Kapitalismus? Ein harmloses Vergnügen!
Was für eine Überraschung! Da wird man am Badischen Staatstheater nicht müde zu betonen, wie politisch man doch sei, man schwenkt den moralischen Zeigefinger, fokussiert sich auf Minderheiten und zeigt klar, wen man nicht im Theater sehen will. Die Mär vom "Theater für alle", vom gesellschaftlichen Treffpunkt für alle, hat schon lange ausgedient. Nun bringt dieses Theater "ein Sittenbild, bzw. eine Auseinandersetzung mit den inneren, psychosozialen Aspekten des [..] Kapitalismus", so der Autor Nis-Momme Stockmann über Tod und Wiederauferstehung der Welt meiner Eltern in mir. Es ist ein Stück über die Auswirkungen der Bankenkrise und handelt von Orientierungslosigkeit und Überforderung, Ausnutzung und Verzweiflung - also ambitioniertes, aktuelles politisches Theater über das große Ganze. Doch in Karlsruhe macht man daraus einen unpolitischen und kritikfreien fluffig-ulkigen Abend mit Laienchor und dem Charme einer Klamotte - das ist unterhaltsam, mit teilweise starken lustigen Szenen und doch bleibt das Gefühl, daß Stockmanns Text unter Wert gezeigt wird.
Was für eine Überraschung! Da wird man am Badischen Staatstheater nicht müde zu betonen, wie politisch man doch sei, man schwenkt den moralischen Zeigefinger, fokussiert sich auf Minderheiten und zeigt klar, wen man nicht im Theater sehen will. Die Mär vom "Theater für alle", vom gesellschaftlichen Treffpunkt für alle, hat schon lange ausgedient. Nun bringt dieses Theater "ein Sittenbild, bzw. eine Auseinandersetzung mit den inneren, psychosozialen Aspekten des [..] Kapitalismus", so der Autor Nis-Momme Stockmann über Tod und Wiederauferstehung der Welt meiner Eltern in mir. Es ist ein Stück über die Auswirkungen der Bankenkrise und handelt von Orientierungslosigkeit und Überforderung, Ausnutzung und Verzweiflung - also ambitioniertes, aktuelles politisches Theater über das große Ganze. Doch in Karlsruhe macht man daraus einen unpolitischen und kritikfreien fluffig-ulkigen Abend mit Laienchor und dem Charme einer Klamotte - das ist unterhaltsam, mit teilweise starken lustigen Szenen und doch bleibt das Gefühl, daß Stockmanns Text unter Wert gezeigt wird.
Worum geht es (1)?
Die Geschichte einer Lebenskrise. Hauptfigur: Ein namenloser Ex-Bankangestellter, der alles hinter sich lassen, sein Leben grundlegend (laut Programmheft "auf privater und ideologischer Ebene") ändern und das Wirtschaftssystem zum Umsturz bringen will. Er ist ein Aussteiger, ein psychisch labiler Charakter, der mit den Zusammenhängen überfordert ist und für seine Sinnlosigkeitsgefühle einen Ausweg benötigt. Das Programmheft findet die hysterisch überzogene Formulierung: "Die Banken und die Wirtschaft haben ihn seelisch zerstört" (ohne Geld in der Wirtschaft am Tresen sollen tatsächlich schon zumindest seelische Zerrüttungen beobachtet worden sein. Einseitige Formulierungen sind leider in den letzten Jahren fast schon zum Markenzeichen der aktuellen Intendanz geworden). Auf der Bühne ist von dieser seelischen Zerstörung nichts zu spüren, sein Antrieb und sein Zustand bleiben unklar. Der Mann verlässt seine Frau, verkauft sein Haus und zieht in das 20. Stockwerk eines Frankfurter Wohnblocks, von der aus er seinen Plan umsetzen will. Mit 4,5 Millionen Euro in einem Koffer (eine halbe bekommt noch seine sitzengelassene Frau) will er eine Hyperinflation auslösen - eine wahnhafte Absicht und sinnloses Unterfangen, das keine Chance auf Erfolg hat. Ein lächerlicher Don Quijote im Kampf gegen die Windmühlen des Lebens. Im Wohnblock trifft er in einem "Stationendrama" auf "eigenartige Figuren": "den schrulligen Vermieter Kaschinsky", der ständig sprechende Tauben verjagt, "die systemkonformen Maschinen gleichen" (was immer die Worthülsenkonstrukt bedeuten soll, anscheinend den unmündigen, demokratieuntauglichen Staatsbürger) und die deshalb auch als surrealer, von Laien passabel gespielter Chor durchschnittlich informierter EU-Bürger auftreten und mit Phrasen ablenken. Dazu kommen verschiedene andere Phantasiefiguren, Gegner und Verbündete, die den Mann verwirren, bestärken, bestehlen und schließlich "ohne Geld, ohne Job, am Ende" zurücklassen. Angesichts der Komplexität der Welt gibt es nur noch Resignation oder das Eingeständnis, daß Kapitalismuskritik nur eine Folie ist, ein Ablenkungsversuch von persönlichen Unzulänglichkeiten,
Was ist zu sehen (1)?
