Sonntag, 28. April 2024

Saiten/Sprünge (Ballett), 27.04.2024

Nach fünf Spielzeiten verläßt Bridget Breiner am Ende der Saison Karlsruhe. Daß ihre Zeit als Ballettdirektorin wenig Spuren hinterlassen wird, ist der Covid-Pandemie zuzuschreiben, die bereits in Breiners erstem Jahr alles veränderte. Das mitgebrachte Ballett Ruß sollte ihre nachdrücklichste eigene  Choreographie bleiben, keines der anderen Handlungsballette, ob selber choreographiert oder beauftragt, erwies sich als Volltreffer. Insbesondere zwei Klassiker der mehrteiligen Ballettabende bleiben in Erinnerung: Glen Tetleys 1973 uraufgeführtes Voluntaries (20212/22) und der Höhepunkt des gestrigen Abends: Hans van Manens Große Fuge von 1971. Die gestrige letzte Ballettpremiere besteht aus drei Choreographien (darunter eine Uraufführung) und zwei Pausen. Musikalisch setzen alle drei Stücke als verbindendes Element auf kammermusikalische Streichmusik, live gespielt von Musikern der Badischen Staatskapelle.

Annabelle Lopez Ochoa: Requiem for a Rose
Die Choreographin soll "mehr als 100 Werke für 74 Tanzkompanien auf der ganzen Welt" geschaffen haben, darunter viele Handlungs- und abendfüllende Werke. Gestern sah man erstmals etwas von ihr in Karlsruhe, und zwar das 2009 vom Pennsylvania Ballet aufgeführte Requiem for a Rose zum ca. 15minütigen Adagio aus Franz Schuberts letztem Werk für Kammermusik, dem Streichquintett in C-Dur D956.  Ein kurzes Ballett - die nachfolgende erste Pause war länger als die Choreographie -, das nie so richtig an Fahrt aufnehmen wollte. Zu Beginn und zum Ende ertönt Herzpochen, ein Mädchen bzw. eine junge Frau mit langen Haaren steht an der Schwelle zur Liebe - die Tänzerin hat eine Rose im Mund, "sie ist die Metapher für die Liebe. Wahre Liebe hat Ecken und Kanten, sie ist nicht immer schön und glatt. Die Romantik ist das Gegenteil. Sie ist wie ein Blumenstrauß, der nur eine Woche hält. Das Mädchen im Zentrum des Stücks ist der pulsierende Herzschlag, umgeben von Schönheit. Dennoch fühlt sie sich erdrückt und möchte ausbrechen", so das Programmheft. Die anderen zwölf Tänzer sind die Rosen, zusammen sind sie quasi ein Bukett, die Rosenblätter sind durch rote Röcke dargestellt, sie tanzen vier Pas de deux und ein Pas de quatre. Das ist schön erdacht, musikalisch passend kombiniert und hat doch ein Manko: es ist routiniert in Szene gesetzt, doch nur mit flüchtiger Persönlichkeit versehen. Die beiden Ausdruckswelten des Mädchens und der Rosen bilden eine Verbindung mit zu geringen Wechselkräften. 

Tänzer: Carolina Martins, Julian Botnarenko, Lucas Erni, Nami Ito, Joan Ivars Ribes, Leonid Leontev, Sophie Martin, João Miranda, Geivison Moreira, Alba Nadal, Lucia Solari, Ledian Soto, Sara Zinna
Choreographie und Bühne: Annabelle Lopez Ochoa
Einstudierung: Luke Ahmet
Kostüme: Tatyana van Walsum
Licht: Annabelle Lopez Ochoa, Rico Gerstner

Hans von Manen: Große Fuge
Hans van Manen (*1932) ist der Meister der Kurzgeschichten, nicht der Romane; Handlungsballette waren nicht in seinem Fokus.  Auch bei diesem Klassiker-Ballett ("van Manens meistgespieltes Werk weltweit") steht ein berühmtes Werk für Kammermusik im Zentrum: Beethovens Große Fuge, die ursprünglich den Schlußsatz des Streichquartetts op. 130 darstellt und aufgrund der Komplexität sich dann als eigenständiges Werk op.133 etablierte. Das Ballett basiert auf op.133 und ergänzt es mit einem weiteren Satz (der Cavatina ) aus op.130. Beethovens späte Streichquartette sind in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich und bemerkenswert, Milan Kundera hat diesen Stücken in seinem Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins eine kleine Nebenrolle zugewiesen, die die beiden Hauptfiguren verbindet, und Thomas Mann verwendete op.132 für seinen Roman Dr. Faustus.
Das 1971 für das Nederlands Dans Theater geschaffene Ballett wird auf einer weißen Bühne getanzt. Vier Männer und vier Frauen, die erst in zwei Gruppen, dann in vier Pas de deux auftreten, bevor die Gruppen vermischen, tanzen beziehungsreich und ausdrucksstark. Was bei Requiem for a Rose fehlt, ist hier von Anfang an vorhanden: Persönlichkeit. van Manen ist für seine geometrischen Anordnungen bekannt, klare Linien und Symmetrien prägen seine Ballette. Bei der Großen Fuge befindet man sich noch in der schönen, heilen heteronormen Welt der binären Geschlechterzuordnung, in der Tänzer und Tänzerinnen klar getrennt sind und sich der Spannungsbogen aus dem Kontrast der nicht nivellierten Verschiedenheit spannt. 
Der 91jährige Choreograph war gestern in Karlsruhe und schaute sich im Parkett eine Reihe hinter Birgit Keil und Vladimir Klos den kompletten Ballettabend an. Als er auf die Bühne kam, gab es minutenlang stehende Ovationen, die der Choreograph aber ganz bescheiden lieber den Tänzern gönnen wollte. Seine über 50 Jahre alte Choreographie spielte gestern in ihrer eigenen Liga, in der weder der Beginn noch der Schluß dieses Ballettabend mitspielen konnte.

