Wie gewohnt langer Applaus und viel Jubel zur ersten großen Ballettpremiere der Saison. Die Erwartungshaltung beim Karlsruher Publikum war hoch und wurde erfüllt, doch es ist vor allem der zweite Akt, der Begeisterung auslöste und den Abend zum erfolgreichen Ereignis machte.
Worum geht es (1)?
Um Coco Chanel (*1883 †1971) und Igor Strawinsky (*1882 †1971). Chanel revolutionierte die Mode und befreite die Frauen von überkommenen Zwängen, ihr Kleines Schwarzes ist sprichwörtlich. Auch ihr Liebesleben war modern: sie hatte wechselnde Lebensabschnittspartner und Affären, über die sich verschiedene Geschichten erzählen lassen, so war Chanel von 1940 bis in die 1950er bspw. mit dem jüngeren Baron Hans Günther von Dincklage (*1896 †1974) liiert, den Sonderbeauftragten des Reichspropagandaministers Goebbels in Paris, der seit den dreißiger Jahren in Frankreich einen Spionagering aufbaute. 1945 gingen beide ins Schweizer Exil, erst 1954 kehrte Chanel nach Frankreich zurück. Beerdigen ließ sie sich aber dort, wo sie mit Dincklage die Nachkriegsjahre verbrachte - in Lausanne. Doch zurück: 1913 eröffnete Chanel ihr eigenes Modehaus (das Parfum Chanel N°5 kommt übrigens 1921 auf den Markt, 1926 veröffentlichte sie in der Vogue ein Foto ihres Entwurfs des Kleinen Schwarzen), Strawinskys berühmtes Ballett Le Sacre du Printemps sorgte in Paris 1913 für einen der größten bekannten Theaterskandale. Erst 1920 lernten sie sich die beiden kennen. Chanel war bereits wohlhabend und Strawinsky mit seiner Familie vor den Bolschewisten geflohen, finanziell in Problemen und mit einer pflegebedürftigen kranken Ehefrau. Chanel beherbergte die Strawinskys für mehrere Monate in ihrem Haus in Garches. Über die Umstände der Beziehung Chanels zu Strawinsky wird spekuliert, beiden wird eine Affäre nachgesagt. Chanel unterstützte den Komponisten finanziell und indem sie Kostüme in ihrem Atelier nähen ließ bzw. auch entwarf (und zwar 1929 für das vom jungen George Balanchines choreographierte Ballett Strawinskys Apollon musagète, das auch in Karlsruhe zu hören ist). Von 1921 bis 1924 lebte der Russe mit seiner Familie in Biarritz, danach in Nizza. 1940 floh er in die USA. Chanel hatte deutsche Kontakte und blieb.
Worum geht es (2)?
Choreograph Terence Kohler stellte sich zu Beginn die Ausgangsfrage "Wie
entsteht eine Kreation?" bzw. "Woher kommt die Kreativität?".
Er erzählt keine lineare Geschichte, sondern einen zweiteiligen Abend. "Im
1. Akt geht es um die Entwicklung des Entwurfs des Kleinen Schwarzen von Chanel",
im 2. Akt skizziert er "den Entstehungsprozess von Le Sacre du
Printemps ". Vor der Pause geht es um Coco Chanel, danach um Igor
Strawinsky. Weitere historische Persönlichkeiten treten auf: "Chanels
einflußreiche Freundin Misia Sert, die als Muse und Förderin zahlreicher
namhafter Künstler die damalige Pariser Kunstszene aufmischte, der Tausendsassa
Sergej Diaghilew, instinktsicherer Talentscout und erfolgreicher
Impresario der Ballets Russes, und der Choreograf der Uraufführung von „Le
Sacre du Printemps“, der berühmte Tänzer Waslaw Nijinsky ... Manche Kritiker
(und auch Igor Strawinsky selbst) sagen, den Skandal löste vor allem
die avantgardistische Choreografie von Waslaw Nijinsky aus". Dazu
kommt eine abstrakte Figur, die Kohlers anfängliche Fragen mit der
'Inspiration' beantwortet, laut Kohler: "Der Geist der Zeit ist für
mich der personalisierte Geist der Kreativität, aber auch der kreative
Instinkt. Er ist wie ein Beobachter, der geduldig im Hintergrund mit all den
Informationen wartet, die erforderlich sind, um eine Idee zum Leben zu erwecken
und umzusetzen".
Was ist zu sehen?
Es gibt Ideenhistoriker für die das 20. Jahrhundert erst mit dem Ende des 1.
