Sonntag, 9. Juni 2019

Offenbach - Hoffmanns Erzählungen, 08.06.2019

Eine Woge begeisterter Bravo-Rufe gab es gestern für Tenor Rodrigo Porras Garulo in der Titelrolle von Les contes d'Hoffmann und auch sonst herrschte nach der Premiere durchgängig gute Laune: musikalisch und sängerisch gab es begeisternde Momente und die Inszenierung gelang grundsolide.
  
Historisches (1)

Hoffmann ist der deutsche Dichter ETA Hoffmann, der in Frankreich so populär war, daß 1851 ein Theaterstück zur Aufführung kam, das auf verschiedenen seiner Erzählungen beruhte. Offenbach ließ sich inspirieren, komponierte über Jahre teilweise mehrere Varianten und hinterließ nach seinem Tod keine Oper, sondern einen offenen Torso, der -clever oder bedenkenlos- adaptiert werden kann. Jede Produktion steht vor der Entscheidung, wie die Geschichte musikalisch erzählt werden soll - eine Werkstatt-Oper, die immer wieder anders aufgeführt wird. In Karlsruhe entschied man sich für eine vergleichsweise umfangreiche Version, die Längen birgt und manchen Strich ganz gut vertragen hätte, doch Langeweile kommt nicht auf und wahre Opern-Fans klagen sowieso nicht über zu viel (gute) Musik.

Worum geht es?

Ort und Zeit: Nürnberg (1. und 5. Akt), Berlin (2.), München (3.) und Venedig (4.) um 1800
Drei Geschichten in drei Akten, eingebettet in einer Rahmengeschichte (Prolog / Epilog). Hoffmann trinkt in einer Weinstube während seine Geliebte Stella als Opernsängerin  Donna Anna in Mozarts Don Giovanni gibt. Hoffmanns Rivale um Stellas Gunst ist der Stadtrat Lindorf. Dieser fängt einen Liebesbrief Stellas an Hoffmann ab, der den Schlüssel zur Garderobe der Sängerin enthält. Hoffmann trinkt und singt inzwischen zur Unterhaltung seiner Kumpane das Lied über den Krüppel Kleinzack und beginnt dann, drei phantastische Geschichten über drei seiner gescheiterten Liebesaffären zu erzählen. Die drei Frauen sind zwar die Produkte von Hoffmanns Phantasie, doch als Trinität sind sie auch drei Aspekte von Stella.
Die makellose Olympia singt kunstfertig und virtuos Koloraturen und erweist sich doch als seelenlose Puppe. Die leidenschaftliche Antonia ist Sängerin mit voller Hingabe, sie gibt buchstäblich alles für ihre Kunst und stirbt singend. Und die betörende Giulietta ist Kurtisane, Hoffmann ist für sie nur ein Mittel zur Erreichung ihrer Ziele.
In jeder Geschichte gibt es einen bösen Widersacher: den Optiker Coppelius, den Doktor Mirakel und den Kapitän Dappertutto, die alle Projektionen seines Widersachers Lindorf sind. Begleitet wird Hoffmann bei allen Geschichten von seinem Freund Niklaus, der ein eigennütziges Spiel mit ihm treibt, denn tatsächlich ist Niklaus eine Schutzgöttin der Künste und als Muse will sie Hoffmann als Künstler und Literaten retten, Unglück in der Liebe soll der Inspiration dienen.
Getäuscht, marginalisiert und ausgenutzt - Hoffmanns unglückliche Liebesgeschichten sind beendet, der Künstler ist betrunken und weist die aus der Oper kommende Stella zurück, die mit Lindorf verschwindet.
 
