Montag, 9. Juli 2018

Mozart - Lucio Silla, 08.07.2018

Opera Seria als bizarrer Psychothriller und Gothic Opera
Tobias Kratzer (mehr zu seiner Arbeit hier) ist die Regie-Entdeckung der letzten Jahre, seine Inszenierungen kombinieren scharfsinnig moderne Entsprechungen mit einfallsreichen Umsetzungen und sind hochgradig diskutabel, man kann sich über sie aufregen und/oder begeistern - Langeweile stellt sich sehr selten ein. 2019 wird der Regisseur in Bayreuth Tannhäuser in Szene setzen. Bei Mozarts Lucio Silla unterbietet Kratzer seine bisherigen Leistungen, die Assoziationsfäden knüpfen sich zu keinem konsistenten Erzählstrang, sein Konzept ist nur über die Oper gestülpt und schmiegt sich wenig an. Unterhaltsam ist es dennoch als unheimlicher Blick auf psychopathologische Abgründe, denn im Umfeld höchster Macht entwickeln sich hier "hochgradige Persönlichkeitsstörungen". Dem Publikum gefiel es, denn vor allem sängerisch und musikalisch waren die Leistungen nicht nur wegen Franco Fagioli bravourös.

Worum geht es?
Lucio Silla, oder genauer Lucius Cornelius Sulla (Händel komponierte 1713 für London die Oper Lucio Cornelio Silla), oft kurz Sulla (ca. 138 v. Chr. - 78 v. Chr.) war in der römischen Republik Feldherr und Diktator auf Zeit, dessen Herrschaft als grausam galt. Sulla zog sich freiwillig von allen seinen Ämtern zurück und wurde aus freien Stücken zum Privatmann. In der Oper hat Silla den Senator Cecilio verbannt, der mit Giunia, der Tochter Gaius Marius -eines toten Rivalen und Feind Sillas-, verlobt ist. Silla hat selber die Absicht, Giunia zu heiraten und hat sie in sein Haus aufgenommen. Giunia hält Cecilio für tot, Cecilios Freund Cinna (der Sillas Schwester Celia heiraten will und die Verschwörung gegen Silla einfädelt) bringt ihn mit seiner Verlobten heimlich zusammen. Ein Mordanschlag auf Silla schlägt fehl, Cecilio landet im Kerker, Giunia will mit ihm sterben. Cinna und Celia setzen sich bei Silla für beide ein. Die Oper endet mit dem typisch unvermutetem Lieto fine / Happy-End: Silla begnadigt Cecilio, läßt die Liebenden heiraten und zieht sich aus seinem Amt zurück.

Historisches
Wolfgang Amadeus Mozart (*1756 †1791) hat vergleichsweise wenige Opern komponiert, zählt man die Singspiele hinzu sind es 18 vollendete Bühnenwerke, andere Komponisten der Epoche bekamen deutlich mehr Aufträge. Lucio Silla ist Mozarts achte Oper und nach Mitridate (UA Mailand 1770) dessen zweite Opera Seria, uraufgeführt 1772 in Mailand. Wie alle zehn Opern Mozarts, die zwischen 1767 und 1775 entstanden, bekommt auch Lucio Silla gerne den Makel "Jugendoper" angehängt. Erst mit Idomeneo (1781) und der Entführung aus dem Serail (1782) beginnt die "reife" Phase. Dabei wird gerne übersehen, daß Mitridate mit 23 Aufführungen und Lucio Silla mit 26 große Erfolge waren.
Lucio Silla ist eine Oper für 2 Tenöre, drei Soprane und einen Kastraten. Die Rolle des Cecilio sang 1772 der Kastrat Venanzio Rauzzini, dem zahlreiche Affären mit verheirateten Frauen nachgesagt wurden. Die Popstars des 18. Jahrhunderts waren als zeugungsunfähige Liebhaber begehrt. Die Rolle des Cecilio mit Franco Fagioli zu besetzen, ist eine dankenswerte Entscheidung des scheidenden Operndirektors Michael Fichtenholz.