Regisseurin Simone Blattner erarbeitet keinen ideologischen, politischen oder psychologischen Konflikt auf der Bühne, es gibt keine Belehrung, keine Moralpredigt, keine Wertung, auch nicht das vom Autor geforderte Sittenbild. Stockmanns Text wird jede Form von Provokation und Zumutung genommen. Leider werden auch die Ambivalenzen nicht in der Tiefe ausgelotet. Falsch handeln wider besserem Wissen - Kapitalismus und Kritik gehören zusammen: sie spornen sich gegenseitig an und vereinnahmen sich. Der Kapitalismus wird dadurch stärker - das ist sein Geheimnis. Die Sinnlosigkeit der Kapitalismuskritik erkennend, entscheidet sich die Regie für eine affirmative, gut gelaunte Show, die sich den Marktforderungen unterwirft: gut konsumierbar, etwas zu seicht, mit geringem Tiefgang, teilweise geschwätzig und ohne roten Faden. Man konzentriert sich auf die Skurrilität der Figuren. Ein großer Spannungsbogen wird nicht geschlagen - es sind lose Szenenfolgen. Die Regisseurin lässt oft die sehr gut geschriebenen, fast schon kurzgeschichtlichen Regieanweisungen sprechen statt spielen und lenkt den Fokus damit noch mehr auf die Details der Nebensache. Das Milieu und die psychologischen Momente, Verletzungen und Antriebe bleiben hingegen unklar.
Bühnenbildner Alain Rappaport hat einen aus Styropor-Quadern gebauten Turm konstruiert, der vom Laienchor ab- und umgebaut wird und in dessen Mitte sich ein überdimensionierter Styropor-Schneemann befindet. Eine sinnlose Bühne für eine sinnlose Kritik ökonomischer Zustände - eine passende surreale Szenerie.
Worum geht es (2)?
Nis-Momme Stockmann erschuf einen so umfangreichen Text, daß die Uraufführung in Hannover fünf Stunden Spieldauer (inkl. Pausen) hatte und dennoch nur ein Drittel des Textes auf die Bühne brachte. Es handelt sich also um einen in seiner Gesamtheit unaufführbaren Text, der durch die Bearbeitung der Theater sehr unterschiedliche Facetten zeigen kann - in Karlsruhe hat man nun noch radikaler gekürzt: eine 2,5-stündige Version (mit Pause), die leider nicht rund wirkt und der es in dieser Produktion an elementaren theatralischen Bestandteilen fehlt: man sieht kein richtiges Seelendrama, kein Drama der Überforderung auch keine bissige Satire oder gekonnte Zuspitzung, sondern Klamauk und Ulk zum Zeitvertreib.
Stockmann sagte: "Das ist doch albern, die äußere Seele muß mit der inneren in Einklang gebracht werden." Es ist Utopia, das Stockmann fordert, das Land der emanzipierten Launen ohne Verpflichtung. Aber er stellt sich dabei nicht in die schriftstellerische Tradition seines Metiers: Stockmann erzählt keine Utopie, sondern bemängelt, daß keiner eine erzählenswerte Utopie geschrieben hat. Er thematisiert die fehlende Alternative. Sein Text ist ein grandioses Scheingefecht, das zwar Kapitalismus sagt, aber pauschal das große Ganze meint. Ein Text über das Fehlen des richtigen Kontexts.
