Multiples Motivversagen
Was hat Büchners Woyzeck heute noch zu erzählen? Eine Frage, an
der sehr viele Inszenierungen scheitern, weil sie nur noch weit
Hergeholtes und grob Zusammengereimtes in die Handlung projizieren oder
immer noch altertümlichen Interpretationen folgen. In knapp zwei
Jahrhunderten hat sich vieles grundlegend und auch zum Besseren
geändert, doch die Decke der Zivilisation ist dünn, der Mensch ist dem
Menschen ein Wolf und Gewalt ist eine Konstante. Sie kann kanalisiert
werden durch Sport und Karriere und bricht doch immer wieder durch - als
Recht des Stärkeren, als Sadismus oder als Zuflucht, denn Haß und
Gewalt können als Ventil für verletzte Würde und negative Emotionen
befreiend wirken. Die Geschichte des Mörders Woyzecks ist vielschichtig
und deshalb noch immer bühnentauglich, die Titelfigur ist individuell
benachteiligt, psychisch labil, in prekären Verhältnissen und mit
niedrigem gesellschaftlichen Status und wird von seiner Partnerin betrogen. Diese Konstellationen werden von der neuen Karlsruher Inszenierung weitgehend ignoriert, die Regisseurin will keine
gesellschaftliche Analyse, sondern sieht nur die individuelle psychische
Krankheitsgeschichte – mehr bleibt von Woyzeck nicht übrig. Das ist umso bitterer, da die Regisseurin als Autorin Büchners Dramenfragment erweitert und verändert hat, aber es nicht ansatzweise gelingt, der Neumotivierung Triftigkeit zu verleihen. Ästhetisch deutet die Regisseurin vieles nur an, doch sind ihre Andeutungen weder mysteriös spannend noch prägnant. Wer sich als Zuschauer
diese zähe und langweilige Produktion unbedingt antun will, dem könnte mit dem Tipp gedient
sein, sich den Handlungsverlauf bei dieser Inszenierung in einer geschlossenen psychiatrischen
Anstalt vorzustellen. Sehr viel mehr Sinnhaftigkeit läßt sich bei dieser
Figurenkonstellation, die ständig von einer Bühnen-Ärztin beobachtet wird, kaum
erkennen.
Worum geht es bei Büchner?
Woyzeck gehört zum Prekariat, mittellos und abgehängt. Als einfacher Soldat ist er Befehlsempfänger und dient einem Hauptmann in einer Zeit ohne Wehrbeauftragten und innere Führung. Als Vater eines unehelichen Kindes, fehlt ihm das Geld für den Unterhalt, weshalb er für einen Zuverdienst dem Militärarzt als Versuchskaninchen für dubiose Forschungszwecke dient. Der Hauptmann behandelt Woyzeck von oben herab, der Militärarzt ist skrupellos. Woyzecks Geliebte Marie beginnt eine Affäre mit einem Tambourmajor, der Woyzeck verprügelt. Woyzeck scheint psychisch labil, er hört Stimmen, die ihn auffordern, die treulose Marie zu töten. Er kauft sich ein Messer und ersticht die Mutter seines Kindes.
Was ist zu beachten?
Das 1836 geschriebene und unvollendet gebliebene Dramenfragment Woyzeck von Georg Büchner wurde erst 1913 uraufgeführt. Regisseurin Habermehl hat Szenen dazugeschrieben, um Büchners Fragment zu modernisieren und "Aspekte, die sich durch die Zeit, ...stark verändert haben ... aus dem heutigen gesellschaftlichen Kontext ... neu zu deuten.". Was ist also modern an der Geschichte von Woyzeck? Wer ist Woyzeck heute? Bestimmt kein Soldat, denn die Ansprüche und das Umfeld haben sich viel zu stark geändert, Hauptmann, Tambourmajor und Militärazt stehen heute nicht mehr für eine Obrigkeit, das wäre vielmehr der Billiglohnarbeitgeber oder die Hartz IV Behörde bzw. das Arbeitsamt oder der Bewährungshelfer. In Woyzeck steckt übrigens ein Bezug, der gerne dann unter
den Tisch gekehrt wird, wenn man nicht tiefer bohren will. Woyzeck
ähnelt dem polnischen Namen Wojciech und scheint
das Problem der Zuwanderungskriminalität schon im vorletzten Jahrhundert
zu thematisieren. Die Kriminalstatistiken für 2018 gibt Hinweise: "Deutsche werden
deutlich häufiger Opfer einer Straftat, die von einem Zuwanderer verübt
wurde, als umgekehrt. Dies geht aus dem gleichzeitig mit der
Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) veröffentlichen Lagebild
„Kriminalität im Kontext der Zuwanderung“ des Bundeskriminalamtes (BKA)
hervor." "Der Anteil ausländischer Gefangener
in deutschen Justizvollzugsanstalten hat in allen Bundesländern neue
Rekordwerte erreicht. ... In Berlin und Hamburg kommt danach bereits
mehr als jeder zweite Häftling aus dem Ausland". Intensivtäter scheinen überproportional zugewandert. Der Woyzeck von heute hätte wahrscheinlich einen Migrationshintergrund und eine geringe berufliche Qualifikation. Doch auf die aktuelle gesellschaftliche Einordnung verzichtet die Regie.