Was ist zu sehen?
Regisseur Kratzer analysiert im Programmheft seinen Ausgangspunkt: "Die Metaphorik der Arien kreist um Todessehnsucht", Lucio Silla ist "fast schon eine proto-romantische Oper. Eine gothic opera, die virtuos auf dem schmalen Grad zwischen politischer Sehnsucht, zwischen diesseitiger Liebe und Nekrophilie changiert". Kratzer suchte nach den passenden populär-medialen Entsprechungen und fand stattdessen ein Genre, aus dem er sich mit vielen Anleihen bediente. Auf der Drehbühne steht ein modern designter, schicker, gläserner Bungalow mit Jalousien und zahlreichen Überwachungskameras in einem Wald, der wie eine Wochenendresidenz eines wohlhabenden Politikers wirken soll. Man ist im Hier und Heute. Zur Ouvertüre sieht man eine Filmeinspielung: John F. Kennedy, Trump, Putin, Kim Jong Un, Charlie Chaplin im großen Diktator  - Politiker und Despoten, Bilder der Macht(phantasien) und der Selbstinszenierung. Lucio Silla wird in dieses Bild nicht passen, er präsentiert kein nach außen inszeniertes Selbstbild, sondern hat  ein persönliches Geheimnis, das ihm die Amtsführung nicht erleichtert. Regisseur Tobias Kratzer hat für den Diktator Lucio Silla ein modernes Sinnbild gefunden: der Despot als Blutsauger, doch bezieht sich dies nicht auf die politische Sphäre, sondern auf das Private. Vampire haben in den letzten beiden Jahrzehnten in zahlreichen Filmen und Serien ihre Wiederauferstehung erlebt, Silla ist ein Vampir und ein Filme anschauender Voyeur und Vergewaltiger (Giunia ist sein Opfer). Cecilio erschießt ihn mehrfach, aber der Untote steht immer wieder auf. Auch beißt er schon mal zu und trinkt Blut, er verwandelt Giunia, die wiederum Cecilio beißt. Kratzer will das "Psychogramm eines Narzissten" zeigen, "Kontrollzwang und Überwachung, bei gleichzeitigem Mißtrauen gegenüber dem engsten Umfeld. Und ein vollständiges Unvermögen, die Neigungen Dritter zu verstehen" kennzeichnen Silla. Sein totaler Rückzug am Ende ist dann sowohl eine überraschende Herzensregung als auch erzwungen, die Polizei rückt an und verhaftet Silla ohne Gegenwehr, sogar Vampire unterliegen überraschenderweise der Macht der Ordnungshüter. Zuvor -bei Cinnas Arie "De più superbi il core"- sieht man, wie Silla die Videoaufnahmen eines gewalttätigen Ausbruchs ansieht -er schlägt Giunia brutal zu Boden- und beginnt Scham und Abscheu vor sich selbst zu spüren. Silla als Vampir? Oder Silla als psychisch Gestörter? Was für eine Obsession und Pathologie hinter dieser Person stecken könnte, erkennen wahrscheinlich nur Psychiater, Sinn und Zweck der Blutsauger-Laune werden kaum ersichtlich und finden auch keine zufriedenstellende Auflösung.
Die übrigen Figuren bleiben ungewöhnlich blaß. Sillas Schwester Celia ist als "kleine Schwester festgelegt, wie autistisch eingekapselt", sie spielt stets mit Barbie-Puppen und Puppenhaus - eine Verweigerung in die Erwachsenenwelt einzutreten. "Ihre Schwärmerei für Cinna ... bleibt mehr lyrische Empfindung als wirkliches Begehren: die Hoffnung auf eine Ausbruchsbewegung, die auch sie aus dem Kokon ihres Ichs befreien könnte". Cinna ist "ein politischer Gegner, der sich nur deshalb bis zur „rechten Hand“ des Diktators hochgearbeitet hat, um ihn aus nächster Nähe stürzen zu können".
Was Kratzer mit der Figur des Cecilio beabsichtige, bleibt hingegen unklar, mit Jeans und karierten Hemd will die Figur nicht ins Ambiente passen und erinnert bestenfalls an den hemdsärmligen Helden aus amerikanischen Kinofilmen. Giunia ist als tapferes Opfer ebenfalls einseitig ausgelegt. Der gut aufgelegte Chor erinnert an eine Mischung aus trashigen Vampir- und Zombie-Vorbildern.
Das klingt als erzähltes Regietheater unausgegoren und wirr, dennoch -und das ist ein typisches Kratzer-Erlebnis- es funktioniert, wenn auch diesmal nur gerade so und mit bestem Willen. Die Handlung (der "Plot") mit ihren kratergroßen Lücken mag berechtigterweise skeptisch stimmen, wie die Geschehnisse (die "Action") um die Figurenkonstellationen erzählt und verknüpft werden, überzeugt als spannender Thriller mit billigem Happy-End. Die 23 Nummern der Oper werden kaum lang, weil Kratzer im Hintergrund viel passieren läßt. Die Opera Seria gilt oft als sängerische Virtuositätsdarstellung ohne psychologischen Charakter, Kratzer verbindet Psyche und Dacapo-Arie zu einer Studie, die man nicht mögen muß, der man aber gespannt folgt - darin erinnert Kratzers Interpretation an eine Mischung von Hitchcock Filmen (bspw. Psycho und Frenzy). Anleihen aus Hollywood-Filmen scheinen sich szenisch einige zu finden: das Glashaus im Wald könnte aus der Twilight-Verfilmung stammen, Cinna erinnert vom Aussehen an die Malfoys aus Harry Potter, Aufidio könnte im Tanz der Vampire mitspielen.