Was ist zu sehen (2)?
Frank Wiegard hatte in Karlsruhe schon starke Szenen: in Jakob der Lügner oder Drei Schwestern hat er die Vorstellungen bereichert. Leider besetzt ihn das Karlsruher Schauspiel immer wieder für die falschen Rollen: ob in Dantons Tod oder Gift - Wiegard ist kein Hauptrollenschauspieler, er kann große (ernste und tiefe) Texte weder differenzieren noch ihnen Binnenspannung verleihen, er kann ein Publikum nicht lange fesseln. Er hat andere Stärken, mimische und komödiantische. Gestern zeigte er seine bisher beste große Rolle und doch wurde er in den Dialogen von seinen Partner in den Schatten gestellt. Für vier schauspielerische Highlights sorgten gestern die beiden Gäste Amélie Belohradsky und Sebastian Reiss sowie André Wagner und Klaus Cofalka-Adami. An alle Akteure: Bravo! Es hat Spaß gemacht!
Fazit: Ein netter und harmloser Abend ohne Nach- oder Nebenwirkungen. Gut gespielt mit einigen guten Einfällen, und doch etwas zu banal, etwas zu belanglos, etwas zu kraftlos, zu mutlos. Es bleibt diskutabel, ob man aus diesem Text nicht mehr hätte machen können und müssen. Überregionale Aufmerksamkeit verdient diese Inszenierung nicht.
PS:
Haltungsschäden: Die Rückkehr des Finanzjudentums
Wenn die Verhältnisse unklar oder krisenhaft werden, wächst die Nachfrage an Vereinfachungen und Deutungsvorschlägen, der Marktwert von Weltanschauungstheorien und Ideologien steigt. Wenn sich Gesellschaften pauschale Feindbilder suchen, sind Anti-Demokraten am Werk. Was in unseligen Zeiten einer früheren Wirtschaftskrise als Finanzjudentum diffamiert wurde, findet heute mancherorts sein propagandistisches Äquivalent pauschal, aber ohne rassische Festlegung: "der Kapitalismus" soll an allem schuld sein. "Der Kapitalist" ist nicht nur an den politischen Rändern (dort gerne als "Blutsauger" oder "Zecke") ein beliebtes Ziel von Anfeindungen, sondern breitet sich auch als unreflektierte Wir-sind-dagegen- und Anti-Haltung in die weniger gebildete Mitte. Aber man muß es klar aussprechen: es gibt wieder eine Sprache des Ressentiments, die an früher erinnert und andere an den Pranger stellen will. Wenn das Karlsruher Programmheft viel zu pauschal über "unsere vom Finanzkapitalismus zersetzte Welt" schwafelt, ist das frühere zersetzerische Finanzjudentum nicht fern und man begeht eine fatale Fehlformulierung.
Team und Besetzung
Mann: Frank Wiegard
Kaschinsky: Klaus Cofalka-Adami
Mann mit Turban / Banker: Sebastian Reiss
Bodo Schäfer / Vater / Banker: André Wagner
Frau: Amélie Belohradsky
Die junge Frau: Florentine Krafft
Kind / Banker: Johannes Schumacher
Banker: Maximilian Grünewald
Tauben / Ein Chor durchschnittlich informierter EU-Bürger: Johannes Schumacher, Maximilian Grünewald, Statisterie
Regie: Simone Blattner
Bühne: Alain Rappaport
Kostüme: Daniela Selig
Musik: Christopher Brandt
Lieber Honigsammler,
AntwortenLöschenich würde Ihnen gerne widersprechen – es geht aber nicht.
Stockmanns Stück „Der Mann, der die Welt aß“ (Studio 2011-12) hat mir damals sehr gefallen. Es war keine jelinekartige Textorgie, sondern ein feines Kammerstück mit durchfeilten Dialogen und schlüssiger Handlung. Die Darsteller und die Inhalte bewegten mich.
Trotz der Regie von Simone Blatter, die schon Teile von „Kabale und Liebe“ erheblich entstellt, nun, sagen wir ruhig verhunzt hat, und des meist schwachen Hauptdarstellers, wagte ich einen Besuch. (Hatte ich doch schon die Premiere der „Drei Schwestern“ ausfallen lassen, nachdem die Regisseurin A. Bergmann sich schon leidlich an La Boheme vergangen hat.)