Tänzer: Olgert Collaku, Lucas Erni, Sophie Martin, João Miranda, Lucia Solari, Joshua Swain, Balkiya Zhanburchinova, Sara Zinna
Choreographie & Kostüme: Hans von Manen
Einstudierung:   Nancy Euverink
Bühne: Jean-Paul Vroom
Licht: Joop Caboort

Mthuthuzeli November: Water Me (UA)
Der junge südafrikanische Choreograph begann als Tänzer, kreiert seit einem Jahrzehnt auch selber und scheint überwiegend in seiner Heimat und Großbritannien tätig zu sein. Sein Ballett ist der Versuch eines großen Miteinanders, dessen Symbol der Kreis ist: "In seiner südafrikanischen Heimat erlebte der Choreograf Musik und Tanz, praktiziert von der Gemeinschaft in einer Kreisformation. In diesem Raum konnten die Menschen sich gegenseitig erkennen, einander etwas weitergeben und erfahren, dass sie trotz ihrer unterschiedlichen Lebenswege und Schicksale etwas Grundlegendes gemeinsam haben, das sie hoffnungsvoller in die Zukunft blicken lässt. Sehr viel mehr gibt die Choreographie auch nicht her, man sieht eine Mischung aus afrikanisch wirkender Folklore und Ballett, bei der hauptsächlich das Kollektiv gefordert wird, die Individuen aber kaum Konturen gewinnen. Die 16 Tänzer tanzen oft kleinteilig und verschnörkelt, weder ein roter Faden noch eine starke Kontur fallen ins Auge - ein Ballett, das ordentlich unterhaltsam ist und manchen Zuschauer ein wenig unbeteiligt zurückließ. Außergewöhnlich und phantasievoll sind die bunten Kostüme, die allerdings ebenso wie die Idee dieses Balletts etwas Rätselhaftes haben, das sich aber nicht vom Beliebigen unterscheiden läßt. Der Choreograph scheint ein Multitalent zu sein, die Musik für sein Ballett konzipiert er selber, der britische Komponist Alex Wilson verfasste die Partitur für Streichquartett und zwei Schlagzeuger. Musikalisch bleibt kaum etwas im Ohr, "der harmonische Fluß der Melodien vermischt sich mit etwas, das klingt, als würde jemand auf den Boden stampfen". 

Tänzer: Natsuka Abe, Francesca Berruto, Sophie Burke, Gabriel Capizzi, Baris Comak, Nami Ito, Valentin Juteau, Leonid Leontev, Carolina Martins, Geivison Moreira, Alba Nadal, Daniel Rittoles, Philip Sergeychuk, Carolin Steitz, Joshua Swain, Bridgett Zehr
Choreographie:  Mthuthuzeli November
Kostüme: Yann Seabra
Bühne: Mthuthuzeli November, Helena du Mesnil de Rochemont
Licht: Mthuthuzeli November, Rico Gerstner


Ein BRAVO an alle Tänzer. Auch sie litten in den letzten Jahren unter den Einschränkungen von drei Jahren Virus-Epidemie und konnten nie so in den Vordergrund treten, wie es den Tänzern bei Birgit Keil ermöglicht wurde. Jeder Sparte braucht ihre Publikumslieblinge und Hauptrollenakteure. Bridget Breiner hatte eine ganze Auswahl davon in ihrer Kompagnie, denen Covid die Rollen nahm.

Ein Bravo gebührt auch den beteiligten Musiker der Staatskapelle, die durch ihr Spiel Lust auf mehr Kammermusik machten: Franziska Dürr, Janos Ecseghy, Benjamin Groocock, Masae Kobayashi, Wolfgang Kursawe, David Panzer, Dominik Reichl