Mittwoch, 25. November 2015

Bruckner - Die Kinder des Musa Dagh, 24.11.2015

Zu bieder, zu harmlos, zu langweilig
Die Kinder des Musa Dagh mißlingen in Karlsruhe zu einer biederen Geschichtsdokumentation mit Spielszenen. Warum erneut kein bemerkenswerter Theaterabend entstand, erklärt sich aus den bisherigen Schwächen des scheidenden Theaterdirektor Jan Linders: man präsentiert dem Karlsruher Publikum veganes Gesinnungstheater - es ist bestenfalls gut gemeint und stets bemüht. Konzipiert nicht aus künstlerischen Gründen, sondern aus Berechnung: man will Themen verwerten, Bedeutung durch scheinbare Aktualität behaupten, man will mit aller Macht "berührend" und relevant wirken. Doch die vermeintlich guten Absichten summieren sich erneut zur Formlosigkeit mit geringem Kunst- und Bühnenwert. Saft- und kraftlos und ohne bemerkenswerte Phantasie schleppt sich dieser Theaterabend dahin - ein freiwilliger Verzicht auf Lebendigkeit zugunsten vorgetäuschten Pseudo- und Ersatz-Theaters. Wo diese Inszenierung interessant ist, ist sie nicht Theater, sondern Dokumentation.
           
Worum geht es?
Um den ersten systematischen Genozid des 20. Jahrhunderts, den türkischen Massenmord an den christlichen Armeniern zu Beginn des türkischen Nationalismus. Der Musa Dagh (Mosesberg) ist ein 1355 m hoher Berg im Süden der Türkei auf den 1915 ca. 4000 Armenier der umliegenden Dörfer flüchteten, als sie von ihrer bevorstehenden Deportation hörten und von dem sie am 40. Tag von der französischen Marine gerettet wurde nachdem sie die Angriffe des türkischen Militärs abwehren konnten - eine vereinzelte positive Episode aus der Geschichte der brutalen Massaker an den Armeniern. Daß die Vorkommnisse bekannt wurden, verdankt man u.a. dem deutschen Theologen und Orientalisten Johannes Lepsius (*1858 †1926), der sich mit armenischer Geschichte befasste und sich selber in der Türkei bei Politikern, Militär und Geistlichen für die Armenier einsetzte und Augenzeugenberichte der Ermordungen sammelte und publizierte. Franz Werfel (*1890 †1945 ) schrieb noch vor der nationalsozialistischen Machtergreifung darüber den Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh, den Ferdinand Bruckner (*1891 †1958) 1940 im Exil als Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich zu einem Theaterstück in zwei Teilen für zwei Frauen und zehn Männer machte, das allerdings erst 1996 uraufgeführt wurde und fast nie gespielt wurde. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: dramaturgische Schwächen, hölzerne Dialoge, stereotype Figuren - vielleicht hätte Bruckner lieber das Drehbuch zu einem Hollywood-Film schreiben sollen, als Theaterstück taugt sein Drama nicht.
                     
Was ist zu sehen?
Regisseur Stefan Otteni scheint sich mit dieser Bühnenarbeit um eine Rolle bei einem TV History Channel bewerben zu wollen. Theater wird hier zum Mittel reduziert dessen Zweck bestenfalls historische Wissensvermittlung ist. Die  engagierten Schauspieler versuchen dieser textlichen und inszenatorischen Totgeburt Leben einzuhauchen. Bei den dokumentarischen Spielszenen hat man einerseits den Eindruck, daß die Schauspieler unterfordert werden, andererseits erscheint es fahrlässig, wie sehr man das Können der Akteure vergeudet. Kaum eine Szene gewinnt Dichte, keine Figur ist außerhalb des historischen Kontexts interessant. Wenn nach der Pause ein Jeside erzählt, welche Parallelen zum Terror des Islamischen Staat bestehen, erlebt man schon den Höhepunkt des Abends. Nur ist der leider nicht schauspielerisch-theatralisch, sondern rein dokumentarisch-erzählend und gehört nicht hierher, sondern in entsprechende Informationsformate.

Fazit: Alles andere als aufregend oder bewegend, doch zumindest mit einem gewissen Informationswert für Bildungsbeflissene. Die Inszenierung ist näher an einer Doku-Soap als an einem Theaterstück. Zumindest die bedauernswerten Schauspieler zeigen, daß mehr in ihnen steckt, wenn man sie denn ließe.
     
PS: Dank gebührt dem Badischen Staatstheater dafür, daß man die Publikumspremieren nun öfters auf eine General- oder Hauptprobe legt und dem Publikum vorab die Chance gibt, sich einen Eindruck zu verschaffen. Das mag für einige eine Entwertung der "offiziellen" Premiere sein, dafür lassen sich dann aber bittere Enttäuschungen auf teuren Plätzen vermeiden und die Erwartungshaltung senken.