Zuerst war ich fast positiv überrascht, doch bald zeigten sich die in KA schon Tradition gewordenen Schwächen: Kabarettistisch überzeichneter Klamauk, Musik, Gesangseinlagen, Klettern in der Deko.
Die Finanz- und Kapitalismuskritik verläuft im Sande, der Midlifekrisen-Gebeutelte kreist um sich und verliebt sich neu, um abermals betrogen zu werden. Dazwischen skurrile Episoden mit dem Finanzanimateur, dem Vermieter und dem Chor der Tauben. Ich ertappte mich dabei zu denken: der „graue Fleck“ ist die Lebensrolle für F. Wiegard.
Die Verleihung des Dramatikerpreises ausgerechnet des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft hätte mich vorab schon vorwarnen können. Kritik am Finanzwesen geht zwar ein wenig, bringt letztlich aber nichts.
Die existenziellen Fragen der Hauptfigur verlieren sich mehr und mehr im Spaßtheater, revolutionäre Gewaltfantasien und Terrorpläne erscheinen als bloßer Ulk.
Liegt das nun am gekürzten Text oder an den Regieeinfällen, dass nach der Pause die beginnende Langeweile wächst?
Einerseits müsste man S. Blatter dann für die Kürzung danken, andererseits kann ich schwer abschätzen, ob sie der Autorintention (vgl. Titel) wirklich gerecht wird. (Bei Schillers „Kabale“ gelang ihr dies absolut nicht.)
Generell ist das auch ein entsetzliches Versagen der Spielplankonzeption Jan Linders. In einer Saison bringt er Hesses Roman „Glasperlenspiel“ - eine gekürzte Textdeklamation; Jelineks Euridyke und nun Stockmanns „Tod…“ haben eine ähnliche Konzeption. Dabei sind die Zeiten vorbei, in denen es an guten Dramatikern und Stücken mangelte.
Ob ich noch eine wenig verheißungsvolle weitere Spielzeit aushalte? Gutes Theater erlebe ich in Frankfurt, München, Stuttgart. Karlsruhe ist heruntergewirtschaftet, das Schauspielensemble war vor GI Spuhler viel besser, der GI Thorwald ein geachteter Künstler und Theaterleiter.
Lieber Puck, herzlichen Dank für den Kommentar.
LöschenIch halte viel vom Theaterautor Stockmann. Die über 300 Seiten Text von Tod und Wiederauferstehung d.W.m.E.i.m. würde ich gerne lesen, wenn Sie denn (schon) in Buchform erhältlich wären. Bei der Karlsruher Premiere hatte ich den Eindruck, daß einiges Gutes an Ideen und sprachlicher Qualität darin steckt.
Inzwischen habe ich Interviews mit Stockmann gelesen, Kritiken zu Aufführungen in anderen Städten und ich glaube, daß man den Text in KA entschärft und verharmlost hat. Ob aus Mutlosigkeit oder Ideenlosigkeit, kann ich nicht beurteilen.
Mir ging es ähnlich wie Ihnen: mit fortschreitender Dauer wuchs bei mir das Desinteresse. Alles blieb auf der Klamauk-Ebene, die eigentliche Absicht des Autors (im Sinne von Sittenbild, Kritik und Hinterfragen) blieb schnell auf der Strecke und man betonte das Skurrile und Nebensächliche.
Tendenziell war die ganze Spielzeit zu einheitlich durch Verulkung, Verkürzung und Verfremdung geprägt. Wahrscheinlich bekommen wir im Oktober einen Hamlet mit Gesang und Happy-End oder zumindest ohne echte tragische Dimension ....
Daß ich von Spuhler und Linders nun vier Jahre lang überwiegend enttäuscht und entgeistert wurde, ist kein Geheimnis. Vier Jahre lang hat man es nicht geschafft, eine richtig gute Spielzeit auf die Beine zu stellen. Begeistert war ich nur ganz selten. Inzwischen freue ich mich schon, wenn es etwas über Mittelmaß hinausgeht, was präsentiert wird. Aber alles ist zyklisch: man muß auch mal bergab, bevor man wieder nach oben kommt,
Hallo Honigsammler,
AntwortenLöschennachstehender Link passt zwar hier nicht her; aber ich wollte es Ihnen zur Info zukommen lassen - einmal etwas positives, wenn auch wehmütig:
http://www.der-neue-merker.eu/wels-ooe-tristan-und-isolde-zurueck-zu-wagner-rettung-fuer-bayreuth-welser-wagner-festival-feiert-liebestod
Ob ich unter diesem 'Negativ-'Gestirn nochmals in das BST komme, kann ich nicht sagen.
