Sonntag, 30. Juni 2019

Debussy - Pelléas et Mélisande, 29.06.2019

Ein theoretisches Meisterwerk der praktischen Langeweile
Pelléas et Mélisande (UA 1902) ist eine ambitionierte und ungewöhnliche Oper, die dafür berüchtigt ist, außergewöhnlich langweilig zu sein. Bei der letzten Aufführung im Badischen Staatstheater -einem Gastspiel der Straßburger Oper im März 1991- leerten sich nach der Pause die Plätze merklich, zäh wie ausgekauter Kaugummi zog sich die Vorstellung, und das ist eine Erfahrung, die man bei Inszenierungen der einzigen Oper Debussys mehrheitlich machen kann. Die rätselhafte Handlung beinhaltet kaum Höhepunkte und Zuspitzungen, es geht emotional und psychologisch leise und subtil zu, auch akustisch findet man nur sehr wenige Fortissimos. Das Klangbild ist in einem Maße vergeistigt und kann beim Zuhören so entmaterialisiert wirken, daß es quasi substanzlos klingt - manch einer mag das lyrisch, meditativ oder sogar spirituell nennen, andere werden es als undramatisch und blutleer beschreiben,  "eine Art von dünnem poetischen Aufguß .... bei dem man nicht recht weiß, warum die Konflikte eintreten, unglaubwürdig, wie sie werden, wenn sie sich zwischen Personen entwickeln, die nie ein Wort lauter als das andere aussprechen dürfen", so benannte der Komponist und Dirigent Pierre Boulez diese Vorbehalte gegen die ca. 150-minütige Oper. Ein hellhöriger deutscher Musikkritiker bezeichnete zu Beginn des letzten Jahrhunderts und wenige Jahre nach der Uraufführung Debussys Oper als "ein Werk von prinzipieller Bedeutung". Die Karlsruher Oper nähert sich diesem prinzipiell bedeutsamen Werk auf engagierte Weise, musikalisch und sängerisch ist man sehr gut aufgestellt, gegen die praktische Langeweile dieser Oper kommt man dennoch kaum an.  
 
Worum geht es?

Ein lyrisches Drama in fünf Akten, eine Handlung aus vergangenen Zeiten. Golaud und Pelléas sind Halbbrüder, ihre Mutter Geneviève ist die Tochter von Arkel, dem König von Allemond. Der verwitwete Golaud findet im Wald die geheimnisvolle Mélisande und nimmt sie zur Frau. Als er sechs Monate später nach Hause zurückkehrt, verlieben sich Pelléas und Mélisande ineinander. Der eifersüchtige Golaud tötet seinen Halbbruder, die schwangere Mélisande stirbt bei der Geburt ihrer Tochter.

Was ist zu beachten?
2018 war ein Debussy-Jahr, der französische Komponist (*1862 †1918) starb hundert Jahre zuvor, Anlaß genug für das Badische Staatstheater dessen selten gespieltes lyrisches Drama Pelléas et Mélisande nicht neu zu inszenieren, sondern eine Produktion des Opernhauses im schwedischen Malmö einzukaufen und leicht verspätet nachträglich Debussy zu gedenken. Regisseur Benjamin Lazar hat in Karlsruhe schon zwei originelle und geschmackvolle Regie-Arbeiten gezeigt, bei denen er besonders Wert auf Stimmung und Atmosphäre setzte.
   
