Sonntag, 19. Mai 2013

Weinberg - Die Passagierin, 18.05.2013

Der Kontrast war deutlich: draußen endlich mal wieder ein sonniger und warmer Frühlingstag und dann geht man an einem schönen Samstagabend in Mieczysław Weinbergs Die Passagierin - wahrlich keine leichte Kost, sondern eine Oper mit ernstem und bedrückendem Thema. Doch der Abend wurde in mehrfacher Hinsicht zu einem Triumph. Die Passagierin ist eine hochwertige, wertvolle und spannende Opernerfahrung und eine wirklich lohnenswerte Repertoire-Erweiterung, die man nicht verpassen sollte!
 
Zweifache Vorgeschichte
Die Bregenzer Festspiele gingen 2010 ein Risiko ein und gewannen. Auf der Seebühne wurde Verdis Aida gespielt, drinnen im Festspielhaus gab es das Opernereignis des damaligen Sommers. Die Passagierin handelt von Auschwitz und basiert auf dem Roman einer KZ-Überlebenden: die polnische Autorin Zofia Posmysz (*1923) ist keine Jüdin, sondern überzeugte Katholikin, die beim Verteilen von oppositionellen Flugblättern verhaftet und 3 Jahre in Gefangenschaft kam - erst in Auschwitz-Birkenau, dann in Ravensbrück, wo sie von der US-Armee befreit wurde. Posmyz wurde Redakteurin und Autorin, ihr Roman Pasażerka wurde vom Librettisten Alexander Medwedjew in eine Oper in 2 Akten (8 Bilder und ein Epilog) umgearbeitet. Obwohl die Oper 1968/69 fertig gestellt wurde, erlebte sie erst 2006 in Moskau ihre konzertante Premiere und wurde 2010 in Bregenz zum ersten Mal inszeniert. In Karlsruhe erfolgte gestern die umjubelte deutsche Erstaufführung.

Zofia Posmysz zu Besuch in Karlsruhe
Die fast 90jährige Zeitzeugin besuchte gestern die Karlsruher Premiere und stellte sich bereits im Vorfeld für Fragen von Karlsruher Schülern zur Verfügung. Als sie beim Schlußapplaus auf die Bühne kam, gab es stehende Ovationen und bewegende Momente.

Weinberg - der große Unbekannte
Mieczysław Weinberg (*1919 †1996) war ein polnischer Jude, der 1939 in die UdSSR flüchtete, als einziger seiner Familie den zweiten Weltkrieg überlebte, aber von Stalin in Bedrängnis gebracht und sogar inhaftiert wurde - seine Musik wurde lange nicht toleriert. Schostakowitsch war Weinbergs Freund und Förderer, dennoch wurde auch nach Stalins Tod Weinbergs Musik kaum bekannt. Es gibt einiges zu entdecken: über 20 Symphonien, 17 Streichquartette, 7 Opern u.v.a.m. - schade und ein wenig unverständlich, daß man nichts von ihm dieses Jahr in den Symphoniekonzerten brachte, um auf die Oper einzustimmen. Es gilt zu entscheiden, ob Weinberg das fehlende Kettenglied der Sowjetmusik zwischen Alfred Schnittke und Dimitri Schostakowitsch bzw. Sergej Prokofiew ist oder als Schostakowitsch Epigone weiterhin ein Schattendasein führen wird. Weinbergs Musik für Die Passagierin ist tonale Sowjet-Moderne, die für das große Publikum bestens geeignet ist und das Thema der Oper nicht plakativ ausnutzt, sondern zurückhaltend und diskret andeutend und kommentierend ist. Der Jubel nach der Bregenzer Uraufführung und gestern bei der deutschen Erstaufführung ist gerechtfertigt.

Worum geht es?
Die Handlung beginnt in den frühen 1960er Jahren auf einem Ozeandampfer. Der deutsche Diplomat Walter soll in Südamerika einen Posten antreten und wird begleitet von seiner Frau Lisa, einer früheren KZ-Aufseherin in Auschwitz, die ihr Geheimnis bisher bewahrte. Lisa entdeckt auf dem Schiff eine Passagierin, die sie so stark an eine vermutet verstorbene Insassin des KZs namens Marta erinnert, daß sie sich ihrem Mann offenbart und ihre Vergangenheit gesteht. Die Erinnerung bricht angstvoll über sie herein. In Rückblenden erzählt sie ihre und Martas Geschichte. Die Szenerie der Oper springt zwischen Schiff und KZ. Bis zum Ende bleibt es unklar, ob die Passagierin Marta ist - es entsteht ein effektiver  Spannungsbogen.