Weltkriegs beginnt und mit dem Ende der Nachkriegsordnung 1989 bereits endet.
Kohlers Ballett fängt im 1. Akt einen Teil dieses Epochenwechsels ein, das
erste Bild wird zum Walzer der verlorenen Männer, das Ende einer Epoche
und das Grauen des 1. Weltkriegs. Danach zeigen Bühne und Kostüme den Traditionsbruch
und Wechsel zum Lebensgefühl der Goldenen Jahre der Swinging 1920er,
Konventionen verlieren ihre Kraft, die Sitten werden lockerer, die Geburt des Kleinen
Schwarzen erfolgt aus dem Geist der Trauerüberwindung und eine Modenschau
Chanels beendet den 1. Akt. Das ist gut gedacht, und doch funktioniert Kohlers
Choreographie nicht richtig. Immer wieder gibt es kraftlose Längen, die zu
wenig Wirkung entfalten. Schwachpunkt ist das 3. Bild in Coco Chanels Atelier,
das Kohler als Zentrum einer ruhigen Inspiration zeigen will, sich aber nie
verdichtet und zwischendurch fast einschläfernd wirkt. Im zweiten Akt gelingt
es Kohler dafür umso großartiger! Nach der Pause steigt die Spannung
exponentiell. Kohler zeigt den ersten Teil des Sacre du Printemps, die Anbetung
der Erde, als die Geschichte der skandalumwitterten Uraufführung. Schon in der
Pause laufen kostümierte Statisten durch das Foyer des Badischen
Staatstheaters; sie nehmen für das erste Bild des zweiten Akts im Zuschauerraum
Platz. Vorab ertönt eine Originalaufnahme mit der Stimme Strawinsky, der
sich an die Ereignisse der Premiere erinnert. Kostüm- und Choreographieanleihen
von 1913 ergeben ein überzeugendes und faszinierendes Bild, das einen guten
Eindruck von dem ermittelt, was damals geschah. Im zweiten Satz des Sacre wird
u.a. erneut der Akt der Inspiration gezeigt, der hier eruptiv wirkt und im
Gegensatz zum ersten Akt das Publikum zum umjubelten Schluß mitreißt. Tänzerisch
ist es vor allem eine große Ensembleleistung, bei der Bruna Andrade (Coco
Chanel), Ed Louzardo (Igor Strawinsky), Blythe Newman und Pablo dos
Santos (Geist der Zeit), Flavio Salamanka (Nijinsky) und Su-Jung Lim als die
Auserwählte Jungfrau hervorzuheben sind. Terence Kohlers Choreographie
überzeugt vor allem im 2. Akt und eher in den dynamischen und in den
Gruppenszenen als in den intimeren Momenten.
Was ist zu hören?
Die Badische Staatskapelle und Dirigent Daniele Squeo bieten eine
Glanzleistung, die sich vor allem im 2. Akt manifestiert, der zu Le Sacre du
Printemps getanzt wird. GMD Justin Brown ist bekanntlich ein Schüler
Leonard Bernsteins und der hat Strawinskys Ballett wie kaum ein zweiter
enthemmt und auf die Spitze getrieben (und meines Erachtens mit seiner
Einspielung von 1958 mit den New Yorker Philharmonikern DIE Referenzaufnahme
vorgelegt). Es scheint, daß Brown Squeo in dieser Tradition stehend beraten
hat: schon die Einleitung mit Fagott und reichhaltigen Holzbläsern begann vor
Spannung zu knistern, dann schneidende Blechbläser, rhythmische Erregung,
Kontrabässe, die träge schwer ausatmen. Squeo gestalte ein großartiges Sacre,
der im Publikum zuhörende Justin Brown applaudierte zufrieden. Der Star waren
gestern Dirigent und Orchester - Bravo!
Was ist zu hören (2)?
1. AKT - Das Kleine Schwarze
Alfred Schnittke - „Kutsche“ und „Wowka“ aus der Filmmusik Der Walzer
Tolchard Evans & Harry Tilsley - Lights
of Paris
Igor Strawinsky - Apollon musagète
Jay Whidden Band - Mon Paris
John Stepan Zamecnik - „Marathon, Horse or Automobile Race“ aus der Filmmusik Weekly
Igor
Strawinsky - Ragtime (in der Fassung für Soloklavier)
2. AKT - The riot of spring
Igor Strawinsky - Le Sacre du Printemps
Fazit: Getanzte Zeitgeschichte. Den faszinierenden 2. Akt sollte man gesehen
und gehört haben!
