Freitag, 29. Dezember 2023

Rokokotheater Schwetzingen: Keiser - Nebucadnezar, 28.12.2023

"So fährt unsre Zeit von hinnen"
Das Silvesterfest 2023 scheint in der Bundesrepublik einer der bisher feuerwerksintensivsten Jahreswechsel zu werden. Wie das statistische Landesamt im Südwesten mitteilte, hat die Importmenge an Feuerwerkskörpern im Land einen neuen Rekordwert erreicht und auch im Bund legte der Import deutlich zu. Wer sich bei der gestrigen Vorstellung von Reinhard Keisers Nebucadnezar mit einem Barockfeuerwerk auf den Jahreswechsel einstimmen wollte, wurde stattdessen Zeuge eines Zweikampfs: eine sehr gute Sängerriege kämpfte oft und vor allem gegen Ende vergebens gegen eine sich dahinziehende, ungewöhnlich langweilige Inszenierung.

Die Heidelberger Oper widmet sich beim Festival Winter in Schwetzingen weiterhin der vernachlässigten deutschen Barockoper, deren bedeutendste Spielstätte an der Hamburger Oper am Gänsemarkt (1678 - 1738) war, der Wirkungsstätte von Reinhard Keiser, Georg Philipp Telemann, Johann Mattheson und auch des jungen Händel. Von dessen vier für den Gänsemarkt komponierten Opern ist nur Almira erhalten. Bei den Karlsruher Händel Festspielen 2024 widmet sich ein Konzert des Barockorchesters La Stagione Frankfurt.am 17.02.2024 den "Hamburger Freunden" Händels, das leider am Tag nach der Premiere von Siroe in dessen Schatten steht. Die Oper am Gänsemarkt war keine Hofoper, sondern wie auch die Oper in Venedig als Volksoper öffentlich zugänglich.

Über Reinhard Keiser (*1674 †1739) ist nicht mehr viel bekannt. Bis 1717 war er der meistgespielte Opernkomponist am Gänsemarkt. Dann ging der Pächter bankrott, Keiser suchte u.a. in Kopenhagen sein Glück. Auch am Hof von Baden-Durlach soll er sich um eine Anstellung erfolglos beworben haben. Telemann wurde in Hamburg der tonangebende Mann, Keiser kehrte zwar 1721 zurück, wurde aber nur noch sporadisch aufgeführt. Besucher der Karlsruher Händel-Festspiele hatten bereits die Möglichkeit, zwei (der weniger als 20 von ca. 70 komponierten) erhaltenen Opern Reinhard Keiser  kennenzulernen: 2004 gab es Die römische Unruhe, oder Die edelmütige Octavia, 2007 als Gastspiel FredegundaDer gestürzte und wieder erhöhte Nebucadnezar, König zu Babylon, unter dem großen Propheten Daniel soll 1704 erstmals und 1728 revidiert mit Arieneinlagen von Telemann am Gänsemarkt gespielt worden sein. In Schwetzingen wird anscheinend auf die Erstversion gesetzt, die gekürzt und mit Musik von 1728 ergänzt sein könnte. Im Programmheft findet man dazu wenig Informatives. Keiser komponiert gerne lautmalerisch, das Libretto von Christian Friedrich Hunold  hingegen funktioniert sprachlich nur eingeschränkt: weder Gleichnisse noch Metaphern und Lyrik überzeugen heute noch.

Die Inszenierung wirkt, als ob ein Regieassistent kurzfristig eingesprungen wäre und sich retro-eklektisch im Fundus abgelegter Ideen bedient, denn ständig gezückte Schußwaffen und Oligarchen-High Society wirken inzwischen ziemlich ermüdend. Am Anfang funktioniert das ganz gut, später kapituliert die Regie, in der letzten halben Stunde passiert dann nichts mehr, Arie um Arie herrscht fast Stillstand und das Publikum wird durch langgezogene Ödnis gequält und ist erleichtert, wenn endlich der Schlußvorhang langsam(!) zugezogen wird. Nebucadnezar (italienisch: Nabucco) ist hier eine barocktypisch verwickelte Dynastien- und Familienoper in historisierendem Gewand, bei dem sich die Mitglieder eines Beziehungshexagons umwerben und bekämpfen. Die Regie macht daraus eine Seifenoper in einen lilafarbenen Einheitsraum mit zentralem Krankenbett hinter einem Vorhang als Thron-Ersatz. Der biblische Nebucadnezar, ein babylonischer König, wird bekanntlich von Gott gestraft, hier hat er im ersten Akt bereits Vorahnungen, konsultiert den Traumdeuter und Sklaven Daniel und entdeckt seine religiöse Seite. Im zweiten Akt sitzt die Titelfigur bald im Rollstuhl und seine Frau Adina übernimmt das Ruder. Es gibt verschiedene Liebesverwirrungen. Die Königin Adina begehrt den Prinzen Darius, der zwischen Adinas Tochter Barsine und seiner früheren Geliebten Cyrene steht, an der wiederum Königssohn Beltsazer Interesse zeigt.  Es gibt Intrigen, Mordversuche und am Ende ist das Ende nicht erreicht, die Inszenierung endet im Stillstand. Strophen aus dem Choral Ach wie flüchtig, ach wie nichtig erklingen aus dem Hintergrund, wenn sich der Vorhang schließt. 

