Eine ernst genommene Komödie
John Cranko zeigte einst mit Der Widerspenstigen Zähmung (mehr dazu hier) wie man eine Shakespeare-Komödie so choreographiert, daß Witz und Charme getanzt beeindrucken. Nun traut sich Bridget Breiner mit ihrem ersten abendfüllenden Handlungsballett in Karlsruhe an Shakespeares Verwechslungskomödie Was ihr wollt und nimmt sich dabei viel vor - Liebesdrama und Verzweiflung, Intrige und Komödie, ein tänzerischer und musikalischer Stilmix mit Stimmungsschwankungen und Verzauberung, ambitioniert, abwechslungsreich, mit starken, aber auch mit schwachen Momente. Die choreographierte Handlung spielt nicht vor sommerlich-sonnigen Hintergrund, sondern hat dunkle Abgründe. Der Funke sprang szenisch vielleicht ein wenig zu selten über, dem Premierenerfolg tat das keinen Abbruch, denn Tänzer und Musiker waren hochmotiviert und zeigten starke Leistungen.
Worum geht es?
Ein Schiffbruch vor der illyrischen Küste trennt das Zwillingspaar Viola und Sebastian. Viola tritt verkleidet als junger Mann namens Cesario in die Dienste des Herzogs Orsino, der unglücklich für Lady Olivia schwärmt und Cesario beauftragt, ihr seine Liebesbekundungen zu bringen. Doch Olivia ist nach dem Tod ihres Bruders in Trauer und nicht interessiert. Dennoch verliebt sie sich in den Boten Cesario/Viola, die sich wiederum in Orsino verliebt hat, aber ihre männliche Tarnung nicht auffliegen lassen will. Es kommt zu Verwechslungen, erst mit dem Auftauchen des totgeglaubten Zwillings Sebastian, der mit Cesario/Viola verwechselt wird und die Verwirrung kurzfristig noch erhöht, finden sich -bei Shakespeare- die beiden richtigen Paare zusammen.
Ein zweiter Handlungsstrang dreht sich um Olivias Onkel Sir Toby, der zusammen mit seinem Saufkumpan Sir Andrew (der ebenfalls Interesse an Olivia hat und Cesario zum Duell fordern wird), der Zofe Maria und dem Narren Feste den ambitionierten Haushofmeister Malvolio einen bösartig üblen Streich spielt. Sie täuschen ihn durch einen gefälschten Brief, in dem scheinbar Lady Olivia Interesse und Gefallen an Malvolio bekundet, der sich darauf so seltsam verhält (als vermeintlich geforderter Liebesbeweis tritt er in gelben Strumpfhosen auf und wird zum Gespött), daß er weggesperrt wird.
Um Violas Bruder Sebastian - bei Shakespeare eine
Nebenfigur, die erst spät auftaucht - nicht erst gegen Ende auf der Bühne erscheinen zu lassen, erfindet die Choreographin einen dritten
Handlungsstrang mit einer neuen Figur, die Sebastian rettet und begleitet.
Der Tanz in Zeiten der Virus-Epidemie
oder
Aus der Not eine Tugend gemacht
Das Programmheft stellt klar: "Die äußeren Umstände einer globalen Pandemie haben Ballettdirektorin und Choreographin Bridget Breiner in der Suche nach dem passenden Erzählstoff ihrer ersten abendfüllenden Kreation für das Staatsballett unmittelbar beeinflußt. Zum Zeitpunkt der Konzeption des Ballettes bestimmten „Social Distancing“, möglichst kleine Ensemblegrößen auf der Bühne wie im Orchestergraben und auch eingeschränkte Werkstattressourcen den Findungsprozeß. Shakespeares Verwechslungskomödie Was ihr wollt bot die ideale Vorlage, um unter diesen Umständen aus der Not eine Tugend zu machen. Die Komödie bietet durch ihre Vielzahl von Rollen den Tänzern eine Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten. Das Spiel mit Verkleidungen und wechselnden Identitäten eignet sich perfekt, die Ressourcen eines Theaterbetriebes mit Kostüm-, Bühnenbild- und Möbelfundus
zu durchstöbern. Der Rückgriff auf Barockmusik ermöglicht Arbeit in kleinerer Besetzung, ohne auf Live-Musik verzichten zu müssen."
Was ist zu sehen (1)?
Bühnen- und Kostümbildner Jürgen Franz Kirner erreicht mit wenig Aufwand viel Bühnenwirkung; laut Programmheft: "Den Sturm, der bei Shakespeare die Handlung auslöst, übersetzt er zum energiegeladenen Farbtornado, auf dem sich das Ballett abspielt. ...... In der Luft fortgesetzt durch eine riesige Spirale wird die Bühne zum Ebenbild des Sturms, der nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Figuren wütet.". Naturgewalt und emotionaler Trubel werden kombiniert. Für's Auge ist etwas geboten (auch wenn nicht jedes Bühnenelement unmittelbar überzeugt), vor allem auch,weil die Lichtregie von Bonnie Beecher für eine sehr schöne Atmosphäre sorgt.