Was ist zu sehen?
Regisseur Lazar findet den szenischen Zugang über das Bühnenbild - ein tiefer, undurchdringlich wirkender dunkler Wald als Metapher für die Unergründlichkeit des Existentiellen, das Leben als psychologische Verdrängung, Traum und Abgrund, "wo der Traum nie willkürlich, sondern immer auch ein Hinweis auf das wirkliche Leben ist, das pausenlos in den Traum hinüberwechselt, aber auch auf den Traum selbst, der auf erschütternde Weise immer wieder offenbart, wie das wirkliche Leben aussieht. ... Deshalb haben wir uns entschieden, Golauds erste Äußerung in der Oper wörtlich zu nehmen: Ich werde diesem Wald nicht mehr entkommen.", erläutert der Regisseur. Die konkreten Handlungsorte der Oper analysiert Lazar auch als "Seelenräume", etwas Sonderbares liegt über der Geschichte, doch die Regie will dem nicht auf den Grund gehen. Der Stoff ist in eine mysteriöse Neuzeit verlegt, die Kostüme erinnern an die 1970er in französischen oder skandinavischen Filmen, "Kostümbildner Alain Blanchot hat diesen Wald mit einer dekadenten Aristokratenfamilie aus den 1970er Jahren bevölkert, deren Ruhm verblaßt, deren Zeit vorbei ist.", eine Familie, die "ihrem eigenen Teufelskreis nicht entkommt, daß sich alle schrecklichen Dinge, die schon passiert sind, wiederholen, sobald Golaud Mélisande auf das Schloß bringt und die Rivalität der Halbbrüder in Gang gesetzt wird."
Viele schöne Worte, doch ohne Konsequenz. Es passiert nicht viel, Regisseur Lazar erzählt weder eine Geschichte noch interessiert ihn eine psychologische Interpretation oder die Unfähigkeit der Figuren, miteinander zu kommunizieren. Nichts wird gedeutet oder auf die Spitze getrieben, Lazar beschränkt sich auf ein geschmackvolles Bebildern von Szenen und Stimmungen. Eine spröde Oper wird zäh interpretiert - statt Benjamin Lazar wäre Tobias Kratzer wahrscheinlich die spannendere Wahl, um dieser Oper Leben einzuhauchen.
  
Was ist zu hören (1)?
Musikalisch ist diese Oper einen Gegenentwurf zu Richard Wagner, dessen Opern sind pastos, expressionistisch und laut: akustisch, emotional, psychologisch - starke Emotionen, Charaktere und Kontraste, aufgeladene Atmosphäre und heftige Kollisionen.  Debussy ist dagegen leise und zurückhaltend, seine Oper ist weder theatralisch noch exhibitionistisch, sondern intim und inwendig, fragil und subtil und klingt durch feine Abstufungen ewig plätschernd, wie eine natürliche Wellenbewegung. Pelléas et Mélisande wirkt wie die Komposition eines impressionistischen Lyrikers, stimmungsillustrativ wie ein Gedicht, doch kaum illusionistisch bemüht Wirkung zu erzielen, wie es in Richard Wagners Opern zelebriert wird. Debussys Begründung für das Thema: 'Ich träumte von Dichtungen ... in denen die Figuren nicht diskutieren, sondern ihr Leben und Schicksal erleiden'. Etwas Schicksalhaftes und Unbewußtes, das nicht entschlüsselt werden kann, Situationen im Nebel (oder hier im dunklen Wald), symbolistisch und geheimnisvoll  - musikalisch gelingt dieses akustisch untermalende Imnebel- und Inderschwebehalten Dirigent Johannes Willig und der Badischen Staatskapelle außergewöhnlich gut, man kann immer wieder zuhören, die Handlung ausblenden und sich auf die Musik konzentrieren, als ob eine symphonische Dichtung mit Gesang erklingt.

Was ist zu hören (2)?
Für die Sänger gibt es wenig zu gewinnen, es wird schön deklamiert und gut gespielt, eine geschlossene Ensembleleistung auf sehr gutem Niveau. Alexandra Kadurina ist als traumatisierte Mélisande eine sehr gute Wahl, attraktiv, scheu, mysteriös und unglücklich. Als melancholischer Pelléas singt Bariton Guliame Andrieaux mit junger und ausdrucksvoller Stimme, der eifersüchtige Golaud bekommt von Renatus Meszar verzweifelte Dringlichkeit, Vazgen Gazaryan überzeugt als Arkel, Ilkin Alpay als Yniold und Katharine Tier als Geneviève.
  
Fazit: Eine ungewöhnlich schlecht besuchte Premiere, halbleer könnte man sich vorwurfsvoll in Richtung Operndirektion beschweren, in diesem Fall sollte man den Blickwinkeln ändern: immerhin halbvoll, und das bei diesem spröden Werk. Der praktische Opernsachverstand verzichtete, der theoretisch interessierte Opernsachverstand kam. Leidenschaftliche Begeisterung wird Pelléas et Mélisande wohl nie auslösen.
    
