Montag, 4. November 2019

Seid umschlungen, 03.11.2019

Vielversprechende Vorschau 
Wie wird sich das Badische Staatsballett in den kommenden Jahren weiterentwickeln? Für ihre erste Premiere hat die neue Karlsruher Ballettdirektorin Bridget Breiner einen Querschnitt zusammengestellt, der zeigt, welche künstlerischen Handschriften die nächsten Jahren prägen werden. Sie zeigt eine eigene, für diesen Anlaß geschaffene Uraufführung sowie die Werke von sieben weiteren Choreographen, die auch die nächsten Jahre die Karlsruher Kompagnie begleiten werden, einige davon persönliche Werkgefährten von Breiners Karriere als Tänzerin, Choreographin und Ballettdirektorin. Stilistisch (und musikalisch) reicht diese Leistungsschau vom klassischen Ballett bis zur Moderne; das Ergebnis kommt an, eine herzliche Stimmung und viel Beifall begleiteten den geglückten Einstand.
    
Was ist zu sehen (1)?
Die erste Ballettpremiere beginnt und endet mit einer Choreographie der neuen Karlsruher Ballettdirektorin Bridget Breiner. Das titelgebende Seid umschlungen zu Teilen aus Ludwig van Beethovens 9. Symphonie ist zweigeteilt, der Abend endet mit der Ode an die Freude. Das Programmheft erklärt die Absicht: "Im ersten Teil schälen sich aus einer dunklen Masse langsam Individuen heraus. Wir erleben eine Sinnsuche, ein Streben nach vorne, den Wunsch, sich ausdrücken zu wollen, noch unwissend wohin und wie. ... Im zweiten Teil ... kündigt sich der Wandel an. Aus dem Schwarz entspringt der Funke, die Idee zur Hoffnung". Breiner nimmt sich viel vor und überhebt sich ein wenig, im Verlauf des Abends erweist sich Seid umschlungen -auch im Vergleich zu den teilweise begeisternden anderen Choreographien- als eine etwas unrunde und unwuchtige Kreation, der es am Anfang an Dramatik und am Ende an Freude mangelt und deren Pathos und Symbolik nicht durchgängig wirken will. Seid umschlungen ist keine Choreographie geworden, die lange in Erinnerung bleiben wird.
  
Es folgt der Pas de dix aus dem „Ungarischen Divertissement“ des 3. Akts aus Alexander Glasunows Raymonda. Choreographin Lynne Charles hat die Vorlage von Marius Petipa (die 1898 seine letzte Ballettarbeit war) neu interpretiert. Die temperamentvolle ungarisch wirkende Musik wird klassisch anmutend zum großen Show- und Schaustück, erste Bravo-Rufe gab es für Balkiya Zhanburchinova und José Urrutia. Lynne Charles ist seit dieser Spielzeit Ballettmeisterin und künstlerische Begleiterin des Karlsruher Staatsballetts. Wie man gestern hören konnte, wird sie angeblich auch in der kommenden Saison für das Badische Staatsballett einen großen Premierenabend choreographieren.

Danach folgte erneut eine Uraufführung: Always / Only des Choreographen Kevin O’Day für vier Tänzer basiert auf einem Streichquartett des amerikanischen Komponisten Bryce Dessner, dessen energische Musik mit Soli, Duetten und Quartetten eine starke Dynamik erhält. Alba Nadal, Lisa Pavlov, Valentin Juteau und Louiz Rodrigues tanzten die mitreißende Choreographie so engagiert, daß sich Begeisterung und Bravo-Rufe beim Publikum nicht mehr zurückhalten ließen und durchbrachen. Nach Raymonda und Always / Only war die neue Ballettkompagnie beim Karlsruher  bereits erfolgreich angekommen.

Danach wird auf französisch "getötet", Tué für eine Tänzerin des Choreographen Marco Goecke entstand 2009 zu französischen Chansons und  "ist ein intimes Solo, das die eigenwillig melancholische und ausdrucksstarke Stimme der Sängerin für schnelle, fieberhaft-nervöse und flirrende Bewegungen der Tänzerin nutzt. Spannung entsteht durch die Gegenüberstellung von Zurückhaltung und Unrast, durch das Oszillieren zwischen Flucht und Verharren, zwischen Zerbrechlichkeit und Kraft. Auch im Kostüm ist dieser Gegensatz allgegenwärtig: Die Korsage lässt hinten fast den gesamten Rücken frei, während es vorne wie ein Schutzpanzer den Oberkörper abschirmt". Bridget Breiner hat übrigens selbst Tué oft getanzt, gestern vertraute sie diese Aufgabe der ausdrucksstarken Schwedin Nadja Sellrup an, die damit den einzigen Solo-Auftritt des Abends erhielt.

Ruff Celts Reworked der Choreographin Marguerite Donlon für 10 Tänzer erlebte 2016 in Chicago seine Uraufführung und ist "eine temporeiche und humorvolle Hommage an ihre Heimat Irland". Die "Musikcollage reicht unter anderem von der Irish Folk Gruppe par excellence The Dubliners über Sinéad O’Connor bis zu elektronischer Musik des zeitgenössischen österreichischen Komponisten ... Sam Auinger".  Es wird körperlich und intensiv, die Tänzer müssen laut atmen und Laute von sich geben, die Begeisterung beim Publikum hielt weiter an. 

