erziehungsberatung
belegen. Der Struwwelpeter des Frankfurter Arzts Heinrich Hoffmann
erschien 1845 und wurde ein internationaler Erfolg, in den folgenden 40
Jahren sollen eine Million Exemplare verkauft worden sein, inzwischen
soll eine zweistellige Millionenauflage längst erreicht sein. Die
Botschaft der Geschichten ist eindeutig: widerspenstige, trotzige und
quengelnde Kinder erleben Katastrophen, bspw. der Suppenkaspar
verhungert, Tierquäler Friedrich wird gebissen, das zündelnde Paulinchen
verbrennt, Hans Guck in die Luft fällt in den Fluß, dem Daumenlutscher
Konrad werden die Daumen abgeschnitten (angesichts der damaligen
hygienischen Zustände war Daumenlutschen ein Risiko und diese Episode
ein Mittel gegen die hohe Kindersterblichkeit). Die Pädagogen des
Biedermeier waren empört über den Anti-Idealismus und es wird
gelegentlich heute noch diskutiert, ob Märchen und Bildergeschichten
Kindern Angst machen oder sie viel effektiver und besser erreichen.
Albträume, Trennungsängste, Angst vor Dunkelheit, Fremden und Monstern -
viele Ängste sind typisch für kleine und große Kinder. Märchen und
Geschichten helfen Kinder, sie begreifen Symbole und lernen, daß
bedrohliche Situationen bewältigt werden können. Ängste
machen Kinder stark, wenn sie richtig kanalisiert werden. Heinrich
Hoffmann scheint mit seinem Buch ein Nachfolger ETA Hoffmanns zu sein.
Statt biedermeierlichem Friede, Freude, Eierkuchen, das Kindern die
dunklen Seiten vorenthält, erscheint mit dem Struwwelpeter eine Mischung
aus Groteske und romantische Schauergeschichte, die man als bizarre,
drastische Märchen interpretieren kann und die Kinder spielerisch auf den
Ernst des Lebens vorbereitet. Der Struwwelpeter handelt weder von
brutalen Erziehungsmethoden noch von der Unterdrückung von Kleinkinder,
sondern will Kinder vor den brutalen Folgen ihrer Ahnungslosigkeit
beschützen.
Was ist zu sehen (1)?
Das Programmheft kündigt ein "gruseliges Varieté" an, gruselig ist aber nur das Gehampel und Getue auf der Bühne. Man will "hauptsächlich die Lust am Horror zeigen, die Lust daran,
gefährliche Dinge zu tun .... die Lust zu sehen, wie jemand völlig
skurril, überhöht und absurd stirbt. Stichwort Geisterbahn". Doch eine Geisterbahn reicht bei einem Musical für Erwachsene nicht aus, um wirklich gruselig zu sein. Man treibt großen Aufwand, um mit einer visuell dominierten Inszenierung und atmosphärisch dichter Lichtgestaltung einen Publikumserfolg zu erzwingen, doch wer mehr verlangt als eine Abspu(h)lung von Nummern, der wird die Vorstellung schnell wieder vergessen. Der Regisseur erklärt: "Die Ästhetik ist natürlich sehr wichtig und
wir haben uns gemeinsam mit der Bühnenbildnerin Anike Sedello und der
Kostümbildnerin Dinah Ehm für eine zweidimensionale Ästhetik
entschieden, die an ein Bilderbuch oder ein Comic angelehnt ist. Das ist
sehr schrill und sehr farbig, aber auf eine Art trotzdem düster. Wir
haben sehr viele Requisiten, tatsächlich um die 100, die alle
zweidimensional sind. Außerdem sind das ganze Bühnenbild und die
Requisiten dem Malstil kleiner Kinder nachempfunden." Das "schräge" Musical ist dadurch visuell hinreichend abgebildet. Ein
Bühnengeschehen mit Effekten, Technik, Klang und aufwendigen Kostümen,
das zeigt, daß mehr dazugehört als Vorgeblichkeiten.
Was ist zu sehen (2)?