Ich vermute, beim Prophet wird wohl die bekannteste Nummer der Partitur gestrichen sein: LES PATINEURS.
Ist ja auch 'nur' die Ballettmusik.
:-(
Gruß
Klaus
Vielen Dank für den Hinweis!
LöschenAllerdings muß ich ehrlich zugeben: ich könnte es verkraften, wenn bei Meyerbeers Prophet kein Ballett zu sehen und keine Ballettmusik zu hören sein würde.
Honigsammler ich respektiere Ihre Meinung.
AntwortenLöschenAber der Komponist hat es so nicht gewollt. Sonst hätte er sich die Mühe der Komposition sparen können.
Ich bevorzuge das Original. Und wenn ich dann noch an die "Regieviesematenten"
denke - muß ich mir nicht antun.
Ihnen aber trotzdem ff
Vielen Dank, dann hoffen wir mal, daß wir einen vollständigen Propheten zu hören bekommen. Zur Vorbereitung habe ich mir die CBS Aufnahme von 1976 aus London besorgt. Den 3. Akt habe ich mir gerade angehört und ich muß Ihnen Recht geben: die Ballettmusik gehört dazu, aber 15 Minuten Ballett inmitten eines einstündigen Akts in einer 3,5h langen Oper sind eine Herausforderung - mal schauen, ob man die in KA annimmt.
LöschenSehr geehrte Herren,
AntwortenLöschenich verstehe Sie nicht ganz. Ist das jetzt zuviel Kapitalismuskritik oder zuwenig? Zu viel Zumutung am Theater oder zu wenig? "Stockmanns Text wird jede Form von Provokation und Zumutung genommen." Oder: "Tendenziell war die ganze Spielzeit zu einheitlich durch Verulkung, Verkürzung und Verfremdung geprägt."? Als Traktat über den Kapitalismus taugt Stockmanns Stück doch wohl nicht, oder? Er zeigt eine Figur, die nach Wegen sucht, aus dem System auszusteigen und keine findet. Im Laufe des Stückes probiert er systematisch verschiedene Möglichkeiten aus und wir erleben, wie sie alle nicht funktionieren - daher Stationendrama (siehe Georg Kaisers antikapitalistisches Stationendrama "Von morgens bis mitternachts").
Ihre Diskussion ist doch ein schöner Beleg für die Richtigkeit der Figur und ihrer Darstellung. Das Dilemma lautet: Wer gegen den Kapitalismus ist, ist Kapitalist. Und viele solche kleinen Antikapitalisten bilden einen Taubenschwarm, die sich gegenseitig weg- und tothacken, wenn alte Frauen ihnen die Körner der Banknoten vor die Füße werfen. Kein Wunder also, dass Tauben sprechen können. Wie die Frösche des Aristophanes oder die Hennen Janáceks.
Schon Molière hat darüber gelacht, als er einen "Menschenfeind" zeigte, der daran leidet, dass sein Aussteigertum Teil des Systems ist, aus dem er aussteigen möchte. "Nur Mörder sind konsequent", hat Nikolaus Harnoncourt einmal sehr schön gesagt.
Herzliche Grüße
Ihr Boris Kehrmann
(der diese Inszenierung auch erst bei der Premiere sah)
Guten Tag Herr Kehrmann,
Löschenherzlichen Dank für Ihren Kommentar. Zu Ihrer Frage „zu viel Kapitalismuskritik oder zu wenig?“ haben Sie ja schon eine Antwort geliefert: „Als Traktat über den Kapitalismus taugt Stockmanns Stück doch wohl nicht, oder?“. Ob Stockmanns Stück dazu taugt, kann ich nicht abschließend sagen: es ist leider nicht als Buch erhältlich, sonst würde ich es gerne lesen.
