Sonntag, 18. März 2018

Hair (Musical), 17.03.2018

Der Siegeszug des westlichen Lebensstils
Die 1968er suchten einen Ausweg auf ihrer Sinn- und Lebenskrise und entdeckten ihn u.a. in einer neuen avantgardistischen, aber kurzlebigen Lebensform (den Hippies), die langfristige Folgen in verschiedensten Lebensbereichen zeigte. Rückblickend ist die Ironie unübersehbar: die Hippies kamen an, aber nicht dort, wohin sie wollten. Anspruch und Realität sind wenig kongruent. Das Musical Hair steht am Beginn sowohl des Siegeszugs des westlichen, libertären Lebensstils als auch liberaler Wirtschaftsformen. Die Abnabelung von fremden Erwartungshaltungen und Moralvorstellungen, die Befreiung vom Militärdienst und die alleinige Verantwortung für sich selbst, prägten damals das sich selbst in den Mittelpunkt stellende westliche Individuum, das nicht Untertan eines politischen Staatswohls sein wollte. Seine eigene Individualität auszuleben und gesellschaftlichen Zwängen gegenüber ablehnend zu sein, war der Schlüssel zu neuen kommerziellem Möglichkeiten. Der Erfolg des Protests war dort anhaltend, wo das Politische mit dem Hedonistischen verknüpft war, das Hedonistische siegte durch den Kommerz. Die Bedeutung der Hippies erkannten die marktwirtschaftlichen westlichen Demokratien, nicht die östlichen sozialistischen Diktaturen.
50 Jahre 1968 - das Badische Staatstheater feiert nun mit, doch ohne realistischen, kritischen oder sogar politisch hinterfragenden Rückblick auf das, was 1968 war, sondern in Form einer unterhaltsamen Nostalgie, bei der das zugrundeliegende Drama entschärft und die Albernheit der Hippies betont wird und man sie als quasi Außerirdische aus einem schrägen Universum in einem UFO auf der Bühne landen läßt. Daß das Publikum begeistert war, hatte einen einfachen Grund: musikalisch war die Premiere mitreißend, die Spielfreude aller Beteiligten ansteckend.
         