Historisches (2)
Zahlreiche Bühnenwerke hat Jacques Offenbach (*1819 †1880) komponiert, nur einige wenige haben sich gehalten. Daß man sich zum 200. Geburtstag am Badischen Staatstheater an keine Rarität traut, sondern mal wieder Hoffmanns Erzählungen bringt, scheint mutlos, hat aber einen guten Grund: die Zeit für eine Wiederentdeckung Offenbachs ist noch nicht gekommen. Händels Oper lagen teilweise über 200 Jahre im Archiv, bevor man sich ihnen wieder nähern konnte. Offenbach als Bühnenkomponist war zwar nie ganz weg, doch zu viel von ihm bleibt heute fremd. Um Satire, Amüsement und Frivolität des 2. Kaiserreichs erneut zum Leben erwecken zu können, scheinen aktuell die Kräfte zu fehlen.

Was ist zu sehen und hören?
Regisseur Floris Visser hat sein Können in Karlsruhe mit Händels Semele bereits unter Beweis gestellt, bei Hoffmanns Erzählungen bleibt er konventionell, große Überraschungen erlebt man nicht, ebenso wenig findet man überzeugende neue Metaphern - die Inszenierung ist grundsolide und stört nicht, ihr fehlt allerdings für diese Opéra fantastique ein prägendes ETA Hoffmann-Element: man kann diese Oper phantastischer, mysteriöser und skurriler konzipieren, etwas Atmosphärisches ist hier verloren gegangen, es bleibt ein Alkoholikerdrama mit szenischem Happy-End - allzu glatt und kalt. Nach Semele ist das eine leichte Enttäuschung und Klagen auf hohem Niveau. Im Dezember 2019 wird sich Visser erneut in Karlsruhe als Regisseur beweisen, dann mit Mozarts Don Giovanni - und darauf darf man sich bereits freuen