Sehr gute Sänger hat diese Produktion zu bieten, insbesondere der junge (im Jahr 2000 geborene)  Countertenor Dennis Orellana. Man merkte zu Beginn, wie das Publikum teilweise überrascht war, als sich die weiblich wahrgenommene Stimme als Countertenor entpuppte. Von dem aus Honduras stammenden Sopranisten wird man zukünftig noch hören.
Shira Patchornik als rücksichtslose, böse Königin Adina wird auch bei den Karlsruher Händel Festspielen 2024 in der Neuproduktion von Siroe singen, sehr koloratur- und höhensicher Theresa Immerz als ihre Tochter Barsine und auch die dritte Sängerin Sara Gouzy als Cyrene hinterließ einen starken Eindruck. Bei den Männern überzeugten Bariton  Florian Götz als geplagter Nebucadnezar und Tenor Stefan Sbonnik, der als Beltsazer im zweiten Akt die längste und interessanteste Arie hat. Tadelos singen auch die Tenöre Christian Pohlers als Berater Cores und João Terleira als Daniel sowie Countertenor Franko Klisović als Sadrach.

Wie üblich musiziert kein spezialisiertes Barock-Ensemble, sondern das Philharmonische Orchester Heidelberg, motiviert, mit schönen Soli, u.a. von Oboe, Fagott und Flöte, bis zu 24 Musiker sitzen im Orchestergraben. Über die Jahre ist man näher an die historisch orientierte Interpretationspraxis gerückt, Dirigent Gerd Amelung und die für die Einstudierung verpflichtete Dorothee Oberlinger sorgen für engagiertes Musizieren, das manchmal allerdings den Stillstand in der Handlung aufgreift, statt für Tempo zu sorgen. 

Fazit: Als Einstimmung auf die Karlsruher Händel Festspiele erweist sich der Winter in Schwetzingen vor allem sängerisch als gute Wahl. Den Namen Dennis Orellana sollte man sich merken!

Besetzung & Team
Nebucadnezar: Florian Götz
Adina: Shira Patchornik
Barsine: Theresa Immerz
Cyrene: Sara Gouzy
Beltsazer: Stefan Sbonnik
Darius: Dennis Orellana
Cores: Christian Pohlers
Daniel: João Terleira
Sadrach: Franko Klisović

Musikalische Leitung: Gerd Amelung
Regie: Felix Schrödinger
Bühne und Kostüme: Pascal Seibicke
Licht: Andreas Rehfeld

2 Kommentare:

  1. Ich gestehe, dass ich bereits zur Pause die Segel gestrichen habe - so sehr Dennis Orellana auch aufhorchen ließ; der Rest der Besatzung verdiente bestenfalls die Bezeichnung "brauchbar".

    Das, was auf der Bühne zu sehen war, würde ich am ehesten noch als "Regietheaterbullshitbingo" bezeichnen - so ziemlich jedes ausgelutschte Versatzstück wurde aufgeboten, das Modernität vortäuschen soll, aber letztlich doch nur altbacken wirkt: Feinripp. Bierflasche. Waterboarding. Popcorn. Übertriebenes Lachen. Und das bereits erwähnte Pistolengefuchtel.

    Enttäuschend.

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  2. Danke Herr Kaspar, nach der Pause kommen einerseits noch schöne Arien, andererseits kommt die Inszenierung zum kompletten Stillstand, die letzten 30 Minuten sind quasi ein Scheintod - so ermüdend hab ich das sehr selten erlebt.

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