Historisches (1): Die Befreiung des weißen Manns 
Hair - das war vor 50 Jahren in den USA provokativer Populismus, männlicher weißer Protest gegen das Establishment und dessen Regeln, der Kampf um Selbstbestimmung in unruhigen Zeiten, damals mit existentieller Bedrohung durch den Militäreinsatz in Vietnam. Solange Schwarze überproportional zum Wehrdienst in Vietnam eingezogen wurden und überproportional viele bei Kampfhandlungen starben, kümmerten sich nur wenige um den Krieg in Asien. Als dann die weiße Mittelschicht aus dem College in die Kasernen nachrücken sollte, drehte sich die Stimmung. Lange männliche Haare paßten nicht unter den Stahlhelm. Der Protest gegen den Krieg  änderte die Stimmung und befreite vor allem weiße Männer aus ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen - 1973 wurde in den USA die Wehrpflicht abgeschafft, das militärische Fußvolk rekrutierte sich wieder überwiegend aus den Angehörigen der unteren sozialen Schichten, in den Krieg zogen wieder die Unterprivilegierten. Die Hippies hatten gewonnen und verloren sich im Wahn ihrer Wünsche, sie malten sich eine Welt, die nicht existierte, sie flüchteten sich in Utopien und Kommunen oder pilgerten nach Indien und entdeckten Drogen und Sekten für sich. Hippies haben heute den Ruf als grundsympathische Waschlappen, die allen und allem offen und pazifistisch gegenüber standen. Sie haben ihrer Mitwelt schönes Theater vorgespielt und konnten durch deren Leichtgläubigkeit und mit unerwarteter Mithilfe einen kollektiven Mythos begründen, denn Marketing-Experten entdeckten in ihnen authentischen Lifestyle. Wer die amerikanische TV-Serie Mad Men gesehen hat, erinnert sich vielleicht an die entsprechende Schlußszene der letzten Staffel. Es gab neue Musik und Marihuana, man experimentierte mit LSD und Heroin, man träumte von einer zwanglosen Gesellschaft. Verklärende Erinnerungen, Flower Power, Summer of Love, Woodstock und auch noch ein Bett im Kornfeld - die Wirklichkeit sah anders aus, aber was kümmert die Verklärung schon die ernüchternden Tatsachen. Hippies kamen überwiegend aus der weißen Mittelschicht. Wenn sie sich der Realität anhaltend verweigerten, brachte es sie in Armut oder Obdachlosigkeit. Das Ziel der Bewußtseinserweiterung verwandelte langhaarige Zottelwesen in kriminelle Junkies oder ließ sie in Psychosekten  landen. Der Summer of love brachte Haight Ashbury (dem Stadtteil von San Francisco, in dem die Hippies sich niederließen) ungeahnte Kriminalitätswerte durch Morde, Vergewaltigungen und Raubüberfälle. Der Versuch, ihren Traum zu verlängern, endete erfolglos, die Hippies verschwanden wieder. Doch nicht alle Hippies scheiterten und die libertären Ideale dieser Zeit verstärkten sich durch einen unerwarteten Unterstützer. Die Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen war durch ihre hedonistische Stoßrichtung eine innovative Kraft, die nicht vom östlichen Sozialismus, sondern vom marktwirtschaftlichen Westen aufgegriffen wurde, die Emanzipation erfolgte von staatlichen Regeln, Freiheit wurde mit Deregulierung vermischt, die Befreiung kam durch Marktteilnahme. Das Streben nach Freiheit, die Sehnsucht nach Selbstbestimmung wurden zur liberalen Marktidee: Luxus wurde demokratisiert, die Konsumökonomie zur Befriedung von Bedürfnissen verwandelte alles zur Unterhaltungsindustrie, die Pornographisierung der Gesellschaft begann. Die Geschichtsklitterung der Flowerpower-Jahre wurde durch den Kommerz möglich, Hollywood und Broadway erkannten das Märchenpotential dieser Erzählung. Hippies wurden zum westlichen Lifestyle-Produkt, ihre Ideen waren marktkonform und kulturindustriell vermarktbar. Das Musical Hair steht am Beginn dieser Entwicklung und wird auch in dieser Tradition in Karlsruhe inszeniert.
Die Stimmung hat sich inzwischen gedreht. Konventionen sind wieder gefragt, die damals verachteten bürgerlichen Institutionen haben inzwischen wieder eine deutliche Wertsteigerung erfahren, die "Homo-Ehe" steht stellvertretend für das wiedergewonnene Ansehen bürgerlicher Lebensentwürfe. Eine Form der Utopie überlebte: der Fortschrittsglaube zur besseren und friedlicheren Welt manifestierte sich in Technik-Visionen und inspirierte zu vernetztem Denken, virtuellen Gemeinschaften und Social Media. Die Hippies gehören zu den Vätern des Silicon Valley. Der Kultur- und Medienhistoriker Fred Turner an der Stanford-Universität erzählt in seinem Buch "From Counterculture to Cyberculture" den Weg der kalifornischen Gegenkultur in die technologischen Entwicklungen der Moderne. Auch in der Karlsruher Inszenierung zeigen sich die Hippies davon begeistert.
 
Historisches (2): Summer of Love, linker Faschismus und die Gründung der Grünen
Die sozialistischen Diktaturen Osteuropas unterdrückten in ihren Reihen die Aufbruchsstimmung, im August 1968 marschierten die Armeen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei ein und beendeten gewaltsam den Prager Frühling, der sich um einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ bemühen wollte. Der Osten versuchte anders politisches Kapital aus den Umbrüchen im Westen zu schlagen. Die DDR - der deutsche Staat, der Flüchtlinge rücklings erschoß und sie mit Selbstschußanlagen und Sprengfallen ermordete - finanzierte im Westen Gruppierungen wie die "Friedensbewegung", Zeitschriften, Verlage und Mitarbeiter, die die Verteidigungsbereitschaft des Westens unterhöhlen sollten. US-Präsident Ronald Reagan erkannte später, daß man den Kalten Krieg gewinnen konnte und trug seinen Anteil zur Beendigung bei, indem er die UdSSR in einer Rüstungsspirale finanziell an die Grenzen ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit trieb. Der Sozialismus war am Ende und verfügte nicht mehr über die Ressourcen, den Zusammenbruch 1989 zu verhindern.

In der Bundesrepublik bildete sich die 68er-Bewegung überwiegend an den Universitäten. Die Studentenrevolte hatte eine stark haßerfüllte Komponente, der Göttinger Germanist Albrecht Schöne erinnerte bspw. daran, daß anonyme Flugblätter zur Vergewaltigung der „töchter“ und „weiber“ der Professoren aufriefen, er persönlich bekam Morddrohungen. Bereits 1967 warnte der Frankfurter Philosoph Jürgen Habermas vor linkem Faschismus, der Historiker Götz Aly sah sogar Parallelen zwischen 1933 und 1968, der Philosophen Hermann Lübbe verglich die Aggressivität deutscher 68er-Studenten mit den Angehörigen des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes vor der Machtergreifung. In diesem Klima der Militanz und Gewalt bildete sich die terroristische Rote Armee Fraktion.

