Wer dem Alltag des Karlsruher Schauspiels entkommen möchte, der kann Zuflucht im Frankfurter Schauspiel finden, wo Intendant Oliver Reese selber Regie führte bei der Uraufführung dieser im Dezember 2012 auf der kleinen Bühne der Kammerspiele uraufgeführten Komödie Wir lieben und wissen nichts von Autor Moritz Rinke.
Worum geht es (1)?
Um zwei Paare um die 35-40. Sebastian ist ein erfolgloser Kulturhistoriker und schreibt seine Texte von zu Hause. So kann er immer seine Dauer-Freundin Hannah begleiten, die buddhistische Kurse für Bankmanager gibt. Da Hannah für zwei Monate in Zürich arbeiten wird, haben sie ihr Appartement in einer Wohnungstauschbörse angeboten. Das Stück setzt kurz vor dem Besuch des tauschwilligen anderen Paares ein. Roman (immer unterwegs als Computerspezialist) und seine mit ihm reisende Frau Magdalena (Tiertherapeutin) kontrastieren und ergänzen das besuchte Paar. In beiden Beziehungen kriselt es und wirft Unausgesprochenes seine unheilvolle Schatten. Der Wohnungstausch wird fast zum Partnertausch. Das Publikum kann sich knapp zwei Stunden über Wortgefechte, Abrechnungen und Entlarvungen amüsieren. Doch es gibt kein Happy-End, sondern ein allegorisches Schlußbild: es ist zwischenmenschlich kalt geworden und man benötigt ein dickes Fell.
Worum geht es (2)?
Es geht um Liebe und Karriere, Individualismus und Partnerschaft, Selbstverwirklichung und Verzicht. Moritz Rinkes Vorbild ist Tschechow, der ebenfalls komische Stücke über traurige Leute geschrieben hat. Dabei urteilt der Autor nicht und nimmt nicht Partei, sondern er analysiert und zeigt Zeitgeist und erfasst Heutiges in Gedanken, Sätzen und Szenen und das auf prägnante und witzige Weise. Wo die Vorstellung von geglücktem Leben darin besteht, Punkte auf einer Liste abzuarbeiten und abzuhaken (Reisen, Erlebnisse und Abenteuer, Eigentum als Status), da wächst die Sehnsucht und die Ahnung, daß immer mehr Leben in einem steckt als man lebt. Neidvoll misst man sich an anderen. Daraus resultiert eine ständige Unzufriedenheit und gesteigerte Aktivität, die dem Leben das Grundgefühl der Rastlosigkeit verleiht - gefangen im Hamsterrad der glücken müssenden Selbstverwirklichung. Wie fragil ist Liebe, wenn beide Partner nicht mehr die gleichen Pläne haben? Ist wahre Liebe die Kunst des Verzichts? Hat die Soziologin Eva Illouz recht, wenn sie sagt, daß 'das wichtigste Merkmal der modernen Intimität darin besteht, daß sie jederzeit beendet werden kann, sollte sie nicht mehr mit Gefühl, Geschmack und Wollen in Einklang stehen'? Das sind die Themen in Wir lieben und wissen nichts.
Paarkomödien scheinen in Mode zu sein
Der Gott des Gemetzels, Der Vorname oder Wir lieben und wissen nichts - immer ist es das Zusammentreffen von Paaren in einer privaten Umgebung. Zeitdiagnose scheint heute einfacher als Komödie vermittelbar, bei einer Umsetzung als Drama hat man als Zuschauer meistens das ungute Gefühl einer schlichten Moralisierung. Einfacher (und erfolgreicher) scheint es, wenn man sich das Publikum in einer Komödie zum Verbündeten macht und das Drama unter der Oberfläche versteckt .Und hier ist dann auch der Unterschied und Mehrwert zur sogenannten Boulevardkomödie gegeben, wenn man während der Vorstellung manchmal nicht weiß, ob man lachen soll oder ob es einem eigentlich im Halse stecken bleiben sollte bzw. man über sich selber lacht. In dieser Hinsicht hat Wir lieben und wissen nichts deutlich mehr Substanz als eine Boulevardkomödie.
Was ist zu sehen?
Bücherregale, ein paar Bücher, zwei Stühle und Umzugskarton - es benötigt nicht viel Aufwand, um dieses Stück zu inszenieren. In Frankfurt hat man vier der besten Schauspieler auf die Bühne gebracht, die mit perfektem Timing und untrüglichem Gespür für die richtigen Zwischentöne begeistern. Jeder Satz sitzt!
Constanze Becker (die nicht nur als als Medea Zuschauer und Kritiker immer wieder gleichermaßen zu Ovationen hinreißt) ist als Magdalena naiv-unbedarft und unterwürfig, ihr Mann Roman wird von Oliver Kraushaar als geerdeter und besserwisserisches Techniker mit geringer Empathie gezeichnet. Hannah ist bei Claude De Demo sexuell vernachlässigt und mit verzweifeltem Kinderwunsch ausgestattet, den ihr eloquent dauerredender und alles zerredender Freund Sebastian (Marc Oliver Schulze) nicht erfüllen kann und will. Wenn der Zeitgeist eine Kraft ist, dann sind Magdalena und Sebastian den abweisenden Zentrifugalkräften ausgesetzt, während die Job-Nomaden Hannah und Roman zentripetal herangezogen werden. Rinke schafft es, mit einem kleinen Konflikt zu Beginn -das für Roman zwingend erforderliche Passwort für das W-LAN, das Technikmuffel Sebastian nicht kennt- das Beziehungs-Kartenhaus zum Einsturz zu bringen.
Fazit: Vier Schauspieler auf höchstem Spielniveau liefern sich Scharmützel und offene Kämpfe in einer guten Beziehungskomödie. Rinkes Stück wird wahrscheinlich in den nächsten Jahren bundesweit auf den deutschen Bühnen zu sehen sein.
Besetzung und Team
Hannah: Claude De Demo
Sebastian, ihr Freund: Marc Oliver Schulze
Roman: Oliver Kraushaar
Magdalena, seine Frau: Constanze Becker
Regie: Oliver Reese
Ausstattung: Anna Sörensen
Video: Jonas Alsleben
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.
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