Was ist zu sehen (2)?
Bridget Breiners 5. Shakespeare-Choreographie (nach Othello, Der Sturm, Romeo und Julia, Sommernachtstraum) hat viel zu bieten, neun Einzelrollen wollen charakterisiert werden, dazu kommen Ensembles verschiedenster Konstellation. Die Karlsruher Ballettdirektorin nimmt Shakespeare buchstäblich ernst, die ernsten Handlungsaspekte werden betont, die Komödie ist nur ein Teilaspekt dieser Choreographie. Die Zwillinge werde vorgestellt, Schiffbruch und Rettung gezeigt, Olivias Verlust und Trauer wird durch eine Beerdigung dargestellt - Breiner muß in die Breite ausweichen und anfänglich fast etwas langatmig Konstellationen gestisch und mimisch verdeutlichen und Beziehungen herstellen, statt komödiengerecht Situationen auf die Spitze zu treiben (das erfolgt erst nach der Pause) - man hätte geradliniger und heiterer durch diese Komödie steuern können. Auch
fehlen bei dieser Choreographie ein wenig die großen Tanzmomente und
Wow-Effekte, bspw. bei den Gruppenensembles, denen es bereits 2019 in Seid umschlungen an Durchschlagskraft mangelte.
Die Einführung der Figuren gelingt ein wenig zu langatmig, den Schicksalen der Einzelfiguren tritt die Choreographin mit viel Respekt entgegen. Handlung und Gefühl sind im Zentrum, Komik steckt überwiegend in der Malvolio-Geschichte, die aber auch tiefes Unglück zeigt. Im Handlungsstrang der Hauptfiguren gehören für Breiner "die Duette von Viola mit Olivia und mit Orsino an den entscheidenden Momenten der Handlung", in denen das zwischenmenschliche Drama der Liebe betont wird. Breiner interessiert die seelischen Konflikte der Charaktere, Francesca
Berruto als Viola, Ledian Soto als Orsino und Lucia Solari als Olivia zeigen einen starken Auftritt als zentrales Trio.
Der zweite Handlungsstrang birgt Komik: Malvolio ist als eitler Haushofmeister angelegt, der lächerlich und fertig gemacht wird und verzweifelt. Breiner läßt diese Geschichte versöhnlich enden, die Peiniger gliedern den Gepeinigten wieder ein: Schwamm drüber. Paul Calderone tanzt und singt(!) diese Figur bravourös, sein Auftritt in gelben Strumpfhosen ließ das Publikum lachen, seine Verzweiflungsszene mit eigener Musik und eigenem Tanzstiel wollte nicht so recht zum restlichen Ballett passen.
Die Verschwörergruppe besteht aus Olgert Collaku als Sir Toby, Timoteo Mock als Sir Andrew, João Miranda als Hofnarr und die starke Balkiya Zhanburchinova als Olivias Kammermädchen Maria, die sich mir ihrem resoluten Verhalten gegen Malvolios Anmaßung nach ca. 45 Minuten den ersten Szenenapplaus verdiente.
Der hinzugedichtete dritten Handlungsstrang wirkt halbherzig und uninteressant: Pablo Octávio als Violas Zwillingsbruder Sebastian darf zwischen Unglück und Tatkraft schwanken, Louiz Rodrigues als Retter Antonio hat eine wenig ergiebige Rolle.
Was ist zu hören (1)?
Bridget Breiner taucht Shakespeare überwiegend in die Musik des französischen Barockmeisters Jean-Philippe Rameau (*1683 †1764), der eine starke Affinität zum Tanz hatte und neben Balletten auch sogenannte Ballettopern komponierte (bspw. die inzwischen wieder regelmäßig aufgeführten Les Indes galantes), in denen Sänger und Tänzer auftreten und in der insbesondere auch lautmalerisch Situation vertont sind (wie Stürme, Wahnsinn, Schlaf- und Traumszenen etc). (Abschweifung: Eine von Rameaus Opern, wie auch die seines Vorgängers Jean-Baptiste Lully, würden auch der Karlsruher Oper bzw. als Gastspiel zu den Händel Festspielen gut zu Gesicht stehen). Der argentinische Gastdirigent Rubén Dubrovsky gilt als Experte für Barock- und Belcanto-Opern und ist ab der ab der Spielzeit 2023/2024 als Chefdirigent am Gärtnerplatztheater in München berufen, wo er Nachfolger des früheren Karlsruher GMDs Anthony Bramall wird. In Schwetzingen dirigierte er 2016 eine bemerkenswert schöne Aufführung von Mozarts Mitridate (mehr hier) und auch seine Einstudierung von Rameaus Musik schlägt Funken, die großartig aufspielende Badische Staatskapelle nutzt das Ballett für ein sehr schönes Barockkonzert, das stets Freude bereitet, insbesondere die Schlagzeuger(!) können auftrumpfen. Dubrovsky und sein Assistent Michael Nündel haben bei der Musikauswahl mitgewirkt, die durch eigene Arrangements folkloristischer Themen, vor allem aus der argentinischen Heimat des Dirigenten, und John Denvers (oder wie er tatsächlich hieß: Henry John Deutschendorf jr.) "sentimentale Ballade" Annie’s Song ergänzt wird, die später in einer Rock-Version erneut auftaucht. Und auch Tänzer Paul Calderone hat zwei Stücke beigesteuert. Es gibt also neben Musik aus dem Orchestergraben auch eingespielte Tonkonserven, Barock trifft auf Folklore und Pop - das hört sich inhomogen an, wirkt aber fast durchgängig harmonisch und erfüllt vor allem einen Zweck: die Welt des Barock wird im Verlauf des Balletts durch neue emotionale Tonlagen aufgebrochen.
