Montag, 30. September 2019

The Tiger Lillies - Shockheaded Peter, 29.09.2019

Dauerhampeliade
Die gestrige Musical-Premiere von Shockheaded Peter - eine 1998 uraufgeführte "Junk-Oper nach Motiven aus Der Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann" - bringt über weite Strecken außer Gehopse und Gehampel nichts zuwege. Es gibt fahlen Klamauk, der schnell in ermüdendem Leerlauf stecken bleibt, kontrastiert durch einen Pseudo-Ernst, der nicht makaber ist, etwas zu klebrige Sentimentalität und eine hysterische Überzeichnung, die schnell nervt. Manche schauspielerischen Einzelleistungen retteten den Abend vor der Pleite.
  
Pfui! Garst'ger Struwwelpeter!  

Im Laufe der Zeiten ändern sich die Meinungen über die richtigen Erziehungsmethoden regelmäßig und häufig, wie zahllose Bücher zur Erziehungsberatung belegen. Der Struwwelpeter des Frankfurter Arzts Heinrich Hoffmann erschien 1845 und wurde ein internationaler Erfolg, in den folgenden 40 Jahren sollen eine Million Exemplare verkauft worden sein, inzwischen soll eine zweistellige Millionenauflage längst erreicht sein. Die Botschaft der Geschichten ist eindeutig: widerspenstige, trotzige und quengelnde Kinder erleben Katastrophen, bspw. der Suppenkaspar verhungert, Tierquäler Friedrich wird gebissen, das zündelnde Paulinchen verbrennt, Hans Guck in die Luft fällt in den Fluß, dem Daumenlutscher Konrad werden die Daumen abgeschnitten (angesichts der damaligen hygienischen Zustände war Daumenlutschen ein Risiko und diese Episode ein Mittel gegen die hohe Kindersterblichkeit). Die Pädagogen des Biedermeier waren empört über den Anti-Idealismus und es wird gelegentlich heute noch diskutiert, ob Märchen und Bildergeschichten Kindern Angst machen oder sie viel effektiver und besser erreichen. Albträume, Trennungsängste, Angst vor Dunkelheit, Fremden und Monstern - viele Ängste sind typisch für kleine und große Kinder. Märchen und Geschichten helfen Kinder, sie begreifen Symbole und lernen, daß bedrohliche Situationen bewältigt werden können. Ängste machen Kinder stark, wenn sie richtig kanalisiert werden. Heinrich Hoffmann scheint mit seinem Buch ein Nachfolger ETA Hoffmanns zu sein. Statt biedermeierlichem Friede, Freude, Eierkuchen, das Kindern die dunklen Seiten vorenthält, erscheint mit dem Struwwelpeter eine Mischung aus Groteske und romantische Schauergeschichte, die man als bizarre, drastische Märchen interpretieren kann und die Kinder spielerisch auf den Ernst des Lebens vorbereitet. Der Struwwelpeter handelt weder von brutalen Erziehungsmethoden noch von der Unterdrückung von Kleinkinder, sondern will Kinder vor den brutalen Folgen ihrer Ahnungslosigkeit beschützen.
  
Was ist zu sehen (1)?
Das Programmheft kündigt ein "gruseliges Varieté" an, gruselig ist aber nur das Gehampel und Getue auf der Bühne. Man will "hauptsächlich die Lust am Horror zeigen, die Lust daran, gefährliche Dinge zu tun .... die Lust zu sehen, wie jemand völlig skurril, überhöht und absurd stirbt. Stichwort Geisterbahn". Doch eine Geisterbahn reicht bei einem Musical für Erwachsene nicht aus, um wirklich gruselig zu sein. Man treibt großen Aufwand, um mit einer visuell dominierten Inszenierung und atmosphärisch dichter Lichtgestaltung einen Publikumserfolg zu erzwingen, doch wer mehr verlangt als eine Abspu(h)lung von Nummern, der wird die Vorstellung schnell wieder vergessen. Der Regisseur erklärt: "Die Ästhetik ist natürlich sehr wichtig und wir haben uns gemeinsam mit der Bühnenbildnerin Anike Sedello und der Kostümbildnerin Dinah Ehm für eine zweidimensionale Ästhetik entschieden, die an ein Bilderbuch oder ein Comic angelehnt ist. Das ist sehr schrill und sehr farbig, aber auf eine Art trotzdem düster. Wir haben sehr viele Requisiten, tatsächlich um die 100, die alle zweidimensional sind. Außerdem sind das ganze Bühnenbild und die Requisiten dem Malstil kleiner Kinder nachempfunden." Das "schräge" Musical ist dadurch visuell hinreichend abgebildet. Ein Bühnengeschehen mit Effekten, Technik, Klang und aufwendigen Kostümen, das zeigt, daß mehr dazugehört als Vorgeblichkeiten.

