Der Künstler als Sensibelchen und Weichei
Die Viruspandemie macht's möglich, denn sonst hätte man wohl kaum die Chance, Hans Werner Henzes Kurzsingspiel Das Wundertheater kennenzulernen. Nachdem es letzte Woche den Prolog aus Strauss' Ariadne auf Naxos zu hören gab, folgte nun der zweite Teil in solider Umsetzung, bei dem ein Schwachpunkt im Versuch liegt, die Anknüpfung an die Ariadne aus der wehleidigen Perspektive bedauernswert überempfindlicher Künstlerseelen zu konstruieren.
Was bleibt vom Komponisten Hans Werner Henze (*1926 †2012)? Die Zeit könnte über ihn hinweggehen. Er ist mit seinem umfangreichen Werk einer der bedeutendsten Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in gewisser Weise sogar der legitime Nachfolger von Richard Strauss auf dem Thron der deutschen Musik. Er komponierte Symphonien, Konzerte und Orchesterwerke, Kammer-, Ballett-, Film- und Bühnenmusik sowie einige Opern. Doch seine Musik hat sich bisher nicht durchgesetzt, Orchester, Dirigenten und vor allem das Publikum reißen sich nicht um ihn, weder im Konzert noch auf CD und kaum in der Oper. Strauss' Popularität und Geläufigkeit hat Henze nicht ansatzweise erreicht, ihm fehlt die Strahlkraft, der vom Programmheft ihm zugeschriebene "lustvolle Eklektizismus", dessen "Stil seine Charakteristika vor allem in der Negation der Eindeutigkeit und Einheitlichkeit bezieht" ist nicht für die Hörer lustvoll, sondern spröde. Die Publikumsfavoriten, auf deren Wiederhören man sich freut, fehlen oder sind noch nicht entdeckt. Den Gegenbeweis dazu müßten die Opern- und Konzertbühnen erbringen. Henzes Autobiographie Reiselieder mit böhmischen Quinten ist für alle Musikinteressierte lesenswert und weckt das Interesse an ihm, doch zum Publikumsfavoriten wird er wohl in absehbarer Zeit nicht mehr.
Die Oper der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hat aber auch bisher wenig Kanonisches zu bieten, Poulencs Dialogues des Carmélites (1957), Brittens Tod in Venedig (1973) und Philip Glass' Echnaton (1984) scheinen bspw. bereits Klassiker. Und wie steht es um Frank Martins Der Sturm (1956), Reimanns Lear (1978), Messiaen Saint François d'Assise (1983) und Adams Nixon in China (1987). Und was ist mit Henzes König Hirsch, Elegie für junge Liebende oder Der junge Lord? 2026 zum 100. Geburtstag sollte man einer seiner Opern eine Chance geben und sie auch am Badischen Staatstheater inszenieren. Es wurden schon immer sehr viele Opern komponiert und fast genau so viele davon in den Archiven vergessen. Wenige haben sich in der Vergangenheit durchgesetzt, welche Werke aus den letzten 70 Jahren werden Klassiker? Gibt es noch vieles zu entdecken, an das sich die Theater zu unrecht selten trauen? Oder bleiben die letzten sieben Jahrzehnte als Dekaden des unsinnlichen Musiktheaters in den Geschichtsbüchern? Das Badische Staatstheater könnte sich um die Oper nach 1950 verdient machen, indem es sich an eine kanonische Auswahl traut. Denn es ist auch gerade die Aufgabe eines Staatstheaters, Geschmack zu bilden. Leider wurde das im letzten Jahrzehnt damit verwechselt, als Erziehungsanstalt der Spießer und Moralapostel das Publikum zu belehren und den Zeigefinger zu heben.
Worum geht es im Wundertheater?
Die Geschichte erinnert an Andersens Märchen vom Kaiser uns seinen neuen Kleidern, das bekanntlich mit dem Ausruf eines Kindes endet: Aber der Kaiser hat ja gar nichts an! Eine reisende Schauspieltruppe führt ein besonderes Stück auf, denn nur gute Christen, die in einer Ehe gezeugt wurden, können die Erscheinungen sehen, für alle anderen bleibt die Bühne leer. Der Schauspieldirektor kommentiert das nicht vorhandene Bühnengeschehen. Im Publikum will sich niemand eine Blöße geben, alle tun so als ob, doch als ein Soldat hinzukommt, der ausspricht, nichts zu sehen, wird er zum Sündenbock gemacht und verprügelt. Der Direktor zeigt sich erfreut von der Resonanz auf seine Aufführung: "Wir haben einen außerordentlichen Erfolg gehabt. Das Theater hat seine Tugend wieder einmal bewiesen."
