Tschechows Drei Schwestern (mehr dazu auch hier) sind ein Glücksfall. Regisseurin Anna Bergmann hat eine so handlungs- und assoziationsreiche Inszenierung geschaffen, daß man auch beim wiederholten Besuch immer noch etwas Neues entdecken kann und bemerkt, wie geschickt sie bspw. die Textstellen, die sich etwas ziehen oder für heutige Ohren zu hypothetisch bleiben, durch Hintergrundhandlungen aufwertet. Vor allem ermöglicht sie den Schauspielern großartige Szenen und motiviert sie zu einer Spielfreude, die einfach ansteckend ist.
Ach Rußland, was ist nur aus dir geworden? Im vorletzten Jahrhundert entstand eine so bewunderungswürdige und menschliche Literatur, Anton Tschechow schuf so viele so liebenswürdige und allgemeingültige Alltagsgestalten in seinen Erzählungen und Theaterstücken. Eine so große Literatur, die aktuell so wirkungslos blieb....... Die Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch, die 2013 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt, warnte eindringlich in der Wochenzeitung Die Zeit:"Rußlands Krieg gegen den Westen hat begonnen. Niemand möchte es wahrhaben, weder in Rußland noch im Westen, doch es ist bereits ein anderes Land!" und attestiert der russischen Gesellschaft: "Die Lüge ist zum Ritual geworden." Alexijewitsch berichtet bspw., daß 'in russischen Städten offen Freiwillige für den Krieg in der Ukraine geworben werden', daß 'ein kürzlich beschlossenes Gesetz die Ausgabe von Führerscheinen an Schwule verbietet', daß die Ermordung des Oppositionellen Boris Nemzow wenige Tage vor einer Rede erfolgte, in der er Rußlands Schuld am Ukraine-Krieg offenlegen wollte. Angesichts dessen und des neuen Führerkults ("Putin-Bilder und -Büsten werden in Massen produziert") frägt Alexijewitsch : "Wo kam das plötzlich her – dieser primitive Militarismus, diese Rückständigkeit, dieser Obskurantismus?" Wohin trifftet Rußland? Betrachtet man Anna Bergmanns Inszenierung in der richtigen Akt-Reihenfolge, entwickelt sich die Geschichte zurück. Eine gefährliche Richtung, die man dem heutigen Rußland leider anmerkt.
Lauter tolle schauspielerische Leistungen im Karlsruher Tschechow, und selbst wenn mal auf der Bühne eine kleine Ungeschicktheit passiert, überspielen die Akteure das lässig und souverän und drehen das zum Vorteil des Publikums. Niemand kann man herausheben, exemplarisch sei hier doch Joanna Kitzl genannt, die als Mascha so wunderbar überzeugend und einprägsam ist, ob sie nun am Anfang, der das Ende ist, verzweifelt nach dem Ihrigen verlangt oder am Ende, der ein Anfang ist, voller Sehnsucht auf ihr Glück wartet oder mittendrin die Liebe findet und erfährt. Was für eine schöne Rolleninterpretation: Bravo! Kongenial ergänzt wird Kitzl durch Jannek Petri, der als Werschinin einmalig ist (kein anderer kommt dafür aktuell in Karlsruhe in Frage), und durch Frank Wiegard, der hier endlich mal zeigen kann, wie großartig komisch er sein sein kann.
Fazit: Weiterhin gilt: Bravo! an alle Schauspieler. Mich hat nun schon die dritte Vorstellung begeistert.
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.