Sonntag, 18. März 2018

Oper Frankfurt: Meyerbeer - L'Africaine (Vasco da Gama), 16.03.2018

Grand opéra - wortwörtlich
Fast fünf Stunden Aufführungsdauer (inkl. zweier Pausen) - eine geglückte Grand Opéra in fünf Akten ist immer auch Überwältigung durch schiere Masse und effektgeladene Theatralik: Epische Längen und dramatische Zuspitzungen, Spektakuläres neben Intimen, große Tableaus neben Seelenbildern. Meyerbeers Musik galt einst bei seinen Gegnern als "Schaubudenlärm", seine Opern als "Jahrmarktsfarce", "wie ein Varietéprogramm zusammengesetzt aus Effekt auf Effekt" und "lüstern nach Sensation". Diesen "modernen Gerippe" warf man einst vor, daß es ihnen an Substanz und Innenleben fehlen würde. Regisseur Tobias Kratzer und Kostüm- und Bühnenbildner Rainer Sellmaier bringen nach Les Huguenots in Nürnberg und Le Prophète in Karlsruhe ihre dritte Meyerbeer-Oper auf die Bühne. Sie greifen in Frankfurt die Thesen zu Meyerbeers Opern auf und führen sie einer neuen Synthese zu. Kann das, was man einst den Opern von Meyerbeer vorwarf, heute ein Grund für ihren erneuten Erfolg sein? Ist das, was einst den Erfolg Meyerbeers beim Publikum ausmachte, für heutige Opernbesucher wiederbelebbar? Damals wünschte sich das Publikum offensichtlich historische Ereignisse und große Schicksale, aufwändig ausgestattet mit reicher Dekoration; heutzutage sind alternative Welten in Mode, ob nun in archaisierender Epoche (wie in "Game of Thrones"), dem Superhelden-Kosmos oder -wie in diesem Fall- als Science Fiction. Kratzer wollte die Oper als "intelligenten Blockbuster". In Frankfurt spielt Vasco da Gama im Weltraum, unendliche Weiten. Der Abenteurer und Entdecker Vasco da Gama ist unterwegs, um fremde Sonnensysteme zu erobern. Viele Lichtjahre von der Erde entfernt dringt er in Galaxien vor, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat. Die Afrikanerin, die tatsächlich eine Inderin ist, ist eine Außerirdische, in diesem Fall blaugefärbt wie eine Figur aus James Cameron's Hollywoodfilm "Avatar - Aufbruch nach Pandora".
  
Worum geht es?

Vasco da Gama war der Entdecker des Seewegs um das Kap der Guten Hoffnung nach Indien. Zu Beginn der Oper wartet Inès in Lissabon auf die Rückkehr des verschollen geglaubten Entdeckers, den sie liebt. Ihr Vater Don Diego will sie mit dem mächtigen Don Pedro verheiraten. Da kehrt Vasco zurück. Nach Indien hat er es nicht geschafft, aber er hat zwei Sklaven mitgebracht, die von dort stammen: die indische Prinzessin Sélika (die titelgebende "Afrikanerin") und ihren Begleiter Nelusko. Vasco fordert ein neues Schiff, das ihm verweigert wird. Nach einem Wutanfall gegen die Ratsmitglieder, wird er in den Kerker geworfen und soll als Ketzer sterben. Inès verhindert die Hinrichtung, indem sie der Heirat mit Don Pedro zustimmt. Dieser bricht nun selber nach Indien auf. Vasco folgt ihm und gerät ihn dessen Gefangenschaft. Diesmal rettet Sélika Vascos Leben, indem sie Inès als Geisel nimmt und Don Pedro erpreßt. Die portugiesischen Schiffe werden von indischen Piraten überfallen, fast alle Portugiesen getötet. Sélika beschützt Vasco, indem sie ihn als ihren Gatten ausgibt. Doch die kurze Liebesbeziehung zwischen beiden endet, als die den Angriff überlebende Inès auftaucht. Sélika erkennt, daß sie mit dem Entdecker keine Zukunft hat und er und Inès zusammengehören. Sie verhilft beiden zur Heimkehr und begeht Selbstmord, indem sie sich unter einen giftigen Manzanillabaum setzt.
     