Was ist zu beachten?
Theater spielen im Wundertheater die Zuschauer, die nichts sehen, aber so tun als ob. Sie verhalten sich konform und bestärken die Lüge, um vermeintlich korrekt zu sein und bestrafen den Abweichler brutal. Das Programmheft erläutert zutreffend: "Die Lüge wird zum Prinzip. Man belügt die anderen, letztlich aber auch sich selbst. Das Individuum in der Massendynamik kann mit seinen Befindlichkeiten nur in der Isolation bestehen. Ein ehrlicher Austausch ist nicht möglich. Die wiederholte Lüge wird zur Wahrheit, so daß die Grenzen zwischen Realität und Imagination verschwimmen. Was als kleine Lüge, vermeintlich harmlos beginnt, wird zu etwas Unaufhaltbaren." Wo das Private politisch wird, beginnt die Tyrannei. "Auf Eitelkeit und Unsicherheit der Masse ist verlaß." Eine heuchlerische Gesellschaft, die einen ehrlichen Einzelnen stigmatisiert und an den Pranger stellt, eine Politik, die von oben nach unten agiert und die Republik in eine Erziehungsanstalt umwandeln will - das scheint wieder Realität. Gerade in Zeiten des Kulturkampfes von Wutbürgern und Gendertheologen, Querdenkern und Klimahysterikern, Pegida und Fridays for Future, Political Correctness und Cancel Culture kann man die bundesdeutsche Gesellschaft in ihrem medialen Auftritt und der Politisierung des Privaten als Gesellschaft der Spießer und Heuchler bezeichnen. Die Neue Zürcher Zeitung schrieb im Frühjahr 2019 zutreffend, daß die Deutschen "nicht nur Weltmeister im Moralisieren, sondern auch im Heucheln" sind. Der Chefredakteur der NZZ erklärte später an anderer Stelle: "Deutschland sieht sich als Moralweltmeister". Henzes Wundertheater ist also ein hochaktuelles Gleichnis auf das neue deutsche Spießertum, das nur seine Filterblase anerkennt, und auch auf das instrumentalisierte Theater als Herstellungsort korrekter Gesinnung, wie man es im letzten Jahrzehnt in Karlsruhe erleiden mußte. Leider verpaßt die Regie die Chance der Aktualisierung und begnügt sich mit dem Blick auf das Einzelschicksal, das auch noch pathetisch aufgeladen wird.
Was ist zu sehen?
Für die Inszenierung hat man eine im Aufwind befindliche, spannende junge Regisseurin gewinnen können. Julia Burbach hat einen guten Namen, daß man sie zum Kennenlernen engagieren konnte, läßt hoffen, daß sie zukünftig ein größeres Werk in Karlsruhe in Szene setzen wird. Bei ihrer Inszenierung fällt auf, daß die Figuren historisch bleiben, die Kostüme passen zu Heinrich Manns Kleiner Stadt und reichen bis in die Entstehungszeit der Oper, der Mut zum heutigen Zeitbezug wird etwas leichtfertig unterlassen. Burbach greift auf einfache Mittel zurück, die Drehbühne kommt zum Einsatz, auf der große Rechtecke wie Türrahmen stehen. Das Sichverstellen und das Gekünstelte der Figuren steht im Mittelpunkt der werkdienlich gedachten Regie: "Im Wundertheater befinden wir uns von Beginn an in einem abstrakten, reduzierten Raum der Gefühlswelten. .... Ein Wechselspiel zwischen realen und surrealen Welten beginnt, in denen die Figuren niemals emotional sicher sind, gefangen durch Manipulation und Angst."