Worum geht es bei Habermehl?
Die Handlung soll sich nun in einer Mietwohnung im Hier und Heute abspielen. Die Geschlechterzuteilung ist getauscht und Rollen gestrichen, vier Schauspieler sind auf der Bühne. Woyzeck ist nun eine Frau, ebenso der Arzt, Marie heißt nun Mario und ist männlich besetzt. Nur der Hauptmann bleibt ein Mann und ist eine neue Figur, kombiniert aus dem ursprünglichen Hauptmann und dem Tambourmajor. Der weibliche Woyzeck ist psychisch angeschlagen und Bundeswehrsoldatin, am Anfang steht ein liebendes Paar, doch die Beziehung scheitert, der Mord wird weder gezeigt noch vorbereitet, Folgerichtigkeit darf man bei dieser überwiegend illustrativen Inszenierung, die keine Entwicklungen zeigt, nicht erwarten. In Beitexten findet sich überwiegend Unfug. Die Regisseurin schmeißt mit einem Sammelsurium von schicken Begriffen um
sich ("häusliche Gewalt" und "physische Gewalt",
"Gewaltstrukturen", "strukturelle Gewalt" und "gesellschaftliche
Gewaltmechanismen"), die letztendlich Worthülsen bleiben, und erklärt: "Es
geht mir darum, die inneren Machtstrukturen unserer Gesellschaft zu
untersuchen und den Stoff und die Figuren so sehr in unsere Nähe zu
holen, daß wir sie verstehen". Ein Anspruch, den sie nicht mal ansatzweise erfüllen kann. Noch immer kursiert die plumpe Fehlinterpretation, daß dieses Drama "vor allem auch eine Kritik an einer Gesellschaft ist, die den einzelnen Menschen unterdrückt, ihn der persönlichen Freiheiten beraubt und so in physische und psychische Abgründe treibt", wie es das Karlsruher Schauspiel so unsäglich schlicht ausdrückt. Doch auch dieser Zeigefingersatz verpufft gegenstandslos in dieser Produktion. Woyzeck ist einfach nur psychisch labil. Wer diese bis zur Langeweile reduzierte Geschichte deuten wollte, der könnte in Büchners Anti-Revolutionsstück Dantons Tod den passenden Ansatz finden: "Was
ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet? Puppen sind wir,
von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst!"
Was ist zu sehen?
Kurz nach Mitternacht verblaßt beim Autor dieser Zeilen bereits die Erinnerung an diese überflüssige Produktion, doch eines muß hervorgehoben werden: der Geschlechtertausch funktioniert, Anna Gesa-Raija Lappe als weiblicher Woyzeck beweist, daß es geht. Man spürt, daß sie bereit ist, der Titelfigur durch eine bemerkenswerte Interpretation ein unverwechselbares Gesicht zu geben. Doch ach!, leider weiß die Regisseurin nichts mit diesem Angebot anzufangen, da sie die Titelfigur nicht angemessen interpretieren kann. Lappes grandiose Interpretation läuft ins Leere, vom Drama bleibt nichts übrig, die Regisseurin macht daraus eine Dokumentation einer psychischen Störung.
Fazit: Und wieder nix! Was für ein armseliges und grausames Theaterjahrzehnt liegt hinter dem Karlsruher Schauspiel - viel zu wenig Freude, viel zu wenig Inspiration, überwiegend spannungsfrei, humorlos und beliebig präsentiert sich das heruntergespuhlerte Badische Staatstheater. Und es scheint noch jahrelang so deprimierend zu bleiben. Masochistische Geduld ist erste Publikumspflicht. Irgendwann gibt es auch wieder einen guten Intendanten, der es nicht als seine Hauptaufgabe ansieht, sein Publikum zu belehren und zu bepredigen, sondern es zu begeistern, zu inspirieren und freudvoll zu unterhalten.
Besetzung und Team
Woyzeck: Anna Gesa-Raija Lappe
Arzt: Antonia Mohr
Mario: Thomas Schumacher
Hauptmann: Jens Koch
Regie: Anne Habermehl
Bühne: Christoph Rufer
Kostüme: Bettina Werner
Musik: Philip Weber
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.