Was ist zu hören (2)?
1. AKT
Rameau - Les Fêtes d‘Hébé: Musette, Tambourin
Rameau - Les Surprises de l‘Amour: Les Sommeil-Lent et Orage
Rameau - Zoroastre: Air Tendre
Rameau - Les Boréades, 6 Concerts trancrits en sextuor: Les Vents / La Timide (arr.)
Rameau - Zaïs: Symphonie
Rameau - Les Indes Galantes: Orage
Gustavo Leguizamón / Rubén Dubrovsky: Zamba de Lozano
Paul Calderone: Gestrandet
Rameau - Zaïs: Overture
Rameau - Pièces de Clavecin: Les Tendres Plaintes
Rameau - 6 Concerts trancrits en sextuor: La Coulicam, La Livri, Le Vézinet
Andrés Chazarreta / Rubén Dubrovsk: Le Telesita
Rameau - 6 Concerts trancrits en sextuor: L’Égyptienne
Rameau - Les Boréades: Entrée de Polymnie
Vivaldi / Rubén Dubrovsky: La Follia
Rameau - Les Fêtes d‘Hébé: Air Tendre
Rameau - 6 Concerts trancrits en sextuor: La Poule
John Denver: Annie’s Song
2. AKT
Rameau - Zaïs: Entr’acte
Rameau - Platée: Orage
Rameau - Pièces de Clavecin: Le Rappel des Oiseaux
Rameau - Platée: Ariette de la Folie
John Denver / Me First and the Gimme Gimmes: Annie’s Song
Rameau - Pièces de Clavecin: L’Entretien des Muses
Los Fabulosos Cadillacs: El Matador
Hermanos Díaz / Rubén Dubrovsky: La Vieja
Traditional / Rubén Dubrovsky: Te’i de olvidar
Paul Calderone: Eisszene
Rameau - Les Fêtes de Polymnie: Ouverture
Rameau - Pièces de Clavecin: Musette
Rameau - Castor et Pollux: Choeur de Spartiates / Télaïre
Fazit: Nach der Oper meldet nun auch das Ballett mit einer sehens- und hörenswerten Produktion zurück (nur das Schauspiel weiß nicht zu beglücken und fällt dagegen deutlich zurück)-: Bridget Breiner, den Tänzern, Musikern und dem ganzen Produktionsteam kann man nur gratulieren zu dieser eindrucksvollen und ausdrucksreichen Umsetzung.
Besetzung und Team:
Viola: Francesca
Berruto
Orsino, Herzog von Illyrien: Ledian Soto
Olivia, eine reiche Gräfin: Lucia Solari
Malvolio, Olivias Hofmeister: Paul Calderone
Sir Toby von Rülp, Olivias Verwandter: Olgert Collaku
Sir Andrew von Bleichenwang: Timoteo Mock
Maria, Olivias Kammermädchen: Balkiya Zhanburchinova
Narr, in Olivias Dienst: João Miranda
Sebastian, Violas Zwillingsbruder: Pablo Octávio
Antonio, Freund von Sebastian: Louiz Rodrigues
Dienerinnen: Nami Ito, Momoka Kikuchi, Carolina Martins, Carolin Steitz, Sara Zinna
Soldaten: Julian Botnarenko, Baris Comak, Valentin Juteau, Maxime Quiroga, Daniel Rittoles
Die Wilden: Natsuka Abe, Désirée Ballantyne, Rita Duclos, Alba Nadal, Bridgett Zehr, Joan Ivars Ribes, Joshua Swain, José Urrutia
Choreografie & Inszenierung: Bridget Breiner
Musikalische Leitung: Rubén Dubrovsky a.G.
Bühne & Kostüme: Jürgen Franz Kirner
Licht: Bonnie Beecher a.G.