Was ist zu sehen (2)?
Kaum Pointen und zu viel gezwungene Absichtlichkeit - der Funke sprang selten über. In Shockheaded Peter sterben (anders als im Kinderbuch) alle Kinder - schwarzer Humor angesichts dieser makaberen Konstellation mag die Inszenierung allerdings kaum entwickeln. Die Episoden sind übertrieben und zugespitzt - doch weder gelingen sie als Karikatur noch funktionieren sie als als Gruselszenen für Erwachsene. "Für das Karlsruher Publikum haben der Regisseur Ekat Cordes und der musikalische Leiter Clemens Rynkowski dieses .... Musical mit inhaltlichen und musikalischen Bezügen ergänzt und aktualisiert". Man vertraut also nicht dem Stück und hat es musikalisch, textlich und szenisch ergänzt, man musiziert z.B. Rammstein und anderes, läßt bspw. eine hysterische "Super-Nanny" auftreten, nachdem ein gemobbtes Kind ein Massaker mit einer Schnellfeuerwaffe begangen hat - eine als Aktualisierung eingefügte Szenenfolge, die weder witzig noch makaber ist, die weder gruselig ist noch schwarzen Humor entwickelt. Der Versuch der thematischen Aktualisierung scheitert an einer begrenzten inszenatorischen Perspektive, die nur das von der Welt kennt, was im Trash-TV und in Sensationsmedien gesendet wird.
 
 
Was ist zu sehen (3)?
Irgendwann muß es jemandem aufgefallen sein, wie stimmungs- und humorlos diese fortgesetzte Hampelei wirkt und ließ deshalb manchen Schauspielern Platz für ihre Shows. Und damit zu den wenigen gelungenen Momenten: einzelne Akteure retten die Vorstellung, insbesondere Jens Koch, der die stärkste Bühnenpräsenz entwickelt und eine nicht zum Musical gehörende Solonummer abziehen darf. Koch macht sich zum Clown, der übergewichtige Schauspieler setzt seine Pfunde ein, um beim Tanzen Lacher zu erhalten, singt auf Englisch anscheinend witzige Pop-Songs. Innerhalb des eigentlichen Musicals schafft die talentierte Swana Rode als Paulinchen nach langem Leerlauf den ersten bemerkenswerten Auftritt. Die Nummern-Revue lahmt lange, als größere Ensemble-Szene ist die von den Tiger Lillies erfundene Episode über die Bösen Buben bemerkenswert.

Was ist zu hören?
Eine "Mischung von französischem Kabarett, Kurt Weill und zentraleuropäischen Volksmusikklängen" erklärt das Programmheft. Die Musik von Martyn Jacques und den Tiger Lillies  will schräg klingen, man greift das durch eine Vielzahl von Instrumenten, auch selbstgebauten auf, dennoch bleibt kein einheitlicher Sound in Erinnerung, zu unterschiedlich war die Zusammenstellung mit Pop-Songs. Immerhin gelangen einzelne Nummer atmosphärisch dicht, der Funke will allerdings öfters nicht überspringen, die Arrangements tönen ohne zu wirken.

Fazit: Seit der Intendanz-Übernahme von Peter Spuhler wollen im Karlsruher Theater manche Dinge einfach nicht gelingen: man ist nicht originell, man ist nicht komisch und man schafft es nicht, den Zeitgeist zu hinterfragen. Schlechter kann es für ein Theater eigentlich nicht laufen.  
   
PS: Der immer wieder auftauchende Claqueur-Verdacht stand gestern erneut buchstäblich im Raum, denn fast alles Gelächter kam im Parkett aus denselbem Bereich im Publikum, während es anderswo still blieb.
  