Was ist zu sehen?
Zu sehen ist eine typische Kratzer-Inszenierung mit all ihren Stärken, Schwächen und Ambivalenzen. Kratzer nimmt sich die Handlung zu Beginn anscheinend konzeptionell abstrahiert vor und reduziert sie auf einen szenischen Kern, um den herum er seine Geschichte neu konstruiert. Für die Zuschauer sind das -ganz unabhängig davon, ob das Resultat gefällt oder nicht- oft spannende Erlebnisse, denn Kratzer/Sellmaier haben ein starkes Talent für Theatralik und Assoziationen. Das Naheliegende im Entfernten, das Ungewöhnliche im Naheliegenden - das ist auch diesmal ihr Rezept. Vasco da Gama machte seine Entdeckungen um 1500, also ca. 350 Jahre vor Meyerbeers Oper, Kratzer verlegt die Handlung nun in die ferne Zukunft. Und wieso auch nicht, L'Africaine wurde 1865 uraufgeführt, Jules Verne bereite in seinem im selben Jahr erschienenen Roman "De la terre à la lune" die Reise zum Mond vor. Die Kostüme zeigen Vasco als Astronaut, die Ratsmitglieder sind in heutigen Anzügen mit Krawatte. Die Reise erfolgt auf einem Raumschiff, das an bekannte Vorbilder wie die Enterprise erinnert und filmisch unterstützt wird (Video: Manuel Braun). Ausstatter Rainer Sellmaier erschafft Szenen, die wirken und im Gedächtnis bleiben. Um Sélika und Vasco schwerelos im Raum schweben zu lassen, wurden bspw. Akrobaten engagiert, die verkleidet und scheinbar schwebend im 5. Akt einen Liebestanz im All zeigen. (Auch das ist ein typischer Einfall des Regisseurs. Als er wiederum in Karlsruhe Meyerbeers Propheten in die heutige Zeit verlegte, ließ er Breakdancer das Ballett tanzen). Das Inszenierungsteam versucht, sich eines kollektiven Gedächtnisses zu bedienen. Wer zitiert, muß allerdings in Kauf nehmen, daß das Zitat wirkungslos verpufft oder Unverständnis bewirkt. Als Kratzer in Karlsruhe die Meistersinger inszenierte, ließ er bspw. eine Ratte aus Hans Neuenfels' Bayreuther Lohengrin über die Bühne laufen. Wer es nicht kennt und weiß, wird auch nicht abgeholt.  Auch bei dieser Produktion kann man rätseln, wo manche Ideen ihren Ursprung haben: Avatar, Star Wars, Star Trek oder aus anderer Quelle? Angespielt wird auch auf die Pioneer- und Voyager-Sonden der NASA, die Schallplatten und Bildtafeln als Existenzbeweis intelligenten Lebens ins All brachten. Vor Beginn der Oper werden entsprechende Tonaufzeichnungen eingespielt, ein extraterrestrischer Priester (laut Libretto der Oberpriester des Brahma) wird eine dieser irdischen Tafel als Gottesbeweis vorzeigen und im Verlauf der Oper beweisen, daß er genauso engstirnig und gefolgschaftsfordernd ist wie irdische Prediger (da paßt es, daß ein Sänger beide Figuren übernimmt, den Oberpriester und den Großinquisitor von Lissabon). Als Zuschauer hat man dennoch nicht den Eindruck, daß dieses Konzept der Oper mit Gewalt übergestülpt wird. Und das liegt daran, daß die Inszenierung viele gute Ideen mit dem Sinn für Folgerichtigkeit verbindet und auf der Bühne die Handlung geradlinig verfolgt. Die Konstellation Mensch-Außerirdische erleichtert am Ende die Glaubwürdigkeit der Trennung, nicht die Liebe Vascos zu Inès ist unverbrüchlich, die Beziehung der unterschiedlichen Kulturen ist unmöglich, sie bleiben sich letztendlich fremd. In der Liebesszene zwischen Vasco und Sélika verdeutlicht das der Regisseur, Vasco gibt sich einen blauen Anstrich und kann doch nicht heraus aus seiner Haut, er übertüncht sich nur oberflächlich, mehr als den Anschein kann er sich nicht geben. Es gibt viele weitere Details, wenn bspw. im 3. Akt ein Frauenchor singt und man sich als Zuschauer fragen würde, wie die auf das Schiff kommen, hat Kratzer einen intelligenten Einfall. Die Frauen werden visuell über Bildschirme zugeschaltet, um mit ihren weit entfernten Männern zu sprechen, ihnen Kinderbilder zu zeigen und mit körperlichen Reizen Freude auf die Rückkehr schenken. Kratzer hat stets Sinn für Humor, hier diesmal ohne zotigen Beigeschmack und auch sonst etwas braver als er für gewöhnlich inszeniert. Die Figuren sind bei Kratzer oft menschlicher und damit in gewisser Weise einfacher, flacher oder sogar primitiver als das die Musik ausdrückt, sie sind keine Heroen, ihre Handlungsmotive sind nicht hehr. Kratzer hat keine Angst vor Klischees oder Plakativität und bedient sich ihrer gerne, Personenkonstellation und Figurenentwicklungen können dabei schon alles andere als subtil wirken. Auch das ist in der Frankfurter Inszenierung zurückgenommen. Die Fünfecksgeschichte Don Pedro -Inès - Vasco - Sélika - Nelusco ist konventionell erzählt ohne psychologische Nebenstränge, dafür in pessimistischer Grundhaltung. Vasco da Gama mag noch so schöne Arien und viele hohen Töne singen, er ist letztendlich ein rücksichtsloser Eroberer. Nach Sélikas Tod kommen die irdischen Truppen im Schlußbild zurück, massakrieren die Blaulinge und rammen die terrestrische Fahne in den Boden. Der Mensch ist dem Lebendigen ein Wolf. Man kann dem Außergewöhnlichen des außerirdischen Konzepts skeptisch gegenüberstehen, vielleicht mag man das, was man einst Meyerbeer vorwarf, nun dieser Inszenierung vorwerfen ("Schaubudenlärm", "Jahrmarktsfarce", "wie ein Varietéprogramm zusammengesetzt aus Effekt auf Effekt" und "lüstern nach Sensation"), aber es funktioniert. Was ist Grand Opéra, wenn nicht diese Frankfurter Produktion? Der Wechsel zwischen weiter und schmaler Perspektive, zwischen Melodramatik und Anteilnahme, Spektakel und Bombast, ist geglückt, weil Szenen und Figuren nicht steril bleiben und man sich als Zuschauer stets gefordert fühlt - Vasco da Gama läßt nicht kalt und ist konstruktiv diskutabel.

