Freitag, 25. Mai 2012

Erpulat / Hillje - Verrücktes Blut, 24.05.2012

Das Magazin Der Spiegel nannte Verrücktes Blut im Herbst 2010 den "Hit der Saison" , bei dem sich die Zuschauer "bogen vor Lachen und vor Grauen". Gestern hatte Verrücktes Blut nun auch Premiere in Karlsruhe und unterhielt sein Publikum bestens. Aber es ist ein perfides Spiel, das sich der  Regisseur Dominik Günther mit seinen Zuschauern erlaubt, denn er hält ihnen einen Spiegel vor: Sage mir, an welchen Stellen du lachst, und ich sage dir, welche Vorurteile dir gefallen!

Worum geht es?
Das Vorbild für Verrücktes Blut ist der französische Film "La Journée de la jupe" (deutscher Filmtitel: "Heute trage ich Rock!"), in dem die Schauspielerin Isabelle Adjani eine Lehrerin spielt, die mit dem rüpelhaften Verhalten ihrer Migrantenklasse nicht zurecht kommt und in einer bedrohlichen Situation einem Schüler die Waffe entwendet und ihre Klasse als Geisel nimmt. Die beiden Autoren Nurkan Erpulat und Jens Hillje haben das Thema für Berliner Verhältnisse erweitert und adaptiert und machten daraus eine schwarze Komödie. Sie haben die Handlung dahin abgeändert, daß die Lehrerin mit vorgehaltener Waffe ihre arabischen und türkischen Schüler zwingt, Schillers Räuber, Kabale und Liebe sowie die ästhetische Erziehung des Menschen zu lesen und zu spielen und sich dabei über Vorurteile, Lebenslügen und falsch gewählte weltliche und religiöse Autoritäten bewußt werden. Aufklärung und deutscher Idealismus werden hier also zum Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit.

Was wird gezeigt?
Zuerst ein Lob: die Schauspieler sind großartig! Es macht großen Spaß zuzuschauen. Hervorzuheben ist Antonia Mohr, die die Lehrerin durchweg glaubhaft verkörpert.
Die weiteren Akteure spielen die Jugendlichen als grelle Klischees: jeder erinnert an unterbelichtete oder gemütsrohe Teilnehmer nachmittäglicher Trash Talk Shows von Privatsendern. Doch darin liegt auch das Problem: als Zuschauer lacht man über sie und lacht sie aus. Beim Lachen öffnen sich Abgründe, keine Horizonte. Wer das Publikum beobachtet, wird feststellen können, wie unterschiedlich es reagiert: während der eine Teil entsetzt schweigt, reagiert der andere Teil amüsiert über rassistische Auseinandersetzungen, erfreut sich an Grobheiten und jauchzt vor Freude, wenn sich der Orientale zum Sterotyp reduzieren lässt. Das Publikum läßt sich verführen und fällt teilweise auf diese Falle herein. Doch das ist gewollt: im Programmheft wird es wie folgt erläutert: "Es geht nicht um die Schüler, es geht nicht um die Lehrer, es geht nicht um die Schule - es geht um den Blick darauf, es geht um das Publikum". Es wird ein deutscher Blick inszeniert. Die Autoren "verführen die Zuschauer, den zweifelhaften Thesen über Integration und Islam zu folgen ... erst langsam enthüllen sie die salon-rassistischen Abgründe der Pädagogin." Wer als Zuschauer gelacht hat und Spaß hatte, wird sich eventuell prüfen müssen!?! Einige Stellen sind einfacher Klamauk und harmloser Humor, andere Stellen spielen mit Ressentiments und Verhaltensauffälligkeiten.

Doch schnell erkennt man das Defizit: nur wenige Regie-Einfälle führen auf die richtige Spur. Daß in den Figuren mehr steckt, wird beim Lesen der Schiller Texte gezeigt: anfänglich im typischen Immigranten-Tonfall gesprochen, werden die Reclam Hefte später weggelegt und in bester deutscher Manier rezitiert. Das Potential ist bei den Jugendlichen vorhanden, es fehlt ihnen nur die Förderung. Man darf sich nicht wundern, wenn einige Zuschauer der Ambivalenz der Inszenierung jedoch nicht auf die Schliche kommen und diese Inszenierung als Trash Show betrachten, deren bloßgestellte Teilnehmer Hohn, Spott und Ablehnung provozieren.