Auschwitz auf der Bühne?
Bereits letztes Jahr wurde die Oper Walllenberg nach sehr wenigen Vorstellungen und geringer Besucherresonanz abgesetzt, obwohl es eine sehr spannende Produktion war. Es bleibt abzuwarten, ob Die Passagierin erfolgreicher sein wird. Wollen die Opernbesucher überwiegend keine moderne Opern hören oder hängt ihnen das Thema Nationalsozialismus zum Halse raus? Schon vor 15 Jahren hat Martin Walser anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels eine sehr kontrovers aufgenommene Rede über die deutsche Gedächtniskultur gehalten, bei der er sich beschwerte, daß die Verbrechen des Dritten Reichs als „Moralkeule“ nachwirken. Der Inhalt dieser Rede spaltet auch heute noch die Republik und man könnte meinen, daß es sich auch in der Besucherzahl wiederspiegelt. Sogar der amerikanische Autor, Schauspieler und Filmemacher Woody Allen mokierte sich bereits vor 30 Jahren in seinem Film Hannah und ihre Schwestern über Betroffenheitsdiskussionen zum Holocaust und schrieb folgende Zeilen in sein Drehbuch: "Der Grund, warum sie die Frage "Wie konnte das nur passieren?" nie beantworten konnten, liegt darin, daß es die falsche Frage ist. Angesichts der menschlichen Natur, ist die Frage "Warum passiert es nicht öfters?". Natürlich tut es das auch, nur in subtileren Formen".
Doch auch wer sich dem obigen Beispiel anschliesst und mit dem Thema dieser Oper innerlich bereits abgeschlossen hat, dem kann man nur aufrichtig und ehrlich empfehlen, sich diese Inszenierung auf jeden Fall dennoch anzuschauen, denn Die Passagierin ist vor allem eine wahrhaft berührende Oper über Menschlichkeit und Herzensbildung,

Was ist zu sehen?
Regisseur Holger Müller-Brandes und Bühnen- und Kostümbildner Philip Fürhofer machen alles richtig: sie finden eine Bühnenlösung, die den schnellen Wechsel zwischen Schiff und KZ ermöglicht und die auf Hakenkreuze und echte Uniformen verzichtet. Nur im zweiten Bild wird vom Regisseur kurz der brutale Sadismus der Wärter thematisiert,  überwiegend sind aber die Opfer im Mittelpunkt. Es geht also hier nicht primär darum, Brutalität zu zeigen, sondern die  seelische Not, Verlassenheit und innere Verzweiflung zu thematisieren. Die Passagierin könnte man auch als spezielle Form des Requiems sehen, die an das zahllose, namenlose Leid erinnern soll, von dem niemand mehr spricht und das niemand wirklich erahnen kann. Regisseur Holger Müller-Brandes lässt den Chor immer wieder wie in einer Totenmesse mit Textbüchern auftreten. Doch die Oper ist nicht nur ein Requiem, sondern auch ein Protest gegen die Barbarei. Martas Verlobter Tadeusz, ein Geiger, der mit ihr ins KZ kam, soll für den Lagerkommandaten dessen Lieblingswalzer spielen. Doch stattdessen spielt er die Chaconne (aus der Partita Nr.2 d-Moll, BWV 1004) von Johann Sebastian Bach. Die vor der Unkultur aufgeführte Hochkultur entlarvt die Barbaren - Tadeusz zahlt dafür mit seinem Leben. In diesem achten Bild nimmt sich die Regie vielleicht sogar etwas zu stark zurück und lässt das Bild statisch verklingen. Eine hochgradig aufwühlende, fesselnde und geglückte Inszenierung.