Was ist zu hören
Meyerbeer starb 1864. 1865 wurde Vasco da Gama als L'Africaine in der der Fassung von François-Joseph Fétis uraufgeführt. Eine Verfälschung, wie es der Musikwissenschaftler Jürgen Schläder nannte, der die Originalfassung rekonstruierte. Der Oper in  Chemnitz gebührt der Verdienst, 2013 Meyerbeers Vasco da Gama erstmals aufgeführt zu haben. Nach Berlin (2016) folgt nun Frankfurt dieser Fassung und kürzt einige Szenen, um zu straffen. Die komplette Partitur wurde vollumfänglich mit allen Details allerdings auch noch nicht gespielt. Meyerbeers Opern können szenisch und musikalisch wie ein Potpourri klingen, alles scheint irgendwie vorhanden, es klingt mitreißend und dramatisch, pompös und grandios, lyrisch und liturgisch und manchmal banal. Dirigent Antonello Manacorda nimmt die geforderte Flexibilität nicht vollumfänglich an, sein Meyerbeer hat von allem etwas, episch und lyrisch, auch effektvoll, doch ohne den Bombast auf die Spitze zu treiben. Das ist oft vorbildlich: hohe Spielkultur, warme Streicher, sehr schöne Holz- und Blechbläser und bspw. vier Harfen. Was gelegentlich fehlt, sind dramatische Steigerungen und der Mut zum harschen Klang, zum groben pastosen Pinselstrich. Manacorda begleitet, aber er trumpft nicht auf. Der Dirigent hat Chor und Orchester im Griff und unterstützt die Sänger - und die sind ein weiteres entscheidendes Argument für diese Produktion, denn die Figuren sind sehr gut besetzt. Als Vasco da Gama beweist Michael Spyres Konditionsstärke, seine Stimme sitzt über alle fünf Akte perfekt. Vascos große Arie im 4. Akt, in der er alle Bedrängnis ablegt (sie heißt nach der musikwissenschaftlichen Rekonstruktion nicht mehr "O paradis", sondern "Oh douce clima") sang er zum Dahinschmelzen, eine begeisterte Entledigung, die sich übertrug. Für Sélika ist Claudia Mahnke eine dankbare Rolle, szenisch ist sie gezwungen, sich klein zu machen und zusammenzukauern, ihr Mezzosopran trumpft auf: lyrisch warm leuchtend, dramatisch und flexibel, ihre große Sterbeszene am Schluß ist ein Glanzpunkt. Als Inès singt Kirsten MacKinnon in ihrer ersten Rolle in Frankfurt (ab der kommenden Saison gehört sie fest zum Ensemble) und wird sich bereits einige Freunde im Publikum gemacht haben. Bereits ihr "Adieux mon doux rivage" im 1.Akt ist betörend, eine voluminöse und kraftvolle Stimme mit schöner Höhe. Andreas Bauer ist ein herrischer, rücksichtsloser Don Pedro. Der Nelusko von Brian Mulligan (kostümiert als blauer Hulk) ist im Zwiespalt zwischen seiner Ergebenheit und Liebe zu seiner Königin. Seine große Arie im 3. Akt gelingt ihm mit großer Stimmkraft martialisch und bedrohlich. In den kleinen Rollen ergänzen nahtlos Thomas Faulkner als Don Diego, Magnús Baldvinsson als Großinquisitor von Lissabon und Oberpriester des Brahma, Bianca Andrew als Anna und Michael McCown als Don Alvar.

Fazit: Musikalisch, sängerisch und inszenatorisch hat man den Eindruck, etwas Besonderes zu erleben, eine Oper der außergewöhnlichen Anforderungen. Grand Opéra - wortwörtlich!

Besetzung und Team:
Vasco da Gama: Michael Spyres
Selika: Claudia Mahnke
Nelusko: Brian Mulligan
Ines: Kirsten MacKinnon
Don Pedro: Andreas Bauer
Don Diego: Thomas Faulkner
Der Großinquisitor von Lissabon: Magnús Baldvinsson
Der Oberpriester des Brahma: Magnús Baldvinsson
Don Alvar: Michael McCown
Anna: Bianca Andrew

Musikalische Leitung: Antonello Manacorda
Chor, Extrachor: Tilman Michael

Regie: Tobias Kratzer
Bühnenbild und Kostüme: Rainer Sellmaier
Licht: Jan Hartmann
Video: Manuel Braun