Montag, 29. Mai 2023

Jazz (Ballett), 28.05.2023

Zwischen einstudierten Improvisationen und Let's dance
Als Musikrichtung steht Jazz für Improvisation, ein durch Könnerschaft ermöglichtes Variieren auf Basis eines bestehenden Fundaments. Doch wenn Tänzer eine eingeübte Choreographie aufführen, wird das gemeinsame Improvisieren schwierig. Die beiden gestern erstmals gezeigten neuen Choreographien des Badischen Staatsballetts, die von einer sechsköpfigen Live-Band begleitet werden, erhielten von einem lauten Teil des  Premierenpublikums begeisterten Applaus. Doch der Funke sprang nur bedingt über, von einer mustergültigen Umsetzung von Jazz war man choreographisch und szenisch weiter entfernt als erwartet.

Was ist zu sehen (1)?
Die beiden Choreographien verfolgen entgegengesetzte Ziele. 
Die belgische Choreographin Stina Quagebeur kontrastiert für Deviations die Musik mit Elementen der klassischen Ballettsprache, es gibt solistische Szenen und Formationen und es wird auch mal auf Spitze getanzt.
In Your Place or Mine verlegt Chorreograph  Kevin O’Day die Handlung quasi in einen Jazzclub. Die Kostüme sollen an die 1950er erinnern, die Männer ziehen bald ihr Oberteil aus und tanzen mit nackten Oberkörper, es wird schwitzender, lauter, zwischenmenschlicher und körperlicher, oft tanzen Paare miteinander. 
Deviations ist klassisches Ballett, das einen Zugang zu Jazz sucht und versucht, mit wiederkehrenden Elementen einen Bogen zu spannen. Bei Your Place or Mine ist von klassischem Ballett kaum etwas zu bemerken, der Tanz erinnert an eine Mischung von Musical und Contemporary, für die man keine Balletttänzer benötigt. Dabei gibt es sowohl manchen Leerlauf als auch stimmungsvolle Ensembles. Für Ballettfreunde wird die erste Choreographie interessanter, für Fans der RTL-Show Let's dance wird es eher die zweite sein. Daß der Verfasser dieser Zeilen von beiden Choreographien nicht sonderlich beeindruckt war, lag auch an der Musikzusammenstellung und der Bühne, doch dazu gleich mehr. 
Das Badische Staatsballett tanzt mit ansteckender Freunde und Engagement, jedes Ballett wird von 13 Tänzern präsentiert, sieben Frauen und sechs Männer bei Deviations, sechs Frauen und sieben Männer bei Your Place or Mine. In Deviations fallen insbesondere João Miranda, Bridgett Zehr und Louiz Rodrigues und in Your Place or Mine Baris Comak, Nami Ito und in einem langsamen Duett Ledian Soto und Alba Nadal ins Auge.

Was ist zu sehen (2)?
Bühne und Kostüme sind eher sparsam gesetzt und atmosphärisch wenig ergiebig. "Buchstäblich eingerahmt wird das Werk von einem überdimensionalen Ring, den Bühnenbildner Alex Gahr für Stina Quagebeurs abstraktes Ballett erdacht hat, der sich zu Beginn gleich einer Auster öffnet, um den Blick ins Innere freizugeben und ... den Übergang schafft zwischen Bühnen- und Zuschauerraum." Das ist nett, aber auch nicht mehr. Das zweite Ballett wird auch nicht stimmungsvoller, Gestelle sollen Häuser andeuten, neonumrandete Dachgestelle schweben darüber, beides beweglich, um es aus dem Raum zu bewegen. Wenn ganz am Schluß lateinamerikanische Rhythmen dazukommen, wird eine rote Fläche herabgelassen. Resultat: Bühne und Kostüme tragen nichts zur Stimmung bei! Was Jazz außer einem dunklen Jazzkeller sein kann, dafür hat man keine überzeugende Idee.

Was ist zu hören?
Sechs Musiker spielen Trompete bzw. Flügelhorn, Alt-, Baritonsaxofon bzw. Bassklarinette, Klavier / Keyboard, Gitarre, Bass und Schlagzeug. Platziert sind sie am hinteren Ende der Bühne auf einem Podest. Man spielt keine bekannte Musik, sondern Eigenkompositionen des Jazz-Trompeter Thomas Siffling. Swing, Dixie, Blues, Groove, Latin, es ist einiges dabei, aber nichts geht ins Ohr. Auch die Dramaturgie der Musikstücke erinnert  lediglich an die Gegensätze schneller - langsamer, lauter - leiser. Vielleicht wäre es aus choreographisch-dramaturgischer Sicht sinnvoller gewesen, einige Klassiker des Jazz zu verwenden und eine Zeitreise durch die Entwicklung des Jazz zu machen,. Sei's drum, die Band spielt der Situation angepasst mit viel Elan und schönen solistischen Momenten. Ein Take Five oder andere Jazz-Klassiker zwischendurch hätten es manchem Zuhörer und eventuell auch den Choreographen leichter gemacht. Wenn der Musik die ganz großen Höhepunkte fehlen, tun sich auch die Choreographen schwerer.

Fazit: Im Jazzclub des Badischen Staatstheaters muß man leider abstinent bleiben: das Publikum darf weder Alkohol noch Tabak im Großen Haus konsumieren, es fehlen musikalische Klassiker und die ganz großen choreographischen Momente. 


Besetzung und Team:

DEVIATIONS
Choreografie von Stina Quagebeur
Tänzer: Francesca Berruto, Julian Botnarenko, Baris Comak, Anastasiya Didenko, Valentin Juteau, Momoka Kikuchi, Carolina Martins, João Miranda, Timoteo Mock, Louiz Rodrigues, Lucia Solari, Bridgett Zehr, Sara Zinna

YOUR PLACE OR MINE?
Choreografie von Kevin O’Day
Tänzer: Natsuka Abe, Olgert Collaku, Baris Comak, Nami Ito, Joan Ivars Ribes, Sophie Martin, Alba Nadal, Pablo Octávio, Ledian Soto, Carolin Steitz, Joshua Swain, José Urrutia, Balkiya Zhanburchinova

 
Die Band:
Trompete, Flügelhorn: Thomas Siffling
Alt-, Baritonsaxophone, Bassklarinette: Olaf Schönborn
Klavier, Keys: Konrad Hinsken
E-Gitarre: Bjarne Sitzmann
Bass: Rosanna Zacharias
Schlagzeug: Erwin Ditzner
 
Choreografie & Inszenierung: Stina Quagebeur, Kevin O'Day
Musikalische Leitung: Thomas Siffling a. G.
Bühne: Alex Gahr
Kostüme: Elisabeth Richter
Licht: Bonnie Beecher