Es dauerte einige Jahre bis sich die Nachfolger der 68er in der Bundesrepublik auf einen ideologischen Überbau geeinigt hatten. Sammelpunkt war die Ökologie- und "Friedensbewegung", 1977/78 bildeten sich erste politische Listen im Kommunalbereich. Der Gründungsparteitag der Bundespartei Die Grünen fand am 13.01.1980 in Karlsruhe statt. In Baden-Württenberg schafften sie noch im gleichen Jahr den Einzug in den Landtag, 1983 erfolgte der Einzug in den Bundestag. Wie heute die AfD waren damals die Grünen die Schmuddelkinder der Politik, die Partei sprach sich für Legalisierung von pädophilen Kontakten aus, also für das Recht der Erwachsenen auf Sex mit Kindern unter 14 Jahren. Die Grüne Nähe zur flüchtlingsmordenden DDR und die Ablehnung der Wiedervereinigung verursachten eigene Flüchtlingsfeindlichkeit (mehr hier). Die 68er sind inzwischen längst an der Macht angekommen. SPD und Grüne schickten deutsche Soldaten zum ersten Auslandseinsatz seit 1945 und verabschiedeten das Anti-Armutsprogramm Hartz IV. CDU und FDP entschieden den Ausstieg aus der Atomkraft.
       
Abschweifung: Die Rückkehr des Spießertums aus dem Geiste der Political Correctness

oder
Wer Jehova sagt, wird gesteinigt

Der früher am Karlsruher ZKM lehrende Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich hat die gegenläufige Entwicklung unserer Tage analysiert, bei der wieder Verbote dominieren: "Bei den 68ern ging es um sexuelle und politische Befreiung. Heute greifen ... die Angst vor einem Regelverstoß und Kontrolleifer um sich. .... Vor 50 Jahren, 1968, waren die Universitäten Orte von Tabubrüchen, von Anarchie und Aggression; an ihnen wurden die Spielräume des Erlaubten ausgeweitet, es ging genauso um sexuelle wie um politische Befreiung. Heute hingegen greift dort die Angst vor Regelverstößen um sich; immer mehr wird verboten. „Safe spaces“ werden eingerichtet: Räume, in denen alle sicher davor sind, in ihrer sexuellen, ethnischen oder religiösen Identität provoziert zu werden. Heutzutage ist der positive Geist der 68er (politische und religiöse, persönliche und sexuelle Befreiung) verloren gegangen und hat sich paradoxerweise gewendet: es dominieren wieder Beschränkungen in Form von Sprech- und Denkverboten, Regeln und Regulierungen sowie einem falschen Opfer- und Betroffenendenken, das Schutz vor Freiheit fordert und wie in früheren spießigen Zeit Angst vor Regelverstößen fördert. Die Freiheit der Kunst leidet bereits darunter: mancherorts werden Bilder abgehängt und Gedichte übermalt. Grammatik und biologisches Geschlecht werden verwechselt und Sprache ideologisch verhunzt (eine Frau soll nicht mehr "der Kunde", ein Mann nicht mehr "die Geisel" sein). Man fühlt sich in Monty Pythons "Das Leben des Brian" versetzt: Wer Jehova sagt, wird gesteinigt.
  
Worum geht es?
Die Hippies kehren zurück ins Jahr 2018. Eine Zeitreise mit einem Raumschiff, das zu Beginn auf der Bühne des Großen Hauses landet. Der Regisseur „wollte keinesfalls das Musical in seiner Zeit belassen, dann wäre es .. zu weit weg … Den Aufbruch, die Rebellion von damals kann man natürlich auf einer Bühne darstellen, aber es wäre ein musealer Blick auf längst Vergangenes. Deshalb haben mein Team und ich uns entschlossen, die Hippies, so wie sie uns in den Liedern und Spielszenen begegnen, in unsere Zeit zu katapultieren und auf uns Heutige treffen zu lassen“. Das Ergebnis ist unterhaltsam, aber belanglos. Außer Parolen haben die Hippies nichts mehr zu sagen, sie sind tatsächlich „museal“ und werden dem Publikum wie Exoten vorgeführt. Die menschliche Perspektive bleibt oberflächlich und Episode. Der Schauspielchef forderte vor der Premiere das Publikum auf, die Mobiltelefone und sich selber in den Flugmodus zu schalten. Ein treffender Vergleich - man will in Karlsruhe einfach nur abheben und dem Publikum eine gute Zeit geben.
 
Was ist zu sehen?