Das Staatstheater sprach selber von „Kapitalismus-Kritik“, der Autor davon "ein Sittenbild, bzw. eine Auseinandersetzung mit den inneren, psychosozialen Aspekten des [..] Kapitalismus" zeigen zu wollen. Das Programmheft beschrieb die Hauptfigur wie folgt: "Die Banken und die Wirtschaft haben ihn seelisch zerstört". Davon habe ich nichts bemerkt! Zu skurril für ein Sittenbild (für mich zumindest), zu ulkig für „seelische Zerstörung“ und als „Kapitalismus-Kritik“ war es doch ziemlich zahm. Sie haben wahrscheinlich Recht, als Traktat über den Kapitalismus taugt Stockmanns Stück wohl nicht, es ist eher eine Tragikomödie über Anti-Kapitalisten, die keinen Ausweg finden. In diesem Zusammenhang vielen Dank für die Erklärung der Tauben im Kontext anderer Beispiele!
Angesichts des Themas hätte ich also gerne etwas mehr Ambivalenz gefunden.
Zur Erläuterung meiner Aussage.
Verulkung (Schiller - Die Räuber, Tschechow - Drei Schwestern, Stockmann),
Verfremdung (Schiller - Die Räuber, Hesses - Glasperlenspiel)
Verkürzung (Schiller - Die Räuber, teilweise auch Stockmann, da ich noch immer glaube, daß der Text mehr bietet)
Das ist eine persönliche Analyse meines Schauspiel-Abos. Das ist keine Wertung (ich habe in Tschechows Drei Schwestern sehr gerne gelacht), sondern die Feststellung einer gewissen Einseitigkeit.
Beste Grüße
H.
Hallo Sr.Honigsammler,
AntwortenLöschenProphet: Die Ballettmusik kann man doch kürzen.
Bayreuth: Da muß eine Rebellion zu Gange sein!!!!
Auf meine Anfrage nach den Besetzungen (außer Tristan) erhielt ich e-mail mit der Aussage, die Geschäftsleitung gäbe im Moment noch keiene weiteren Besetzungen bekannt.
Heute erfahre ich von anderer Seite: Lance Ryan ist raus wegen keiner Vertragseinigung. Dafür singt Stefan Vinke.
Viele andere Partien seien auch neu besetzt u.a.:
Loge, Mime, Fafner, Hagen, Floßhilde, Freia......
Gruß Klaus
Danke für den Hinweis! Das hatte ich noch gar nicht mitbekommen ....
LöschenZum Thema Ballett: Es ist ja ein konstitutives Merkmal der "grand opera". Wieler/Morabito ("La Juive" / Stuttgart) und Konwitschny ("Don Carlo" / Wien und Hamburg) haben gezeigt, wie man es machen kann.
AntwortenLöschenZu Bayreuth: man fragt sich schon, wer da eigentlich (noch) das Sagen hat. Der kapriziöse Dirigent, der Hau-drauf-aber-feste-Regisseur oder die mittlerweile wortkarge Doppelintendanz. Ich kann mir schwer vorstellen, dass das KBB dort ein zweites Mal Sänger ohne Zustimmung Castorfs austauscht. Und wie man hört, soll Petrenko mit Lance Ryan durchaus zufrieden gewesen sein.
(F.Kaspar)
Guten Tag Herr Kaspar,
LöschenMeyerebeers Opern haben wahrscheinlich in den letzten Jahrzehnten einiges an Kürzungen und Verstümmelungen über sich ergehen lassen müssen. Es gibt wohl kaum ungekürzte Gesamtaufnahmen und überhaupt nur wenige Einspielungen (Ein schöner Überblick findet sich hier: http://operalounge.de/history/meyerbeer-on-record)
Übrigens, weiter oben finden Sie einen Kommentar von Boris Kehrmann, der den Karlsruher Propheten meines Wissens dramaturgisch begleitet. Vielleicht ist er so nett und gibt uns Auskunft, welche Striche zu erwarten sein werden.
Und Bayreuth - tja, das ist eine Affäre für sich und wird medial wohl bald noch durchleuchtet.
Lance Ryan äußerst sich nur ironisch darüber: nach vier Jahren Sommer in Oberfranken freut er sich auf Urlaub in Italien (http://www.lanceryan.com/de/blog.html)