Um den Bogen zum Ariadne-Vorspiel zu schlagen, wird eine Nebenfigur künstlich aufgewertet. Die Verbindung ist die Geschichte eines Künstlerschicksals - dort der Komponist, hier der Knirps (Musiker): "Der Außenseiter, gefangen zwischen zwei Welten, ist der Knirps. Als engagierter Musiker hat er einen Arbeitsauftrag, jedoch ist er moralisch zerissen und leidet daran, dazu gezwungen zu sein, bei diesem Streich mitspielen zu müssen." Dann soll er es halt lassen und sich einen anderen Job suchen. Die Selbststilisierung des Künstlers aus "Außenseiter" ist inzwischen nur noch peinlich. Das Programmheft ist dazu auch noch triefend pathetisch: "Wir erleben zwei empfindsame, ernste und sensible Künstlerseelen, die sich in ihrer und über ihre Musik ausdrücken. Beide fühlen sich wie Fremdkörper in ihrem System. Sie fühlen sich unverstanden und ringen mit ihm." Uiuiuiuiuiuiui. Die bedauernswerten Künstlerseelen, die so ganz anders sind als andere Menschenseelen und deshalb ein so hartes Schicksal haben? Welch ein Dünkel! "System" ist auch ein uneindeutiger Alibi-Begriff. Der Künstler, der mit dem System ringt ist also der Mensch im Berufsleben. Der Künstler scheint dem Irrtum zu unterliegen, daß die zumutbare Last, sich um sein Leben zu kümmern, für "Künstlerseelen" schwerer ist als für andere Menschen. Man mag angesichts der dramaturgischen Banalität nur den Kopf schütteln, wenn es nicht so unfreiwillig komisch wäre.
Dann gibt es noch die beiden Trickbetrüger Chanfalla und Chirinos. Das sind die Theaterleute, die der naiven Dorfbevölkerung etwas vorgaukeln. Dazu das Programmheft: "So sehen wir in Chanfalla und Chirinos zwei Theaterschaffende, die
Verletzungen und Traumata so oft erlebt haben, daß sie die Situation
für sich umgedreht haben und von Beobachteten zu Beobachtern wurden.
Sarkasmus wird zu Selbstschutz. Sie bedienen sich ihrer Macht und
Kreativität, um ihr kleines Einkommen zu verdienen und decken nebenher
noch den gesellschaftlichen Zerfall auf." Erinnert das nicht an ein berüchtigtes Vorbild: einen österreichischen Kunstmaler, der später Reichskanzler wurde? Diese armen mittelmäßigen Künstlerseelen, die nun mal keinen Erfolg haben und sich für ihre Mittelmäßigkeit an ihrer Mitwelt rächen? Die verletzte Eitelkeit mittelmäßiger Künstler ist also das zweite Thema, das man hier inszenieren könnte, doch über die beiden erfährt man in der kurzen Zeit relativ wenig, sie bleiben Figuren und können nicht Charaktere werden. Für die Inszenierung bleibt obige These quasi folgenlos.
Was ist zu hören?
Henzes erste Oper Das Wundertheater würde übrigens 1949 in Konstanz uraufgeführt und 1964 überarbeitet. Musiksprachlich ist das Singspiel abwechslungsreich und originell, ohne irgendwie aufregend zu sein oder im Ohr zu bleiben. Die Rolle des Wundertheater-Direktors ist Klaus Schneider auf den Leib geschneidert, alle Beteiligten agierten auf Augenhöhe. Kostüme, Bühne und Licht wirkten tadellos, digital wirkte die Aufführung harmonisch. Das Orchester saß erneut auf der Bühne, Musiker und Sänger wurden akustisch perfekt übertragen.
Fazit: Die knapp 35 Minuten dieses spröden Singspiels sind kurzweilig und unterhaltsam inszeniert. Die Kombination mit der Ariadne als Diptychon hätte auch ohne die dramaturgische Klammer des Künstlers als Sensibelchen und Weichei funktioniert. Beim Wundertheater hat diese Konstruktion eher von den spannenden Aspekten des Werkes abgelenkt
Besetzung und Team:
Chanfalla, Wundertheater-Direktor: Klaus Schneider
Chirinos: Christina Niessen
Der Knirps, ein Musiker: Merlin Wagner
Der Gobernadór: Kammersänger Konstantin Gorny
Benito Repollo, Alcalde: Renatus Meszar
Theresa, seine Tochter: Ilkin Alpay
Juan Castrado, Regidor: Tomohiro Takada
Juana Castrada, seine Tochter: Alexandra Kadurina
Pedro Capacho, Schreiber: Nutthaporn Thammathi
Ein Fournier: Robert Besta
Musikalische Leitung: Georg Fritzsch
Regie: Julia Burbach
Bühne: Tilo Steffens
Kostüme: Julia Müer
Licht: Stefan Woinke