Eckermann zitierte Goethe mit dem Satz: Die Zeit aber ist in ewigem Fortschreiten begriffen, und die menschlichen Dinge haben alle fünfzig Jahre eine andere Gestalt, so daß eine Einrichtung, die im Jahre 1800 eine Vollkommenheit war, schon im Jahre 1850 vielleicht ein Gebrechen ist. Was ist also geblieben von 1968? Auf keinen Fall die Haare. Die Perückenabteilung hatte viel zu tun. Die Darsteller sind dem heutigen Zeitgeist folgend überwiegend rasiert: Achselhaare oder echte Bärte hat keiner, Brusthaar bei Männern gibt es selten, Beine etc. sind glatt. Alles sowieso nur Pose, alles ist bunt und übertrieben, Flower Power und psychedelische Kunst, Hare Krishna, Age of Aquarius - Astrologie und Esoterik, Anzüglichkeiten, Nacktheit, Drogen, Öko, Krieg, ........ - ein Sammelsurium der Klischees als amüsanter Hippie-Zirkus. Schauspieler und Tänzer sind bestens einstudiert und voller Elan, kaum jemand kann man hervorheben - doch vor allem auf Meik van Severen, Kim Schnitzer und Paula Skorupa sowie Heisam Abbas sollte man darstellerisch und gesanglich besonders achten - eine runde Leistung von wirklich allen Beteiligten. Bravo!
  
Was ist zu hören?
Es gibt 27 Musiknummern. Im Programmheft erklärt Clemens Rynkowski: Hair stammt aus den "frühen Jahren des Rock. Viele der Lieder weisen Tonleiterausschnitte auf, haben also eine schlichte Melodieführung. Als Kirchenmusiker und Organist komponierte Galt MacDermot viele Songs in Kirchentonarten, aber dennoch ist das Rhythmische sehr stark und im ursprünglichen Sinne rockig. Dazu muß man noch sagen, daß Hair das erste Musical am Broadway war, in dem elektrisch verstärkte Musik zu hören war." Rynkowski hat "10 Musiker zur Verfügung, die können nicht nur alle Stimmen der Partitur abdecken, weil einige von ihnen Multiinstrumentalisten sind, sondern darüber hinaus zusätzliche Teile der Songs spielen, in denen sie im Originalmaterial pausieren"  - Das Ergebnis war eine erstklassig musizierte Premiere, die keine Vergleiche zu scheuen braucht. BRAVO!

Fazit: Das Publikum war aus dem Häuschen. Hair als Nummernrevue im Hippie-Zirkus, großartig musiziert, sehr gut gespielt, getanzt und gesungen und leicht verdaulich.

PS: Die Zuschauerumfrage hat ergeben, daß das Karlsruher Publikum sich kein "politisches" Theater wünscht, sondern vorrangig Kunst, künstlerische Impulse, Unterhaltung und erstklassige Qualität. Diese Produktion von Hair scheint wie eine erste Konsequenz dieser Studie. Etwas mehr Kante darf es aber dennoch sein...

Besetzung und Team:
George Berger: Sven Daniel Bühler
Neil "Woof" Donovan: Heisam Abbas
Hud: Michael Sattler
Claude Hooper Bukowski: Meik van Severen
Jeanie: Kim Schnitzer
Steve: Jannek Petri
Crissy: Marthe Lola Deutschmann
Sheila Franklin: Paula Skorupa
Margaret Mead / Mutter von Claude: Lisa Schlegel
Vater von Claude: André Wagner

Tribe: Aloysia Astari, Johanna Berger, Sarah Laminger, Jessica Lapp, Daniela Tweesmann, Mona Maria Weiblen, Christian Bindert, Denis Edelmann, Jan Großfeld, Carlo Schiavone, Frank Wöhrmann, Ben Tweesmann

Keyboard Direktion / Theremin / Gesang: Clemens Rynkowski
Gesang / Keyboard 2 / Perkussion: David Rynkowski
Kontrabass / E-Bass / Sitar / Gesang: Florian Rynkowski
Drums: Tim Dudek
Perkussion / Schlagwerk / Waldhorn: Jakob Dinkelacker
Gitarren: Vitaliy Zolotov
Reeds: Sven Pudil
Trompete 1 / Flügelhorn / Piccolotrompete: Marc König
Trompete 2: Volker Deglmann
Posaune / Tuba / Euphonium: Jochen Welsch

Regie: Ekat Cordes
Musikalische Leitung: Clemens Rynkowski
Choreografie: Sean Stephens
Bühne: Anike Sedello
Kostüme: Dinah Ehm
Licht: Rico Gerstner