Sonntag, 14. Januar 2024

Reza - Kunst, 13.01.2024

Die fragile Maskulinität der Memmen
Mann oder Memme? Es ist wenig überraschend, wie das Karlsruher Schauspiel die drei Protagonisten in Yasmina Rezas Erfolgsstück charakterisiert: Man bleibt überraschungsfrei in der eigenen Filterblase, nimmt sich viele Freiheiten am Text und verkrüppelt die Figuren zu politisch korrekt gewollten Klischees: statt Männer stehen Memmen auf der Bühne. Doch die gute Nachricht: Rezas Kunst hält die Reduzierung auf clownesk infantile Charaktere aus, wer sich an den grobmotorisch plumpen Humor gewöhnt, der kann der Regie durchaus eine ideenreiche Figurenentwicklung bescheinigen, die wahrscheinlich noch besser funktioniert hätte, wenn man bei dieser Inszenierung die Rollen mit drei Schauspielerinnen besetzt hätte. Was auf manche ein wenig wie eine unterbelichtete Selbstverramschung wirken könnte, ist dennoch durchaus zeitgemäß durch die Darstellung eines ins Lächerliche gezogenen, pseudomännlichen woke-soften Habitus.

Worum geht es (1)? 
Drei Freunde: Serge  (Dermatologe), Marc (Luftfahrtingenieur) und Yvan (Textilvertreter, der im Papiergroßhandel arbeitet)
Serge hat sich für 200.000 Francs (ca. 30.000 €) ein Gemälde eines namhaften Künstlers namens Antrios gekauft. Das Gemälde ist weiß, Pinselstriche mit etwas Struktur, doch sonst eine gleichgültige Fläche ohne Raffinesse, ohne erkennbare künstlerische Expertise, wie untenstehend beschrieben ein Bild, das Jahrzehnte zu spät kommt. Marc kann diesen Kauf nicht nachvollziehen ("Du hast diesen Dreck [cette merde] für 200.000 Francs gekauft!"). Serge fühlt sich angegriffen und ist von der Wertkritik (für ihn: fehlende persönliche Wertschätzung) verletzt. Yvan wird hinzugezogen, der es sich mit niemandem verderben will und sich vielmehr um seine bevorstehende Hochzeit Sorgen macht. Man beginnt, sich die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, es kommt zu Handgreiflichkeiten zwischen Serge und Marc, die allerdings Yvan körperlich verletzen. Yvan, der zur Psychotherapie geht, versucht den Konflikt zu lösen, dennoch spitzt sich die Situation zu; Die Freundschaft steht auf der Kippe. Doch es findet sich eine überraschende Lösung.

Worum geht es (2)?
In Kunst geht es um Freundschaft und einem aus einer Wertkritik entstandenem Streit. Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis, so nannte Karl Marx ein Kapitel in Das Kapital, in dem er untersucht, wie sich ein zur Ware gewordenes Arbeitsprodukt als Wert darstelle und sich die gesellschaftliche Beziehung in Tauschobjekten ausdrücke. In einem Gemälde verdinglicht sich die Arbeitskraft nicht, denn sie ist nicht abstrakt und austauschbar, sondern es ist gerade die Individualität des Künstlers, die sich darin ausdrückt. Doch wieso sollte man viel Geld für ein gegenstandslos monochrom weißes Bild bezahlen, das keine außergewöhnliche künstlerische oder handwerkliche Leistung erfordere? Wie kann man für den Besitz eines Kunstgegenstands aus der Hand eines namhaften Künstler zehntausende Euro ausgeben? Wo Freundschaften oft um unausgesprochene Leerstellen kreisen, bringt Yasmina Reza die Leere als Kunstwerk ins Leben dreier Freunde, die beim Streit über ein teures Bild das Bild, das sie sich voneinander gemacht haben und damit ihre Freundschaft hinterfragen.