Die Handlung spielt nun in den 1950ern in Paris. Luthers Weinstube wird zum Jugendstilbistro, in dem sich Establishment und revolutionäre Studenten in der Opernpause treffen. Stella ist ein Star, Hoffmann nur eine lokale Größe, ein Hinterhof- und Kneipen-Poet. Der produzierende Künstler steht im Schatten der reproduzierenden Künstlerin. Hoffmann ist ständig unzufrieden mit sich und seinem Leben, unbewältigte Konflikte treiben ihn, als Künstler scheint er die Übersicht verloren zu haben, verzweifelt durchsucht er alkoholisiert seine Notizen. Rodrigo Porras Garulo spielt Hofmann mit hohem Engagement als mit sich selbst ringender Künstler, der unausstehlich wird, weil er sich selber nicht ertragen kann, stimmlich glänzt er mit  schöner, stets offener Tenorstimme und männlichem Timbre - eine großartige Interpretation, mit der er sich in die Herzen des Publikums gespielt und gesungen hat. Nicholas Brownlee stellt einmal mehr unter Beweis, wie souverän er stimmlich und darstellerisch zu überzeugen weiß, nur schade, daß die Regie für Lindorf, Coppelius, Dr. Mirakel und Dapertutto nicht mehr Dämonie inszeniert - die Bösewichter hat man schon unheimlicher gesehen.
Niklaus ist tatsächlich die Muse Hoffmanns, am Ende tritt sie als antike Figur auf, eine Schutzgöttin der Inspiration. Die Regie entschied sich dafür, die Figur aufzuwerten und sie alle sechs Arien singen zu lassen, die Offenbach für sie komponiert hat. Dilara Baştar hat also einiges zu singen und das erklingt wie üblich mit sinnlich-warmer Stimme, doch auch bei ihr weiß die Regie nicht recht, was sie aus ihr machen soll. Eine umgehängte Gitarre reicht nicht aus, um Nicklaus/Muse bühnenwirksam zu präsentieren, am Schluß tritt sie ziemlich hilflos und in einer antiken Robe auf und mutiert zur griechischen Göttin - eine Figur ohne zufriedenstellenden Plan.
Auf der Drehbühne steht dreimal der gleiche Ort mit unterschiedlichem Interieur. Wenn Hoffmann erzählt, verläßt man das Bistro und bleibt doch immer in ihm.  Der Olympia-Akt ist eine Komödie, die Regie zeigt Olympia als ein junges Mädchen das keinen eigenen Willen hat, der Automatencharakter der Figur wird nur halbherzig inszeniert, die oft gesehene Aufziehunterbrechung entfällt. Wäre da nicht das neue Ensemble-Mitglied Sophia Theodorides, wäre dies ein kaum bemerkenswerter Akt. Die junge deutsche Koloratursopranistin gibt ein umjubeltes Debüt mit ausdrucksvoller und höhensicherer Stimme. 
Der 3. Akt ist das dramatische Zentrum der Oper und der Inszenierung, Agnieszka Tomaszewska als Antonia und Vazgen Gazaryan als Crespel haben starke Szenen, musikalisch ist dies der mitreißendste Akt, szenisch ist die Mutter intelligent eingebunden (sie singt im Hintergrund in einem Tonstudio). Matthias Wohlbrecht in vierfacher Rolle hat hier als Franz und im 4. Akt als Pitichinaccio seine dankbarsten Szenen und erhielt starken Applaus vom Publikum.
Vor dem 4. Akt hat die Regie einen starken Einfall und zeigt zur Musik der Bacarole, wieso Hoffmann zum Zyniker wird. Laut Visser ist der "Giulietta-Akt ein existenzialistischer Film noir, indem die Figuren ihre Autonomie verlieren. Sie handeln nicht mehr selbstbestimmt." Giulietta bringt Hoffmann um seinen Verstand, sie manipuliert ihn - doch auch hier geht der Regie das Mysteriöse der Szene verloren. Ein Mann ohne Schatten und ein Mann, dem das Spiegelbild geklaut wird - Visser läßt Hoffmann das Herz entfernen, doch diese starke Metapher will nicht wirken, Barbara Dobrzanska als Giulietta kann das szenische Wirrwarr dieser skurilen Geschichte nicht retten. Auch hier wäre für die Regie noch dramatische Luft nach oben. Evtl. hätten Bühnenbild- und Kostümwechsel doch etwas gebracht.
Die falsche pompöse Apotheose am Schluß wird vom Regisseur nicht hinterfragt. Die Diskrepanz zwischen Leben und Kunst hat Hoffmann in die Alkoholsucht getrieben, nun setzt er sich in der Karlsruher Regie an die Schreibmaschine und wird kreativ, Hoffmanns Entwicklungsgeschichte wird zu einem Happy-End geführt.  "Man wird groß durch die Liebe, aber größer noch durch Leid" - was für ein Unfug!
Constantin Trinks  dirigierte nach Saarbrücken und München nun seinen dritten Hoffmann und das hörte man - eine wunderbar flüssige und organische Interpretation der Badischen Staatskapelle. Der Staatsopernchor hat leider wenig zu spielen und Schönes zu singen. Ulrich Wagner und seine Sänger bekamen ebenfalls Bravo-Rufe.

Fazit: Tosender Premieren-Applaus, musikalisch/sängerisch oft ein Genuß, szenisch stabile Hausmannskost.  

Besetzung und Team:
Hoffmann:  Rodrigo Porras Garulo 
Olympia: Sophia Theodorides
Giulietta: Barbara Dobrzanska 
Antonia: Agnieszka Tomaszewska
Stella: Jennifer Feinstein
Niklaus / Muse: Dilara Baştar
Lindorf / Coppelius / Mirakel / Dapertutto: Nicholas Brownlee
Stimme der Mutter: Christina Niessen 
Spalanzani: Klaus Schneider
Crespel: Vazgen Gazaryan
Andreas / Cochenille / Pitichinaccio / Franz: Matthias Wohlbrecht
Luther: Edward Gauntt
Hermann: Merlin Wagner
Wilhelm: Lukas Eder
Wolfram: Veith Wagenführer
Schlemil: Merlin Wagner
Hauptmann der Sbirren: Alexander Huck    

Musikalische Leitung: Constantin Trinks  
Chor: Ulrich Wagner
Regie: Floris Visser
Bühne: Gideon Davey
Kostüme: Dieuweke van Reij
Licht: Alex Brok