Kaum Pointen und zu viel gezwungene Absichtlichkeit - der Funke sprang selten über. In Shockheaded Peter sterben (anders als im Kinderbuch) alle Kinder -
schwarzer Humor angesichts dieser makaberen Konstellation mag die
Inszenierung allerdings kaum entwickeln. Die Episoden sind übertrieben
und zugespitzt - doch weder gelingen sie als Karikatur noch
funktionieren sie als als Gruselszenen für Erwachsene. "Für das Karlsruher Publikum haben der Regisseur Ekat Cordes und der
musikalische Leiter Clemens Rynkowski dieses .... Musical mit
inhaltlichen und musikalischen Bezügen ergänzt und aktualisiert". Man
vertraut also nicht dem Stück
und hat es musikalisch, textlich und szenisch ergänzt, man musiziert
z.B. Rammstein und anderes, läßt bspw. eine hysterische "Super-Nanny"
auftreten, nachdem ein gemobbtes Kind ein Massaker mit einer
Schnellfeuerwaffe begangen hat - eine als Aktualisierung eingefügte
Szenenfolge, die weder witzig noch makaber ist, die weder gruselig ist
noch schwarzen Humor entwickelt. Der Versuch der thematischen
Aktualisierung scheitert an einer begrenzten inszenatorischen
Perspektive, die nur das von der Welt kennt, was im Trash-TV und in
Sensationsmedien gesendet wird.
Was ist zu sehen (3)?
Irgendwann muß es jemandem aufgefallen sein,
wie stimmungs- und humorlos diese fortgesetzte Hampelei wirkt und ließ
deshalb manchen
Schauspielern Platz für ihre Shows. Und damit zu den wenigen gelungenen
Momenten: einzelne Akteure retten die
Vorstellung, insbesondere Jens Koch, der die stärkste Bühnenpräsenz
entwickelt und eine nicht zum Musical gehörende Solonummer abziehen
darf. Koch macht sich zum Clown, der übergewichtige Schauspieler setzt
seine Pfunde ein, um beim Tanzen Lacher zu erhalten, singt auf Englisch
anscheinend witzige Pop-Songs. Innerhalb des eigentlichen Musicals
schafft die talentierte Swana Rode als Paulinchen nach langem Leerlauf
den ersten bemerkenswerten Auftritt. Die Nummern-Revue lahmt lange, als größere Ensemble-Szene ist die von den Tiger Lillies erfundene Episode über die Bösen Buben bemerkenswert.
Was ist zu hören?
Eine "Mischung von französischem Kabarett, Kurt Weill und zentraleuropäischen Volksmusikklängen" erklärt das Programmheft. Die Musik von Martyn Jacques und den Tiger Lillies will schräg klingen, man greift das durch eine Vielzahl von Instrumenten, auch selbstgebauten auf, dennoch bleibt kein
einheitlicher Sound in Erinnerung, zu unterschiedlich war die
Zusammenstellung mit Pop-Songs. Immerhin gelangen einzelne Nummer atmosphärisch dicht, der Funke will allerdings öfters nicht überspringen, die Arrangements tönen ohne zu wirken.
Fazit: Seit der Intendanz-Übernahme von
Peter Spuhler wollen im Karlsruher Theater manche Dinge einfach nicht
gelingen: man ist nicht originell, man ist nicht komisch und man schafft
es nicht, den Zeitgeist zu hinterfragen. Schlechter kann es für
ein
Theater eigentlich nicht laufen.
PS: Der
immer wieder auftauchende Claqueur-Verdacht stand gestern erneut buchstäblich im Raum, denn fast alles
Gelächter kam im Parkett aus denselbem Bereich im Publikum, während es
anderswo still blieb.