Was ist zu beachten?
Die Welt war nie moderner, nie mehr Avantgarde als zu Beginn des 20. Jahrhunderts als man in verschiedenen Disziplinen Durchbrüche, neue Sichtweisen oder sogar Endzustände und Auflösungen erreichte. Die experimentelle Dekonstruktion erreichte ihre Höhepunkte, naturwissenschaftlich betrat man neue Wege, man spaltete Atome und verabschiedete lineare Raum-Zeit-Konzepte.  Die Musik öffnete sich neuen atonalen Ordnungsprinzipien. In der deutschen Literatur stehen bspw. Dada und Gottfried Benn für die Avantgarde der Entformung und Auflösung, in Benns Gedichtsammlung Morgue werden Leichen seziert, später enttarnte er das soziale Ich als verkörperte Leere. Auch in der Architektur begann ein neues Bauen, das bis heute wirkt. Perfekt ist es bekanntlich, wenn man nichts mehr entfernen kann. Der Architekt Adolf Loos hielt einen Vortrag mit dem Titel  Ornament und Verbrechen, in dem er glatte Oberflächen und leere Wände forderte ("Evolution der Kultur ist gleichbedeutend mit dem Entfernen des Ornamentes. ... Man kann die Kultur eines Landes an dem Grade messen, in dem die Abortwände beschmiert sind". Auch Tätowierungen sind ihm ein kultureller Rückschritt). Klare Formen, leere glatte Flächen als zukünftiges Evolutionsziel - noch heute bestimmen solche Vorstellungen bspw. Science Fiction Filme.
In der bildenden Kunst setzte sich die Abstraktion durch, Kasimir Malewitsch schuf 1915 mit seinem Bild Schwarzes Quadrat so eine letzte Abstraktionsform (später folgte u.a. auch ein Weißes Quadrat), die die Essenz der Epoche ausdrückt: analytisch, radikal, puristisch, eine reine Formalisierung. Das Schwarze Quadrat - eine monochrome Fläche - ist nihilistisch wie ein schwarzes Loch, das alles zurücknimmt und die Leere hinterläßt, die am Anfang stand. Das Ende des Experiments war erreicht, die Postmoderne setzte ein, ein Unternehmen, dessen Ziel es laut des Karlsruher Philosophen Peter Sloterdijk ist, die Inauthentizität und Lächerlichkeit zu rehabilitieren, die sich entwickelt, wenn sich das Individuum vom Sozialen her ein stabiles Selbst aufbauen will. Die identitären Barrikadenkonzepte vom rechten und linken politischen Rand, die heute die demokratische Mitte gefährden, sind ein Produkt dieser Rückkehr lächerlicher Fiktionen (Rasse, Gender, Religion, etc). (Abschweifung: Das neue Spießertum, das das letzte Jahrzehnt das Badischen Staatstheaters ideologisch und künstlerisch prägte, ist Teil dieser reaktionären Bewegung, die Barrikadendenken über Ideologiekritik stellt und glaubt, andere über ihre Fetischbegriffe belehren zu müssen.)
Wenn Yasmina Reza 1994 in Kunst ein weißes Gemälde ins Spiel bringt, dann ist das keine moderne oder avantgardistische Kunst, sondern eine mit achtzigjähriger Verspätung gemalte Nachahmung ohne künstlerischen Wert. In Kunst geht es also nicht um Kunst! Auch die aufgeblasene Wichtigtuerei des Kunstmarkts wird nicht thematisiert.