Deutsche Schauspieler spielen die türkisch-arabischen Jugendlichen ohne ethnische Spezifizierungen. Verrücktes Blut ist im Badischen Staatstheater also kein realistisches Millieudrama. Am Schluß richtet der unterdrückte Außenseiter der Gruppe die Waffe gegen sich selbst. Und man merkt in diesem vielleicht stärksten Moment, daß es hier auch um etwas anderes als Integration geht: es geht um Ausgrenzung im Allgemeinen und um den Umgang mit den Ausgegrenzten und der Verliererklasse einer Gesellschaft. Der Schlußmonolog, Franz Moors Anklage aus Schillers Räuber, stellt den erweiterten Kontext her: hier spricht der Vertreter der Zukurzgekommenen, der Chancenlosen,  der Verlierer, ob er nun orientalischer Jugendlicher in Berlin oder rechtsradikaler Deutscher in einer wirtschaftlichen Randzone sei, spielt dabei letztendlich keine Rolle.

Fazit (1): Zum Abschluß einer schwachen und enttäuschenden Spielzeit noch mal ein Lichtblick: tolle Schauspieler, ein perfektes Timing und dazu eine raffiniert- intelligente, aber in hohem Maße diskutable Inszenierung, bei der sich die Frage stellt, ob sie dem Thema wirklich gerecht wird. Um das festzustellen müßte man eine Publikumsbefragung durchführen und feststellen, was die Zuschauer als Botschaft mitnehmen oder als Meinung dazu äußern. Es ist zu befürchten, daß einige dabei einfach ihre Ansichten oder auch Vorurteile bestätigt sehen.

PS: Nachtrag

Das Programmheft ist in diesem Fall zur vertieften Analyse sehr empfehlenswert, obwohl es nur einige aus dem Internet kopierte Artikel aufgreift und die Fragestellungen etwas zu oberflächlich und einseitig behandelt. Der Komplexität des Themas angemessen, hätte man hier mehr Quellenstudien und Referenzen einfließen lassen können.

Vor welchem Hintergrund muß Verrücktes Blut eingeordnet werden?

Im September 2010 erregte Verrücktes Blut große Aufmerksamkeit, kam es doch durch Zufall passend zur Sarrazin Debatte. Spricht man heute über Integration von Zuwanderern und Ausländern, so meint man damit selten die vielfach gelungene und geglückte Einbindung von Migranten, die deshalb gelang, weil diese aufgrund von Qualifikation und Ausbildung ihren Platz am deutschen Arbeitsmarkt gefunden haben. Man spricht im Gegenteil meistens über mißglückte Integration: über jene Menschen, die aufgrund sprachlicher Defizite, nicht erfolgter Schul- und Ausbildung am Arbeitsmarkt unvermittelbar sind und in der Folge dafür an den Pranger gestellt werden. Wer ausgegrenzt wird, sucht sich eine Möglichkeit, seinen Stolz und seine Selbstachtung zu bewahren: dazu dienen traditionelle Identifikationsangebote (Religion, Familie, Rasse, Nation), die es dem Individuum gestatten, sich zugehörig zu fühlen.

Jede Gesellschaft hat ihre Verliererklasse(n). Manchmal vereinen sich deren Mitglieder zu politischen oder religiösen Randgruppen, Sippen oder Mafia-ähnlichen Strukturen. Sie prägen das öffentliche Bild, obwohl sie eine Minderheit sind. Immer wieder verbreiten die Medien  Warnungen vor kriminellen Gangs, radikalen Gruppen oder gewalttätigen Jugendlichen. Vermischt und verstärkt werden diese Warnungen mit den verständlichen Vorbehalten einer westlichen Gesellschaft gegen  Nationalismus, sogenannte "Ehren"morde, Zwangsverheiratungen, Homophobie und religiöse Dogmen, die unvereinbar sind mit den Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats und der individuellen Selbstbestimmung.