Team und Besetzung:
Gabriel: Jannek Petri
Stefan, sein Sohn: Johannes Schumacher
Juliette, seine Ehefrau: Amélie Belohradsky
Johannes Lepsius: Gunnar Schmidt
Gonzague, Geliebter von Juliette: Sven Daniel Bühler
Kebussyan, Bürgermeister / Scheich im Derwischkloster: Ronald Funke
Altouni, Arzt / Deutscher Geheimrat: Sascha Tuxhorn
Ter Haigasun, Lehrer / Rifaat, Agha von Antiochia: Klaus Cofalka-Adami
Enver Pascha / Pastor Aram Tomasian: Luis Quintana
Iskuhi, Tomasians Schwester: Marthe Lola Deutschmann
Diener: Hader Khairi Hando a. G.

Regie: Stefan Otteni
Bühne & Kostüme: Anne Neuser
Licht: Joachim Grüßinger

8 Kommentare:

  1. Beim Theaterfest berichtete Jan Linders über die Dienstreise von ihm, GI Spuhler und Regisseur Otteni zum Musa Dahg in die Türkei, um sich vorort ein Bild zu machen. Zahlte der Steuerzahler diesen Dienst-Urlaub? War er überhaupt notwendig und welche Folgen hat er für die Inszenierung?

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    1. Vielen Dank für den Hinweis. Ich weiß es nicht, ob die Feldforschung vor Ort in der Türkei privat oder durch Steuergelder finanziert wurde. Notwendig war sie nicht, Relevanz hat die Reise für diese Inszenierung kaum, es scheint, daß man Fotos verwendet, die wahrscheinlich am Musa Dagh geschossen wurden.

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  2. Wetten das.......zahlte der Steuerzahler.
    Das blieben die Privat-Schatullen verschlossen.

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    1. In dem Fall muß man aber auch betonen, daß es des Intendanten gutes Recht ist. Die Umstellung zum Landesbetrieb macht Spuhler finanziell alleine verantwortlich - Stadt und Land springen nicht mehr ein, wenn das zugeteilte Budget nicht reicht. Außerplanmäßig gibt es keinen Ausgleich von Schieflagen. Dafür darf Spuhler aber auch vieles ohne den Verwaltungsrat entscheiden, er darf Stellen schaffen und Gehälter selber festsetzen - so zumindest mein bisheriges Verständnis. Die Möglichkeit zur Überführung in eine GmbH ist bei dieser Betriebsform möglich
      Es muß also genau kalkuliert werden und daß sich der Intendant und sein Stellvertreter sowie der Regisseur eine Sommerreise in die Türkei leisten, um den Musa Dagh zu erkunden, ist dann ok, wenn es wichtige Erkenntnisse gibt. Auf der Bühne konnte ich die allerdings nicht entdecken. Die Reise war wohl inspirationsfrei.

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  3. Definitiv: Das ist kein politisches Theater gewesen, auch nicht mit der brüllenden Wink-mit-dem-Zaunpfahl-Aktualisierung eines Jesiden (?) nach der Pause.
    Vielleicht eine Geschichtsstunde mit Liebestheatralik und Vater-Sohn-Problematik. Guido Knopp (ZDF-History) hätte das anrührender hinbekommen - und wäre nicht weniger umstritten deswegen.
    Vor der Pause rangen mein Nachbar und ich mit dem Schlaf; im zweiten Teil dominierte wieder einmal das Mitleid mit den geschundenen Schauspielern, die bei großen Gesten im aufgebockten Sandkasten aufpassen mussten, nicht herunter oder übereinander zu fallen.
    Mal abwarten, wie die Karlsruher türkische Gemeinde auf die Völkermord-Thematik reagiert.

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    1. Vielen Dank! Das ist die richtige Zusammenfassung: "Geschichtsstunde mit Liebestheatralik und Vater-Sohn-Problematik"

      Für mich war diese Inszenierung ein weiterer Beleg, was ich aktuell am Staatstheater nicht mag: man hat eigentlich weder einen Intendanten noch einen Schauspieldirektor, denen es um das gestalterische Spannungsfeld Kunst-Bühne-Darsteller geht, sondern Kulturmanager, die künstliche Waren für vermeintlich aktuellen Bedarf verkaufen wollen.

      Die türkische Gemeinde ist in Karlsruhe nicht groß genug und eine Massenmordleugnung würde mehr Aufmerksamkeit generieren als Totschweigen. Viele zusätzliche Zuschauer wird man mit der schwachen Umsetzung kaum ins Theater locken können.

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  4. Info aus dem Net:

    http://kurier.at/kultur/buehne/regisseur-alvis-hermanis-sagt-wegen-fluechtlingshilfe-stueck-am-hamburger-thalia-theater-ab/167.823.644

    grüße

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    1. Ein bemerkenswerter Vorgang, der aber nicht das erreicht, was Hermanis bezweckt: einen Protest gegen das, was es laut deutscher Politik der letzten Jahrzehnte nicht geben dürfte: den deutschen Sonderweg in Europa. Nicht nur zeigt man kein Verständnis für Gegner der deutschen Politik, man will sie in der EU auch auf Drängen Deutschlands dafür zahlen lassen, daß sie keine Araber aufnehmen wolle. Für die Osteuropäer ist das Erpressung durch deutsche Drohpolitik.
      Medien und Theatermacher werden Hermanis mißverstehen, sie verhalten sich zu arrogant und selbstgefällig, um das zu begreifen und werden den Mann nun teilweise denunzieren. "Am deutschen Wesen soll die Welt genesen", kommt wieder in Mode ....

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