Was ist zu sehen?
Die Halbwertszeit von Theaterstücken ist kurz, viele verschwinden nach wenigen Aufführungen und werden kaum einmal wieder hervorgeholt. Yasmina Reza ist vermutlich die in den letzten drei Jahrzehnten meistgespielte Theaterautorin. Ihr gelang das Kunststück, mit Kunst (UA 1994), Drei mal Leben (2000) und dem Gott des Gemetzels (UA 2006) drei vielgespielte Erfolgswerke  geschrieben zu haben, die Bestand haben, und das -je nach Standpunkt- obwohl oder weil sie  boulevardesk wirkendes Figuren- und Dialogtheater sind, das charismatische Schauspieler und treffsichere Inszenierungen benötigt.  Das treffende Wort, der treffende Tonfall, die treffende Pause und das treffende Schweigen - das kennzeichnet Kunst, und Regisseurin Annalena Köhne löst das ordentlich, mit guten und weniger guten Momenten.
Das Bild ist nur eine symbolische Lichtinstallation. Das zentrale Bühnenelement sind tausende pinkfarbene Schaumstoffwürfel (Kantenlänge ca. 7 cm), die als Füllstoff der überdimensionierten Bildverpackung dienen und nach dem Öffnen  am Boden liegen. Drei Stühle, eine Schippe und ein Laubbläser ergänzen das Geschehen. Die pinken Würfel erinnern ein wenig an Jakob der Lügner aus der Spielzeit 2011/12, als es orangene Bälle waren. Nur die metaphorische Funktion unterscheidet sich: hier wird man an einen Kindergarten erinnert. Erwachsene Menschen, die sich mit etwas Infantilem auseinandersetzen. Das Motto der Inszenierung kann man auf der Bildverpackung lesen: Fragile Masculinity - Handle with Care. Drei Memmen, die zu Beginn als Boy-Band Playback singen und von der Regisseurin diffamiert werden: sie verwenden die Schaumstoffwürfel als Bauklötzchen, spielen wie im Kindergarten und agieren, quengeln, keifen und greinen in manchen Szenen kurzzeitig wie vierjährige Kinder. Die körperliche Auseinandersetzung des Stücks ist ein harmloses Schaumstoffwürfelwerfen. Yvans Verletzung rührt von keinem Schlag, sondern von einem ins Gesicht geworfenen Würfel und löst kindisch übertriebenes Brüllen aus. Man will in dieser Inszenierung die Figuren in manchen Szenen ins Lächerliche ziehen, doch was lächerlich ist, ist nicht automatisch lustig. Man muß die Ressentiments teilen und die Feindbilder pflegen, um an vielen Stellen den Humor dieser Inszenierung teilen zu können. Manches wirkt fehlplatziert und lächerlich, doch man ist geneigt zu behaupten, daß dies durchaus als Anspielung auf die desaströsen politischen Verhältnisse gedacht sein kann - überspitzt ausgedrückt scheint angesichts eines Kinderbuchautors, der die Rolle des Wirtschaftsminister zu spielen versucht und einer aufmerksamkeitsgierigen Diplom-Trampolinspringerin im Außenamt die Realität weiter als die Fiktion.
Alle drei Figuren wirken uniform: sie tragen Anzüge (in graublau, grün und beige), weiße Hightop-Sneaker, geschmacklos infantile Socken und weiße Oberteile. Mit Gunnar Schmidt (Marc), Jannik Süselbeck (Serge) und Michel Brandt (Yvan) hat man drei starke Schauspieler, die viele prägnante Momente haben. Bravo! Über die Besetzung kann man übrigens diskutieren. Wäre nicht Gunnar Schmidt der passendere (sich überlegen fühlende) Serge und Jannik Süselbeck der ideale (nervösere) Marc? 

Fazit: Eine Inszenierung, deren Humor überwiegend ein pubertierendes oder adoleszentes Publikum ansprechen will. 

PS(1):
Wer erinnerst sich an die letzte Karlsruher Inszenierung von Kunst? Bei der Premiere am 06.04.1996 spielten  Peter Kollek (Marc), Bernd Wurm (Serge) und Michael Rademacher (Yvan) in der Regie von Sigrid Andersson eine absurde Zimmerschlacht als einen erwachseneren Konflikt als die nun vorgestellte Produktion. 

PS(2):
Auch gestern gab es wieder ein Publikum, das weniger aus echten Besuchern und mehr aus Angehörigen und Freunden zusammengesetzt wirkte und claqeurhaft applaudierte. Der geschäftsführende Direktor saß sogar in der ersten Reihe mittig, ein Platz, den man locker verkaufen könnte. Aber ist der Ruf erst ruiniert, lebt's sich ziemlich ungeniert. Mal schauen, wie sich das ab 2024/25 entwickelt

Besetzung und Team:
Serge: Jannik Süselbeck
Marc: Gunnar Schmidt
Yvan: Michel Brandt

Regie: Annalena Köhne
Bühne: Alex Gahr
Kostüme: Jakob Baumgartner