Besetzung und Team
Theaterdirektorin: Ute Baggeröhr
Vater: Gunnar Schmidt
Mutter: Lisa Schlegel
Daumenschneider / Kinderfänger: Sven Daniel Bühler
Konrad, Struwwelpeter, Rote Beete, Kind: Tom Gramenz
Böser Friedrich, Hans Guck in die Luft: Alexander Küsters
Suppenkaspar, Zappelphillipp: Heisam Abbas
Paulinchen, Hummer 3: Swana Rode
Hirschkäfer, Lauch, Supernanny, Hummer 4: Lucie Emons
Jäger (=das gemobbte Kind), Made, Dr. Heinrich Hoffmann: Jens Koch
Storch 1, Fliege, Katze 1, Blutstropfen 1, Bunny 1, Hummer 1, Fliegender Robert: Aloysia Astari
Storch 2, Motte, Suppentüte, Katze 2, Blutstropfen 2, Bunny 2, Kind, Hummer 2: Lukas Strasheim
Swing für Aloysia Astari, Ute Baggeröhr und Lisa Schlegel: Amina Liedtke
Swing für Lukas Strasheim: Sandro Brosi
Kind mit der Zahnspange, Rettungssanitäterin: Anouk Bauer, Nathalie Meyers
Kind mit Gehilfen: Ben Rentz, Björn Grimm
Feuerwehrfrau, Rettungssanitäterin: Sarah Nelly Mettendorf, Sarah Samira Nassamou
Feuerwehrmann, Der Riese Niklas, Vampir: Elias Kettnaker, Theo Schweitzer
Kindergruppe: Kinderchor Cantus Juvenum

Regie: Ekat Cordes
Musikalische Leitung: Clemens Rynkowski
Choreografie: Sean Stephens
Bühne: Anike Sedello
Kostüme: Dinah Ehm
Licht: Rico Gerstner

4 Kommentare:

  1. Ich kann ihre Kritik voll nachvollziehen. Ich verstehe auch absolut nicht, warum so viele Popsongs eingearbeitet werden mussten. Aber dies scheint wohl leider bei Rynkowski normal zu werden (bei Broken Circle wurde ja auch vom Bluegrass teilweise Abstand genommen).
    Aus diesem Stück hätte man meiner Meinung nach ein wunderbar düsteres Spektakel machen können. Die Bühne und das Licht gefallen auch größtenteils, aber bei der Umsetzung kann ich Ihrem Klamauk, Gehopse, usw leider nicht widersprechen. Aber wer hat bei "dem Erfolgsteam von Hair" auch an etwas mit Substanz geglaubt?

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Vielen Dank für Ihren Kommentar. Sie treffen den Nagel auf den Kopf: ich habe auch ein "düsteres Spektakel" erwartet, stattdessen sah ich ein klamaukiges Gehopse, das eher zur Rocky Horror Picture Show gehörte, und Pop-Songs, die meines Erachtens nicht paßten. (Broken Circle hat mich ebenfalls musikalisch ziemlich enttäuscht -Bluegrass ohne Bluegrass). Rammstein war als Ergänzung gestern passend düster, doch Spektakel fehlte. Hair muß ich dagegen in Schutz nehmen, das gelang stimmungsvoller, runder und zwar mit dem selben Humor, der gestern nervte.

      Löschen
  2. Schade, aber nicht wirklich überraschend: "abseitigere", verquere Musicals wie dieses brauchen eigentlich einen intimeren Rahmen, eine kleinere Bühne, um ihre Wirkung voll entfalten zu können. Man denke nur an den intensiven Waits-Woyzeck im kleinen Haus zurück. Lang ist's her.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Vielen Dank Herr Kaspar! Man hat mir am Sonntag erzählt, daß das Badische Staatstheater eigentlich die Rocky Horror Picture Show zeigen wollte, aber die Rechte nicht für 2019/20 erhalten konnte. Shockheaded Peter scheint Ersatz, der tatsächlich im Kleinen Haus deutlich besser aufgehoben wäre. Der Erfolgsdruck eines Großes-Haus-Musicals war offensichtlich zu viel, lauter Klamauk alleine reicht nicht aus, das Stimmungselement kommt zu kurz. Waits Woyzeck ist ein guter Vergleich, Waits Black Rider war ca. 1996 im Großen Haus übrigens ein gelungenes Klamauk-Musical

      Löschen