PS (1): Pelléas et Mélisande ist nächste Saison im Operngala-Abo. Eine diskutable Entscheidung. Man muß schon sehr attraktive Namen aufbieten, um zu vermeiden, daß die Aufführung am 01.02.2020 sehr leer sein wird.

PS (2): In dieser Spielzeit gibt es noch zwei weitere Aufführungen, dann verschwindet Pelléas et Mélisande für ca. sechs Monate und wird erst wieder von Januar bis April 2020 weitere sechsmal aufgeführt, mehr als neun Vorstellungen sind für diese Oper nicht geplant - man scheint am Badischen Staatstheater um die spröde Beschaffenheit dieses lediglich prinzipiell interessanten Werks zu wissen. Mozarts Lucio Silla wurde letztes Jahr einstudiert, um nach drei Aufführungen zu verschwinden - da liegt mal wieder einiges im Argen in der Karlsruher Oper, Mozart hätte mehr Zuschauer gebracht als Debussy.

Besetzung und Team:
Pelleas: Guilliaume Andrieaux
Melisande: Alexandra Kadurina
Golaud: Renatus Meszar
Arkel: Vazgen Gazaryan
Geneviève: Katharine Tier
Yniold: Ilkin Alpay
Ein Arzt / Stimme des Hirten : Yang Xu

Musikalische Leitung: Johannes Willig
Regie: Benjamin Lazar
Bühne: Adeline Caron
Kostüme: Alain Blanchot
Maske: Mathilde Benmoussa
Licht: Mael Iger
Chorleitung: Marius Zachmann

6 Kommentare:

  1. Danke für die, wie immer zutreffenden kritischen Ausführungen über die Premiere, denen ich in allen Punkten zustimmen kann. Wir erlebten eine Operninszenierung in der man immer wieder gegen ein aufkommende Schlummerbedürfnis ankämpfte. Die Wahl eines einheitlichen dunklen Szenenbild mit nur kaum aufblitzenden Lichtblicke ist wohl die zentrale Botschaft der psychischen Verstrickungen. C. Debussy war kein Opernkomponist. In Konkurrenz zur Übermacht Wagners und der italienischen Komponisten ist ihm schwer gefallen, effektvolle Handlungsdramen in Musik umzusetzen, die das Publikums in den Bann zieht. Dennoch stimme ich Ihnen zu, dass
    Orchester und Solisten unter der Leitung von Willig hervorragend musiziert haben. Danke für Ihre Kommentare, die ich eifrig und mit großem Interesse verfolge.

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    1. Vielen lieben Dank für Ihren Kommentar. Ein dunkles Bühnenbild als Metapher für dunkle psychische Verstrickungen von Figuren, die ihr Schicksal erdulden scheint mir Debussy gerecht zu werden, publikumsgerecht kann ich es in meinem Fall nicht bezeichnen, das Schlummerbedürfnis gewann auch bei mir die Oberhand.

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  2. Ich habe mich lange um "Pelleas" gedrückt - aber als ich die Kosky-Inszenierung in Straßburg gesehen habe, war ich auch vom Werk selber durchaus angetan. Die Produktion läuft (noch) in Mannheim, ein Besuch lohnt.

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    1. Vielen lieben Dank für den Tipp. Vielleicht gebe ich Debussy in der kommenden Spielzeit noch mal eine (letzte) Chance.

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  3. Für Interessierte eine Ergänzung zu meinem Kommentar zu "Künstlerkarussel" vom 31.5.: Ich fand das alte Autogramm von Frau Bjoner anlässlich der "Frau ohne Schatten" aus dem Jahr 1990: Dort sang Ingrid Bjoner die Färberin in Karlsruhe und nahm hiermit - was viele nicht wissen - tatsächlich in KA still und leise den Abschied von der Bühne. Richtig, Sie war damals 63 und nicht 70 Jahre alt.

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  4. @anonym: Ihren Kommentar hab ich zu Künstlerkarussell verschoben

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