Vor knapp zwei Jahren nutzten die Massenmedien Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab, um einen Skandal zu vermarkten. Seither haben sich durch die medienwirksame Präsentation mehr als 1,5 Millionen Exemplare dieses Buchs verkauft. Dabei zeigte sich vor allem eines: Hinsichtlich Themen wie Zu- und Einwanderung, Migration und Integration herrscht in Deutschland eine schizoide Spannung, die eine Lösungsfindung erschwert und unter deren Druck Aussagen und Meinungen leicht in Schieflage geraten. Die Fragestellungen scheinen so vielschichtig, daß man bei jeder Form der Stellungnahme befürchten muß, pauschal als einseitig, parteiisch oder als politisch inkorrekt denunziert zu werden. Standpunkte werden als Charakterfrage diskutiert, der Vorwurf des Rassismus wird leichtfertig lanciert und wissenschaftliche Thesen als vermeintliche Meinungsmache entlarvt. Dazu kommen Begriffsverwirrungen um lebensferne Theoriekonzepte wie Multi-, Inter- und Transkulturalität, deren Analysen und Vorschläge nie bei der gesellschaftlichen Mehrheit ankommen. Die meisten winken entsprechend nur noch ab, zeigen offen Ignoranz oder äußern sich nur im privaten Kreis. Ein Thema, bei dem man fast nur verlieren kann, denn der Grat zur neutralen Formulierung ist sehr schmal und beidseitig von steilen Abhängen und Absturzgefahr umgeben. Doch was mittig unterdrückt wird, verschafft sich an den Rändern seinen Durchbruch und ein verunsichertes Bürgertum läuft dabei Gefahr, sich das Thema aus der Hand nehmen zu lassen. 

 Was will Verrücktes Blut wirklich sagen?
Es gibt kein Integrationsproblem, es gibt nur vorrangig ein Ausbildungs- und Qualifizierungsproblem!

Geringer Schulerfolg grenzt aus und verbaut die Perspektive. Das Geld, das nicht in Bildung investiert wird, benötigt man vielfach um jahrzehntelange Sozialhilfen zu erstatten. Es geht also nur vordergründig um Integration und tatsächlich um Schulen, Lehrer, Schulpläne und Eltern, die angesichts ihres Erziehungsauftrags kapitulieren und ihre Kinder alleine lassen oder ihnen nicht helfen können.

Multikulti war gestern!
Die Multikulti-Wunschvorstellung des harmonischen Miteinander verschiedenster Lebens- und Gesellschaftsentwürfe war eine Fehlkonstruktion. Im Windschatten einer als Toleranz interpretierten Gleichgültigkeit gediehen Intoleranz und ein antidemokratisches Menschenbild. Im erträumten Multikulti-Wohlfühl-Universum ist jeder so o.k., wie er ist, auch wenn er seine Tochter für minderwertig hält, sie zwangsverheiratet oder ihr die Wahlfreiheit abspricht oder offen und stolz Misogynie und Homophobie zur Schau gestellt werden.
Die Reaktionen blieben publizistisch nicht aus: Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski empfahlen in Ihrer Fernsehdiskussionsrunde Das philosophische Quartett dazu Bücher mit vielsagenden Titeln: "Abschied von Multikulti" von Stefan Luft und "Der Multikulti-Irrtum" der türkischen Autorin Seyran Ate, die auch eine Verfechterin des Konzepts der Transkulturalität ist, das im Programmheft referiert wird.

