Der Karlsruher Boris Godunow des Regisseurs David Hermann bleibt -wenn man seine Trojaner als Referenz heranzieht- eine leichte Enttäuschung. Ein wenig zu reduziert beim Bühnengeschehen und unklar in der Aussage: weder Intrigen noch die wankelmütige öffentliche Meinung, weder Unruhe oder Aufruhr noch klare Personenbeziehungen. Vor allem der Chor hat zu wenig zu tun und ist zu statisch.
Zumindest die Stimmungen sind fast immer vorhanden. Eine der stärksten Szenen spielt im Kloster: Avtandil Kaspeli als Pimen hat hier seinen großen Auftritt, für den er auch gestern wieder viele Bravos bekam. Die schwächste Szene ist im Wirtshaus: sie wirkt wie ein Fremdkörper, der Humor funktioniert nicht - über Napoleon lacht keiner, geschweige denn über die skurril überzeichneten anderen Figuren. Das gestrige Publikum vergaß sogar deshalb überwiegend, zur Pause zu applaudieren. Eine sehr kühle Atmosphäre und auch sonst eine eher müde Stimmung. An der musikalischen Darbietung lag das allerdings nicht.
Für die gestrige Aufführung hatte man zwei Gäste engagiert: ursprünglich sollte Alexei Tanovitski als Boris Godunow singen. Doch er erkrankte und auch der Ersatz kämpfte mit einer Erkältung und ließ vor Beginn eine kurze Ansage geben. Man sah dem Bassisten Orlin Anastassov nach der Vorstellung seine Unzufriedenheit mit seiner Disposition an, aber selbst leicht angeschlagen lieferte er eine beeindruckende Vorstellung: mächtig von Stimme und Statur und intensiv in der Darstellung. Er gab Boris Godunow eine Haltung und steigerte sich immer wieder zu beeindruckenden Momenten. Eine gute Wahl der Karlsruher Oper. Und auch der russische Tenor Viktor Antipenko als Grigori ließ aufhorchen: eine schöne Stimme mit Kraft und Eleganz! Schade, daß die gezeigte Urfassung der Oper für ihn nur eine kleine Rolle beinhaltet.
Dirigent Christoph Gedschold, Orchester, Solisten und Chor trugen ihren Anteil zu der sehr guten Aufführung bei. Musikalisch hat man seine Meriten, dennoch scheint die Karlsruher Oper im vierten Jahr der Intendanz Spuhler im Stimmungstief zu sein. Der neue Operndirektor muß nun vertriebenes Stammpublikum zurückgewinnen, indem er konsequent auf Qualität setzt. Es gilt wieder ein größeres Repertoire aufzubauen, mehr bei der Programmauswahl auf das Publikum zu achten und die richtigen Stimmen zu engagieren bzw. einzusetzen.
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.