Nach der Pause folgt mit 5 eine schwungvolle und gutgelaunte Choreographie für fünf Tänzer von David Dawson, der anscheinend ebenfalls 2020/21 in Karlsruhe einen Abend gestalten wird und -wie auch Donlon- erneut in der letzten Ballettpremiere der Saison Movers and Shakers eine Kreation beisteuern wird. Zu sehen war gestern ein Ausschnitt aus Dawsons Neuinterpretation zu Adolph Adams Giselle, die er 2008 als abendfüllendes Handlungsballett für das Ballett der Semperoper Dresden kreierte und die laut Auskunft gut informierter Ballettfreunde nächste Saison in Karlsruhe zu sehen sein könnte.

Danach ein Pas de deux names Daybreak des schwedischen Choreographen Pontus Lidberg zum zweiten Satz von Samuel Barbers Streichquartett op. 11 (umbearbeitet bekannt als sein Adagio für Streichorchester), eine intime, nachdenkliche Szene, getanzt von den zwei neuen Tänzern Lucia Solari und Ledian Soto.

Es folgte The new 45 Finale von Richard Siegal für zwei männliche Tänzer zur Mack the Knife von Kurt Weill und Benny Goodman Get Happy. "Bestes Broadway-Entertainment" beschreibt das Programmheft treffend diese Choreographie. Der in Karlsruhe gebliebene Pablo Octávio und der neu hinzugekommene Joshua Swain kombinieren ihr Können zu einem lässigen Duett voller Lebendigkeit.

Zum Abschluß dann erneut Seid umschlungen, das diese geglückte Erstproduktion beendet.

Was ist zu hören?
Auch musikalisch wird einiges geboten. Bridget Breiners Seid umschlungen basiert aufs Beethovens 9. Symphonie, die in Franz Liszts grandioser Fassung für zwei Klaviere live gespielt wird von Elena Kuschnerova und Angela Yoffe. Die restliche Musik kommt vom Band, man hört weiterhin bekannte Ballettkomponisten wie Adolphe Adam und Alexander Glasunow über die Jazzmusik von Oscar Peterson und Benny Goodman, Musik des zeitgenössischen Komponisten Bryce Dessner, Irish Folk, französischen Chanson und Streichquartette.

Was ist zu sehen (2)?
Welche Tänzer werden die prägenden Hauptrollenakteure und Publikumslieblinge der kommenden Jahre? Der Zweck dieser Eröffnungsproduktion ist einerseits die neue Kompagnie vorzustellen, andererseits den Tänzern die Möglichkeit geben, ihr Können umfassend unter Beweis zu stellen: "Wir sind mit dem Wunsch in die Vorbereitungen gegangen, der gesamten Company so viele Chancen wie möglich zu geben, um mit den unterschiedlichen Choreographen zu arbeiten.... Auch werden wir über die Spielzeit hinweg die Besetzungen ändern, so daß möglichst viele die Chance haben, in verschiedenen Stücken auf der Bühne zu stehen". Es wird noch eine Zeit dauern, bis man auf obige Eingangsfrage eine Antwort geben kann, zu Beginn kann man als Zuschauer oft noch keinen Namen seinen Favoriten zuordnen, das Kennenlernen wird eine Saison benötigen. Allerdings fiel gestern auf, daß Breiner ein homogenes Ensemble beisammen hat, in dem viele Tänzer solistisch auftreten können. Lucia Solari,  Désirée Ballantyne und Nadja Sellrup werden aufgrund ihrer vorangegangenen Karriere wichtige Rollen übernehmen, Balkiya Zhanburchinova und Lisa Pavlov hatten starke Auftritte, bei den Herren fielen u.a. José Urrutia und Joshua Swain  auf. Welche jungen Tänzer bei Breiner den Sprung nach vorne nehmen, wird eine weitere spannende Frage.

Was ist zu sehen (3)?
"Das Möbiusband spielt eine wichtige Rolle an diesem Abend, visuell im Bühnenbild von Jürgen Kirner, inhaltlich als Symbol für das beständige Streben und die stete Erneuerung", beschreibt es das Beiheft. Allerdings sind Bühne und Kostüme hier überwiegend unauffällig, Stimmungselemente, die dezent gehalten nicht ablenken sollen.

Fazit: Ein für das Badische Staatsballett richtungsweisender Querschnitt, den man nicht verpassen sollte! Dem Publikum war bei der gestrigen Eröffnungsproduktion der Wille zur Begeisterung und Willkommenskultur anzumerken, ein sehr guter Start, der durch Birgits Keils erfolgreiche Ära und die durch sie erreichte Aufwertung des Karlsruher Balletts inklusive zahlreicher neuer Ballett-Fans ermöglicht wurde. Bridget Breiner baut auf Keils Erfolg auf, nach der gestrigen Premiere ist nicht damit zu rechnen, daß sie von der Vorarbeit ihrer Vorgängerin zehren muß.