Es gibt eine europäische Leitkultur!
Und zwar basierend auf den Grundrechten und den Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats. Europa ist aus idealistischer Sicht überall dort, wo man sich kümmert und sorgt, wo Müllabfuhr und öffentlicher Nahverkehr funktionieren, wo man die medizinische Versorgung der ganzem Bevölkerung sicherstellt, wo die Verwahrlosung bekämpft wird, wo alles Konturen hat und stark geformt ist und man an der Ordnung der Dinge  arbeitet, wo man fünf nicht gerade sein lässt und Kavaliersdelikte nicht akzeptiert werden, wo ein Präsident gehen muß, der sein Amt nicht ausfüllen kann, wo man Verantwortung übernimmt oder übernehmen muß, wo der belächelte Ordnungsfimmel einen tieferen Sinn erfüllt: Erwartbarkeit und Berechenbarkeit über Generationen sicherzustellen, die die Grundlage des kulturellen Miteinanders, des  modernen Rechtsstaates und der Demokratie bilden. Der Formwille ist es, der  die Wirtschaftsmacht Europa ausmacht, in die Einwanderer strömen wollen. In dieser Sicht darf sich ein Staat nicht aus der Verantwortung stehlen und die Bürger dürfen nicht gleichgültig sein. Wo sich der öffentliche Bürger nur noch als Privatperson sieht und nur noch private Interessen im Auge hat, wo der öffentliche Raum privatisiert wird, wo Klientelpolitik betrieben wird und das Gesamtwohl nicht im Mittelpunkt steht, dort betritt man das Vorzimmer der autoritären Postdemokratie, in dem die frühere englische Premierministerin Margaret Thatcher einst sagte: there is no such thing as society. Im von Thatcher geprägten Neoliberalismus ist es die einzelne Privatperson, die aufgerufen ist, sich alleine um sich zu kümmern und sich der Staat aus der Verantwortung zieht und seine Bürger alleine läßt. Wer das Resultat öffentlicher Gleichgültigkeit sehen will, ist in Berlin (aber nicht nur da) an der richtigen Stelle, wo man der Ghettoisierung nicht entgegen trat, wo man das unintegrative Verhalten von zugewanderten Privatpersonen, Familien und Sippen als multikulturellen Gewinn interpretierte und andernfalls den Vorwurf der Zwangsgermanisierung lancierte, in der man von Eltern und Schülern nicht die Verbindlichkeit forderte, die man als Erwartbarkeit und Berechenbarkeit zu fordern hat, Lehrer alleine ließ und die Politik sich allzu leichtfertig zurückzog.

Es gibt immer eine Verliererkaste!
Der Karlsruher Philosoph Peter Sloterdijk formulierte sinngemäß, daß alle Geschichte die Geschichte von Kämpfen zwischen Zugehörigkeits- und Auswerwählungsgruppen sei. Auch wenn eine Gesellschaft größtmögliche Chancengleichheit herstellen könnte, gilt es, einen Modus für das dezente Verlieren zu entwickeln. Wo der Staat sich zurückzieht, wachsen die Unterschiede und die Ungerechtigkeit.

Fazit (2): Gut gemeint, aber nicht gut gemacht! Ein stetiges Unbehagen ist der Begleiter durch diesen Abend. Wer denkt, daß eine Inszenierung für sich sprechen sollte, wird enttäuscht sein. Die guten Absichten liest man eher aus dem Programmheft heraus, als daß man auf der Bühne ein Plädoyer vermittelt bekommt. Viele Theater sehnen das große zeitgenössische Stück herbei, das vom Geist der Bedeutsamkeit und Aktualität durchdrungen ist. Doch bei der Beschwörung von Geistern, muß man mit Spuk rechnen. So auch gestern: Verrücktes Blut täuscht gesellschaftliche Relevanz lediglich vor: es bedient sich nur des Themas auf intelligente, unterhaltsame und amüsante Weise. Aber es entsteht kein befreiendes Lachen im Publikum, es ist ein distanzierendes Lachen....

 
Regie: Dominik Günther; Bühne und Kostüme: Heike Vollmer; Dramaturgie: Tobias Schuster
Lehrerin: Antonia Mohr
Schülerinnen: Mariam - Joanna Kitzl; Latifa - Sophia Löffler
Schüler: Musa - Jan Andreesen; Hakim - Simon Bauer; Hasan - Thomas Halle; Ferit - Matthias Lamp; Bastian - Ralf Wegner

1 Kommentar:

  1. Vielen Dank für die vielfältigen Kommentare! Bitte haben Sie Verständnis dafür, daß ich angesichts der Brisanz des Themas hier kein Diskussionsforum moderieren möchte und daß ich keine Zeitungskritiken besprechen oder kommentieren werde (über die ich auch nicht verfüge und die ich übrigens auch in der Regel nicht lese).
    Das Staatstheater bietet mit seinem Gästebuch eine ideale Plattform, um Meinungen kund zu tun. Vor und nach jeder Aufführung gibt es auch Mitarbeiter des Staatstheater, mit denen gesprochen und diskutiert werden kann.

    @JT: Sie haben Recht. Ich hoffe, daß viele Zuschauer diese Erfahrung machen.

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