Was ist zu hören?
Eine Höchstleistung, auf die man beim Badischen Staatstheater zu recht stolz sein darf. Ob nun der Chor, das unter Christoph Gedscholds Dirigat großartig aufspielende Orchester oder die erschütternd intensiven und herausragenden Sänger: eine homogene Leistung aller Beteiligten. BRAVO!
Sängerisch besonders beeindruckend: das sechste Bild mit einer großen Arie für Barbara Dobrzanska und einem tief ergreifend vorgetragenen Volkslied von Agnieszka Tomaszewska, die als Gast einen sehr starken Eindruck hinterließ. Die starke Wirkung verdankt die gestrige Premiere vor allem auch der hervorragenden Besetzug in allen Rollen, auch den kleineren. Man müsste eigentlich alle Sänger nennen und hervorheben. Neben Dobrzanska und Tomaszewska gibt es im dritten Bild Katharine Tier und Rebecca Raffell in einem erinnerungswürdigen Duett, Christina Niessen singt und spielt als Lisa mit eindringlicher Bühnenpräsenz, Matthias Wohlbrecht scheint die Idealbesetzung für Walter zu sein und der australische Bariton Andrew Finden beweist, daß gute Opernsänger scheinbar mühelos zwischen deutsch und polnisch wechseln können. An alle Sänger: BRAVO!
Die Figuren singen in verschiedenen Sprachen: Polnisch, Russisch, Jiddisch, Französisch und Deutsch. Im Gegensatz zur Bregenzer Uraufführung singt der Chor in Deutsch.

Fazit: Ein großer Wurf und eine Sternstunde für das Badische Staatstheater. Glückwunsch an alle Beteiligten und an Joscha Schaback und Bernd Feuchtner dafür, diese deutsche Erstaufführung in Karlsruhe zu zeigen.
Wie schon letztes Jahr bei Walllenberg präsentiert man am Badischen Staatstheater die spannendsten Inszenierungen bei den unbekannten modernen Opern. Hoffentlich wird Die Passagierin erfolgreicher als der schnell abgesetzte Wallenberg.

PS(1): In Mannheim ist aktuell Weinbergs Oper Der Idiot zu hören. Hier findet sich eine Besprechung der FAZ von Eleonore Büning zur Uraufführung dieser Literaturoper nach Dostojewskij.

PS(2): Unter den Zuschauern waren u.a. Birgit Keil, Vladimir Klos, Natalia Melnik, Ina Schliengensiepen, Hans-Jörg Weinschenk, Stefan Viering und der frühere Intendant Könemann.

Premieren-Besetzung und Team
Marta: Kammersängerin Barbara Dobrzanska
Lisa: Christina Niessen
Walter: Matthias Wohlbrecht
Tadeusz: Andrew Finden
Katja: Agnieszka Tomaszewska
Krystina: Katharine Tier
Vlasta: Christina Bock
Hannah: Sarah Alexandra Hudarew
Yvette: Larissa Wäspy
Alte: Tiny Peters
Bronka: Rebecca Raffell
Erster SS-Mann: Florian Kontschak
Zweiter SS-Mann: Luiz Molz
Dritter SS-Mann: Steven Ebel
Älterer Passagier: Yang Zu
Oberaufseherin: Birgit Bücker
Kapo: Cornelia Gutsche
Steward: Alessandro Gocht

Musikalische Leitung: Christoph Gedschold
Regie: Holger Müller-Brandes
Bühne und Kostüme: Philip Fürhofer

4 Kommentare:

  1. "Die Passagierin": die Produktion kann sich sehen und hören lassen.
    Beim Abo-Publikum wird es kein Hype werden. Nach der Arbeit so ein schweres Werk ...??
    Und Grimes ist auch nicht meine Baustelle.
    Freuen wir uns auf UN BALLO IN MASCHERA.

    Es ist Maskenballzeit: neue Saison wird mit Maskenball eröffnet in:
    Karlsruhe , Pforzheim und Heidelberg (Herkunft unserer Heidelberg-Gang :-) )

    Beste Grüssle Klaus

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Auf Peter Grimes bin ich sehr neugierig. Das ist ja so etwas wie die "engllische Nationaloper" und mit den vielen Muttersprachlern, die daran beteiligt sein werden, erwarte ich eine authentische Premiere.
      Der Karlsruher Maskenball ist in jedem Fall gerechtfertigt: die letzte Inszenierung liegt über 30 Jahre zurück! Da wird es höchste Zeit, eine so schöne Verdi-Oper endlich mal wieder zu spielen. Der letzte Trovatore und Forza del Destino sind auch inzwischen 20 Jahre her.

      Löschen
    2. Gefunden im "Der Neue Merker"

      http://www.der-neue-merker.eu/karlsruhe-die-passagierin-von-mieczyslaw-weinberg-premiere

      Dachte, es interessiert Sie vielleicht.

      Gruß

      Löschen