Ein nordischer Abend mit Musik aus Russland, Finnland und dem Baltikum. Und gerade das Baltikum und Finnland haben in den letzten Jahrzehnten ungewöhnlich viele interessante Komponisten (die mehr Beachtung im Konzertbetrieb finden sollten) und Dirigenten hervorgebracht. Der Este Arvo Pärt (*1935) ist wahrscheinlich der bekannteste und erfolgreichste unter ihnen, aber auch Lepo Sumera (*1950 †2000) und Peteris Vasks (*1946), Eduard Tubin (*1905 †1982) und Eino Tamberg (*1930 †2010), die Finnen Einojuhani Rautavaara (*1928) und Aulis Sallinen (*1935) sowie namhafte und auf zahlreichen CDs erhältliche Dirigenten wie Maris Jansons, Neeme Järvi, Paavo Järvi, Osmo Vänskä, Jukka-Pekka Saraste und Esa-Pekka Salonen sprechen für den baltisch-finnischen Musikerruhm. Arvo Pärts einleitende zwei Kurzstücke Arbos für je vier Trompeten und Posaunen, Pauke und Schlagzeug sowie Cantus in Memoriam Benjamin Britten für Streicher und Glocken sind kurzweilige, effektvolle und interessante Kompositionen, die auch gestern unmittelbar auf das Publikum wirkten und zu Beginn starken Applaus bekamen.
Es folgte Sergej Prokofievs 1931 komponiertes 4. Klavierkonzert für die linke Hand, das -wie einige andere Werke namhafter Komponisten- für den einarmigen, im 1. Weltkrieg versehrten Pianisten Paul Wittgenstein komponiert wurde. Dem allerdings gefiel dieses Werk nicht und so erlebte es erst nach Prokofievs Tod seine Uraufführung im Jahr 1956.
Gestern hatte man als Pianisten einen großen Namen gewonnen: Leon Fleisher (*1928), dessen Einspielungen bspw. der Konzerte von Brahms und Beethoven vor 50 Jahren noch heute als mustergültige Interpretationen zu erhalten sind. Fleisher erkrankte kurz darauf und konnte seine rechte Hand über Jahrzehnte nicht mehr benutzen. Er eignete sich das Repertoire der Konzerte für die linke Hand an und gab Unterricht. Aufgrund neuer Behandlungsmöglichkeiten in den späten 1990ern kann er inzwischen wieder beidhändig spielen, doch wählte er gestern im Konzert mit seinem Schüler Justin Brown das selten zu hörende Konzert von Prokofiev, das im Schatten der großen Klavierkonzerte Nr. 2 und 3 steht. Mit Fleisher spielte also gestern ein 85jähriger Pianist - und auch an ihm sind die Spuren der Zeit nicht vorbeigegangen und hinterließen hörbare Spuren. Das virtuose Prokfiev-Konzert meisterte er für sein Alter bewunderungswürdig, doch im Ausdruck ging etwas Entscheidendes verloren; es mangelte seinem etwas zu nuancenarmen Spiel an Deutlichkeit und Dynamik. Nach einem in fast schon typisch Prokofiev'scher Manier humorvoll und beredt vorwärtsdrängendem ersten Satz, den Fleisher zu wenig eloquent spielte, folgte der mit Abstand längste Satz des Konzerts. In diesem Andante und dem folgenden Moderato zeigte vor allem das Orchester atmosphärische Dichte, Fleishers Klavierklang blieb etwas zu eintönig und zurückhaltend . Mit einem sehr kurzen Vivace endet das Konzert lebhaft wie es begann. Obwohl es hörbar keine große Interpretation war, belohnte das warmherzige Publikum den Pianisten verdientermaßen mit besonders viel Applaus.
Bemerkenswert wurde es nach der Pause! Ist Sibelius' Musik spröde? Vielleicht, doch Justin Brown dirigierte ein Plädoyer für den finnischen Komponisten, und zwar nicht mit den beliebten heroischen Symphonien Nr. 2 und 5, sondern mit den beiden selten gespielten letzten Symphonien. Die viersätzige 6. Symphonie hat einen eher undramatischen und lyrischen Charakter: eine reine Idylle, wie das schon nach der Premiere 1923 festgestellt wurde. Die kurze einsätzige 7. Symphonie erlebte 1924 ihre Premiere und ergänzt die 6. mit konzentrierter Ökonomie und Tiefsinn. Jenseits aller Klassifizierung erklangen die beiden Werke bei Brown spannend, abwechslungs- und farbenreich und eröffneten wahrscheinlich nicht nur für mich neue Perspektiven auf diese selten zu hörenden Werke.
Fazit: Ein geglücktes und schönes Konzert, in dem Orchester und Dirigent großes Format zeigten und das Publikum mit Pärt und Sibelius eine unerwartete Entdeckung machen konnte.
PS: Justin Brown bewies sich gestern als sehr Sibelius-affiner Dirigent. Hoffentlich leitet er zukünftig in Karlsruhe Aufführungen der 2. und 5. Symphonie.
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.
@Beckmesser
AntwortenLöschenVielen Dank für den Hinweis, den ich berücksichtigt habe.