Was ist zu hören?

Was für eine schöne sängerische und musikalische Umsetzung!
Mozarts Oper ist nach dem Bösewicht benannt, die Hauptfigur ist allerdings Giunia. Ekaterina Lekhina ist als aufrechte, standhafte und gequälte Giunia eine sehr gute Besetzung - ein dramatischer Koloratursopran, der sich mit agiler und höhensicherer Stimme vor keiner Stimmakrobatik zu scheuen braucht. Franco Fagioli als Cecilio ist der Star und Publikumsmagnet der drei Vorstellungen im Juli 2018. Bereits bei seiner schweren Auftrittsarie "Il tenero momento" zeigt Fagioli Bandbreite und Beweglichkeit seiner Stimme, "Ah se a morir mi chiama" überzeugte durch Furor und Tempo. Musikalisch hat Mozart der Figur des Silla wenig Interessantes komponiert, der 1772 vorgesehene Tenor mußte absagen, der Ersatz hatte kaum Opernerfahrung - die Arien der Titelfigur sind ohne Höhepunkte. Als Lucio Silla hat man mit James Edgar Knight einen sehr jungen Tenor gewählt, der stimmlich gerne mit viel Pathos arbeitet und für die Rolle des hier sehr jungen Herrschers die perfekte Ausstrahlung mitbringt. Die bisher in Heidelberg tätige und zukünftig in Dortmund singende Irina Simmes ist als Cinna die souverän singende Überraschung. Bei den Schwetzinger Winterfestspielen sang sie regelmäßig in Barockopern, ihr ausdrucksstarker Sopran macht aus dem Verschwörer Cinna eine geheimnisvolle Figur. Für Celia und Aufidio fällt Kratzer überraschend wenig ein, Uliana Alexyuk macht das Beste aus ihrer Rolle als etwas irre Celia und überzeugt mit schöner, sich sehnender Stimme. Sillas Gehilfen Aufidio gibt Klaus Schneider ein sinister-rückständiges Auftreten. Dirigent Johannes Willig und die Badische Staatskapelle spielen dynamisch abwechslungsreich - ein frischer, mitreißend artikulierter und ausgeglichener Mozart-Klang, der keine Extreme bemüht und stets ideal das Maß hält.

Fazit: Inszenatorisch kann Tobias Kratzer nicht das Niveau halten, das er zuletzt erreichte. Die Vampirstory um Lucio Silla vertrocknet und versandet zwar, aber das geschieht nicht sang- und klanglos, sondern musikalisch und sängerisch auf spannende Weise. 


PS: Achtung! Es gibt nur insgesamt drei Aufführungen von Mozarts Lucio Silla im Juli und keine Wiederaufnahme in der kommenden Spielzeit. Die Koproduktion mit dem Brüsseler Théâtre Royal de la Monnaie und dem Theater St. Gallen scheint nur einen kurzen Zwischenstop in Karlsruhe einzulegen, in der kommenden Spielzeit wird sie nicht wieder aufgenommen. Ob sie danach zurück kommt, scheint fraglich.

Besetzung und Team
Lucio Silla: James Edgar Knight
Giunia: Ekaterina Lekhina
Cecilio: Franco Fagioli
Lucio Cinna: Irina Simmes
Celia: Uliana Alexyuk
Aufidio: Klaus Schneider

Musikalische Leitung: Johannes Willig
Chorleitung: Marius Zachmann

Regie: Tobias Kratzer
Einstudierung: Ludivine Petit
Bühne & Kostüme: Rainer Sellmaier
Video: Manuel Braun
Lichtdesign: Reinhard Traub