Besetzung und Team
Theaterdirektorin: Ute Baggeröhr
Vater: Gunnar Schmidt
Mutter: Lisa Schlegel
Daumenschneider / Kinderfänger: Sven Daniel Bühler
Konrad, Struwwelpeter, Rote Beete, Kind: Tom Gramenz
Böser Friedrich, Hans Guck in die Luft: Alexander Küsters
Suppenkaspar, Zappelphillipp: Heisam Abbas
Paulinchen, Hummer 3: Swana Rode
Hirschkäfer, Lauch, Supernanny, Hummer 4: Lucie Emons
Jäger (=das gemobbte Kind), Made, Dr. Heinrich Hoffmann: Jens Koch
Storch 1, Fliege, Katze 1, Blutstropfen 1, Bunny 1, Hummer 1, Fliegender Robert: Aloysia Astari
Storch 2, Motte, Suppentüte, Katze 2, Blutstropfen 2, Bunny 2, Kind, Hummer 2: Lukas Strasheim
Swing für Aloysia Astari, Ute Baggeröhr und Lisa Schlegel: Amina Liedtke
Swing für Lukas Strasheim: Sandro Brosi
Kind mit der Zahnspange, Rettungssanitäterin: Anouk Bauer, Nathalie Meyers
Kind mit Gehilfen: Ben Rentz, Björn Grimm
Feuerwehrfrau, Rettungssanitäterin: Sarah Nelly Mettendorf, Sarah Samira Nassamou
Feuerwehrmann, Der Riese Niklas, Vampir: Elias Kettnaker, Theo Schweitzer
Kindergruppe: Kinderchor Cantus Juvenum
Regie: Ekat Cordes
Musikalische Leitung: Clemens Rynkowski
Choreografie: Sean Stephens
Bühne: Anike Sedello
Kostüme: Dinah Ehm
Licht: Rico Gerstner
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.
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Ich kann ihre Kritik voll nachvollziehen. Ich verstehe auch absolut nicht, warum so viele Popsongs eingearbeitet werden mussten. Aber dies scheint wohl leider bei Rynkowski normal zu werden (bei Broken Circle wurde ja auch vom Bluegrass teilweise Abstand genommen).
AntwortenLöschenAus diesem Stück hätte man meiner Meinung nach ein wunderbar düsteres Spektakel machen können. Die Bühne und das Licht gefallen auch größtenteils, aber bei der Umsetzung kann ich Ihrem Klamauk, Gehopse, usw leider nicht widersprechen. Aber wer hat bei "dem Erfolgsteam von Hair" auch an etwas mit Substanz geglaubt?
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Sie treffen den Nagel auf den Kopf: ich habe auch ein "düsteres Spektakel" erwartet, stattdessen sah ich ein klamaukiges Gehopse, das eher zur Rocky Horror Picture Show gehörte, und Pop-Songs, die meines Erachtens nicht paßten. (Broken Circle hat mich ebenfalls musikalisch ziemlich enttäuscht -Bluegrass ohne Bluegrass). Rammstein war als Ergänzung gestern passend düster, doch Spektakel fehlte. Hair muß ich dagegen in Schutz nehmen, das gelang stimmungsvoller, runder und zwar mit dem selben Humor, der gestern nervte.
LöschenSchade, aber nicht wirklich überraschend: "abseitigere", verquere Musicals wie dieses brauchen eigentlich einen intimeren Rahmen, eine kleinere Bühne, um ihre Wirkung voll entfalten zu können. Man denke nur an den intensiven Waits-Woyzeck im kleinen Haus zurück. Lang ist's her.
AntwortenLöschenVielen Dank Herr Kaspar! Man hat mir am Sonntag erzählt, daß das Badische Staatstheater eigentlich die Rocky Horror Picture Show zeigen wollte, aber die Rechte nicht für 2019/20 erhalten konnte. Shockheaded Peter scheint Ersatz, der tatsächlich im Kleinen Haus deutlich besser aufgehoben wäre. Der Erfolgsdruck eines Großes-Haus-Musicals war offensichtlich zu viel, lauter Klamauk alleine reicht nicht aus, das Stimmungselement kommt zu kurz. Waits Woyzeck ist ein guter Vergleich, Waits Black Rider war ca. 1996 im Großen Haus übrigens ein gelungenes Klamauk-Musical
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