Nach der Generalprobe standen bei der Premiere vor allem die Sänger im Mittelpunkt. Betrachtet man die Struktur von Händels Alessandro fällt ein Ungleichgewicht auf. Die Oper benötigt sieben Sänger und enthält 25 Arien und drei Duette. Drei der sieben Sänger singen 20 Arien und alle Duette, die übrigen fünf Arien verteilen sich auf die restlichen vier Sänger.
Doch dafür gibt es einen guten Grund: Händel schrieb für ein berühmtes Sängertriumvirat. Bei der 1725 uraufgeführten und von Händel selber dirigierten Oper sangen zum ersten Mal drei der damals größten Gesangstars zusammen: der Kastrat Senesino, der als Alessandro acht Arien zu singen hat, sowie die beiden Sängerinnen Faustina Bordoni und Francesca Cuzzoni mit jeweils sechs Arien. Händel achtete auf eine gerechte Rollenverteilung zwischen den beiden Primadonnen, die auch dadurch berühmt wurden, daß sie sich bald als Konkurrentinnen sahen und sich später, während einer Aufführung von Giovanni Bononcinis Oper Astianatte, auf der Bühne prügelten.
Die Hauptrollen Alessandro, Rossane und Lisaura werden bei den Händel Festspielen gesungen von Lawrence Zazzo, Yetzabel Arias Fernandez und Raffaella Milanesi.
Lawrence Zazzo war bereits 1998 und 1999 bei den Karlsruher Händel Festspielen als Unulfo in Händels Oper Rodelinda zu hören (damals großartig dirigiert von Trevor Pinnock und gespielt vom Freiburger Barockorchester). Inzwischen gehört er zu den großen Namen der Countertenor-Szene, doch war sein gestriger Auftritt etwas zu glanzlos und unspektakulär. Stimmlich konnte er z.B. Franco Fagioli nicht vergessen machen. Seine Figur leidet allerdings unter der Karlsruher Regie: diese weiß mit ihm weniger anzufangen als mit den beiden Darstellerinnen. Seine Auftritte bleiben eher unbestimmt. Er stand dadurch letztendlich im Schatten der beiden Sängerinnen. Alessandro ist in dieser Inszenierung weniger die zentrale Rolle, als man
erwarten konnte.
Wie schon im Jahr 1725 lieferten sich auch gestern die Sängerinnen ein Kopf an Kopf Rennen um die Gunst des Publikums und lagen gleichauf. Beide erhielten sehr viel Applaus, Bravas und Zustimmung und es ist eine Frage persönlicher Vorlieben, welche der beiden der Vorzug zu geben ist. Im Verlauf des Abends hörte man von beiden sehr gut gesungene und auch gespielte Arien. Milanesis Lisaura macht im Verlauf des Abends mehr Veränderungen durch, Fernandez' Rossane hat das wärmere Timbre und die konstantere, sympathischere Rolle. Milanesi kann man deshalb hervorheben, weil sie erst vor wenigen Wochen engagierte wurde und aufgrund einer Erkrankung im Ensemble spät in die Produktion einstieg. Davon ist allerdings absolut nichts zu merken.
In den Nebenrollen gibt es ebenfalls Gutes zu berichten: Der argentinische Countertenor Martin Oro als Tassile (er sang bereits 2000 in Karlsruhe in Händels Messias), Andrew Finden (Clito), Sebastian Kohlhepp (Leonato) und nicht zuletzt die auch schauspielerisch wunderbare Rebecca Raffell (Cleone) sangen, agierten und tanzten(!) überzeugend. Schade, daß Sie aus oben genannten Gründen nur so wenige Arien haben.
Händels Sängerin Faustina Bordoni überlieferte, daß das typische Händel Orchester ca. 45
Instrumentalisten umfasste. In Karlsruhe waren es weniger. Die 36 Händel-Solisten spielten wie gewohnt großartig und klangschön. Der neue Dirigent Michael Form hinterließ einen sehr guten Eindruck. Man kann in Alessandro viel wunderschöne und abwechslungsreiche Musik entdecken!
Die Inszenierung ist nach Karlsruher Maßstäben Händel-gerecht und unterstützt die Sänger. Regisseur Alexander Fahima hat seine Ideen sehr gut umgesetzt: jeder Akt hat eine andere Atmosphäre, die Sänger agieren unterschiedlich und passend zum musikalischen Ausdruck der Arien. Allerdings ist die handlungsarme Oper bei ihm auch handlungsfrei erzählt. Es passiert wenig und ein bißchen mehr Erzählfreude und Ironie hätte der Inszenierung gut getan. Die Schlußszene ist ebenfalls diskutabel: das typische Verzeih- und Glücksfinale gönnt Fahima seinen Figuren weder musikalisch (die beiden schönen Duette am Ende des 3. Akts wurden gestrichen und dem Publikum vorenthalten) noch szenisch: Alessandro bleibt alleine zurück.
Claudia Doderer hat passende Kostüme geschaffen. Ihr Bühnenbild ist allerdings zu steril: die geometrisch abgestimmte, zweiteilige Seiten- und Rückbegrenzung wirkt unattraktiv. Im 1. Akt passiert nach starkem Beginn lange wenig auf der Bühne. Erst gegen Ende des 1. Akts wird dem Publikum dann wieder etwas zum Hinschauen geboten. Der 2. Akt lebt von der emotionalen Atmosphäre, die in einigen Arien durch 4 (sehr gute und sehr synchrone) Tänzer sowie über Projektionen bildlich verstärkt wird. Nicht immer hat man dabei den Eindruck, daß man die optimale Lösung sieht, manche Bildeffekte wirken austauschbar. Im 3. Akt hat man das Bühnenbild etwas erweitert, ohne daß damit etwas gewonnen ist. Etwas zu karg, etwas zu einfach, etwas fehlt, um in Erinnerung zu bleiben ...
Fazit: ein gelungener und schöner Festspieleinstieg, der musikalisch viel zu bieten hat. Ganz klar muß man auch feststellen, daß die neue Festspielleitung bemüht ist das künstlerische Niveau der letzten Jahre zu halten, doch mit dieser Produktion ist man noch nicht auf Augenhöhe der Vorjahre angekommen!
Die Premiere war restlos ausverkauft mit
ca 1100 Zuschauern auf allen Sitz- und Stehplätzen und wurde vom Publikum stark applaudiert uns sehr wenig ausgebuht. Wer sich im Publikum genau umschaute, konnte dort zwei weitere Adressaten des Jubels entdecken. Gemäß dem Karlsruher Spielzeitmotto könnte man die beiden als Helden bezeichnen, denn es war der frühere Intendant Günther Könemann, der vor 34 Jahren Karlsruhe zur Händel-Stadt machte und der ehemalige Opernleiter Thomas Brux (und der nicht gesichtete Achim Thorwald), die für die Beliebtheit und Akzeptanz Karlsruhes als Händel-Stadt in den letzten 10 Jahren -und damit auch für den Zuschauerandrang in diesem Jahr- einen wesentlichen Beitrag geleistet haben!