Besetzung und Team:
1.AKT - DAS KLEINE SCHWARZE
Geist der Zeit: Blythe Newman
Coco Chanel: Bruna Andrade
Misia Sert: Harriet Mills
Igor Strawinsky: Ed Louzardo
Modelle und Musen: Rafaelle Queiroz, Larissa Mota, Su-Jung Lim
Kleines Fräulein & Großer Mann: Carolin Steitz, Admill Kuyler
Die Traditionshüterin: Hélène Dion
2. AKT THE RIOT OF SPRING
Geist der Zeit: Pablo dos Santos
Igor Strawinsky: Ed Louzardo
Waslaw Nijinsky: Flavio Salamanka
Sergej Diaghilew: Admill Kuyler
Coco Chanel: Bruna Andrade
Die
Auserwählte Jungfrau Su-Jung Lim
Strawinskys Ehefrau: Svitlana Gordiievska
Ein alter Weiser: Andrey Shatalin
Choreografie, Inszenierung & Film: Terence Kohler
Bühne & Kostüme: Jordi Roig
Licht: David Bofarull
Musikalische Leitung: Daniele Squeo
Pianistin: Inna Martushkevych
PS: Was ist zu sehen (2)? - Szenenfolge
1. AKT - DAS KLEINE SCHWARZE
1 Silvester 1899/1900 – Tanzstunde – Walzer der verlorenen Männer (Erster
Weltkrieg)
2 In Coco Chanels Salon
3 In Coco Chanels Atelier
4 Revuetheater
5 Begegnung
6 Die Neue Frau und die Traditionshüterin
7 Zeitlose Schönheit
2. AKT - THE RIOT OF SPRING
1 Igor Strawinsky im Schaffensrausch
2 Probe der Ballets Russes
3 Waslaw Nijinsky und die auserwählte Jungfrau
4 Der Skandal der Uraufführung
5 Nachwirkungen des Skandals
6 Umzug in Chanels Villa
7 Igor Strawinsky und die Geister der Zeit
8 Die ewigen Geister der Zeit (Danse sacrale)
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.
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Sehr geehrter Honigsammler,
AntwortenLöschenich habe von Ballett herzlich wenig Ahnung, kann Ihre Einschätzung zur Premiere am Samstag aber nur unterstreichen. Allerdings empfand ich den ersten Teil als beinahe enttäuschend, angefangen mit der Musikauswahl. Da hätte wirklich mehr Jazz ("Roaring Twenties" !) reingehört. Tanzende Soldaten müssen entweder ironisch oder raffiniert geführt werden - hier waren sie keines von beiden. Und Blackfacing im 21. Jahrhundert ist eigentlich auch ein No-Go. Besonders enttäuschend war für mich die mehrminütige Filmeinspielung inklusive eingespielter Musik. Da kann ich auch gleich ins Kino gehen.
Der zweite Teil war dann - musikalisch wie konzeptionell - weit überzeugender und auch physisch packender umgesetzt. Hier konnte auch das Orchester zeigen, was es drauf hat. Schön, dass der Dirigent am Ende Ovationen bekam, wo er zu Beginn fast schon schäbig begrüßt wurde. (Hatte ich jedenfalls noch nie, dass der Auftrittsapplaus abebbt, ehe der Dirigent das Pult erreicht hat.)
F.Kaspar
Guten Tag Herr Kaspar;
Löschender Sinn des ersten Akts erschloß sich mir mit dem Schlußbild der Modenschau - die Idee war gut, die Umsetzung gelang nicht. Kein Spannungsbogen, die Musikauswahl überzeugte mich auch nicht, im Ganzen gesehen gähnte ich innerlich. Weder Filmeinspielung noch Blackfacing haben mich irgendwie aufgeregt, das Letztere findet man zu dieser Zeit auch so dargestellt (z.B. Kreneks Jonny spielt auf).
Bzgl. Squeo liegt m.E. ein Mißverständnis vor: Blythe Newman hatte diesen großen weißen Klotz auf die Bühne geschoben, der Applaus ging los (ich dachte für den Dirigenten, wohl aber für Newman), ebbte ab, ging noch mal kurz los, ich sah aber keinen Dirigenten (Squeo ist entweder klein oder er stand tiefer? Ich saß mitten im Parkett ohne Sichtkontakt, später sah ich seine langen Haare, aber nichts vom Kopf oder Körper). Irgendwie war das ein Mißverständnis zu Beginn.