Leider vorab eine Warnung: Die Möwe ist eine von jenen überflüssigen Inszenierungen, auf die man als Zuschauer rückblickend lieber verzichtet hätte. Theater zum Abgewöhnen. Als regelmäßiger Schauspiel-Besucher (und auch als Tschechow-Leser) blutet einem bei dieser Produktion das Herz. Es gibt so viele schwache und misslungene Momente, Szenen, die bis an die Grenze erträglicher Langeweile zerdehnt sind, sinnschwache Einfälle und altmodische Humor-Versuche, daß man bei den vielen Unzulänglichkeiten kaum weiß, wo man rekapitulierend beginnen soll.
Worum geht es?
Adornos Satz "Es gibt kein richtiges Leben im falschen" könnte auf die Figuren in Tschechows Möwe gemünzt sein. Es geht um unglücklich Liebende und hoffnungslos Hoffende. Es passiert wenig, aber es gibt einige Handlungsstränge. Hier vier davon:
- Medwenko liebt Mascha, Mascha liebt Kostja, Kostja liebt Nina, Nina liebt Trigorin und Trigorin liebt niemanden, hat aber mit Irina Arkadina (Kostjas Mutter) eine Geliebte.
- Kostja schreibt Theaterstücke und will Autor werden, leidet aber unter seiner egozentrischen Mutter (einer alternden Schauspielerin), die ihn für einen Versager hält. Er kämpft um Anerkennung, fühlt sich aber unverstanden. Er liebt die falsche Frau, ist am falschen Ort, hat die falsche Mutter und kein Geld.
- Kostja liebt Nina, doch die lässt sich von Trigorin schwängern, der sie sitzen lässt. Auch im vierten Akt, der zwei Jahre nach den ersten drei spielt, kann sie in Kostja nur einen Freund sehen. Kostja, inzwischen zwar ein anerkannter Autor, kann die wiederholt abgewiesene Liebe nicht verkraften und begeht Selbstmord.
- Polina, die Frau des Gutsverwalters Schamrajew, liebt den Arzt Dorn,
hatte auch eine heimliche Affäre mit ihm und eine Tochter (Mascha), die
der senile Gutsverwalter Schamrajew unwissentlich als sein Kind betrachtet. Dorn liebt
aber Irina Arkadina.
Wie immer bei Tschechow ist die Gesellschaft, die sich an an warmen
Sommerabenden trifft, eine Krisengesellschaft: sie sitzen in der Falle. Die Figuren suchen nach Auswegen und Sinn und scheitern an ihren
verfehlten Wünschen. Die Hauptpersonen sind und bleiben unglücklich: sie
wissen nichts davon oder ahnen es nur, daß geglücktes Leben immer auch ein Dennoch und Trotzdem enthält.
Was ist zu beachten?
Im Programmheft wird Tschechow treffend als Chronist der Überforderung bezeichnet. Tschechows Werke waren stilbildend: sie zeigen moderne
Menschen,
die gegen ihre Unsicherheit und gegen ungewisse Verhältnisse anreden
und eine Sehnsucht in sich tragen: nach Sicherheit und Gewissheit, nach sinnstiftenden Tatsachen und einem Lebensmittelpunkt. Im Theater benötigen sie
Inszenierungen, die die doppelten Böden und und Zwischentöne des Werks
zutage treten lassen und Schauspieler, bei denen jeder Tonfall, jede
Nuance des Textes passen und sitzen muß. Tschechows Möwe -wie alle seine Werke- beruht auch auf einer gewissen Stimmung aus Melancholie und Vergeblichkeit, aber auch aus Lebenszugewandheit und Freundlichkeit: man muß sie spüren können, um die Stücke zu erfassen. Nichts davon ist in Karlsruhe zu merken, ganz im Gegenteil: Tschechows Text wird verödet und nie eine Balance erreicht. Die neue Inszenierung zeigt einseitig hysterisch Verzweifelte, denen jede Form von Subtilität ausgetrieben wurde; eine Ansammlung von experimentellen Kunstfiguren ohne Identifizierungspotential, die gelegentlich erahnen lassen, wie viel mehr an Interpretationspotential vorhanden wäre.
Für die Akteure auf der Bühne ergeben sich Chancen und
Risiken: Jede Tschechow'sche Figur ist ein Typ, aus der man etwas
machen kann. Die Schauspieler müssen von Anfang an Stimmungen
transportieren: die
Dialoge und Monologe sind ein intimes Bangen, Verzweifeln oder Hoffen.
Wenn die psychologische Feinzeichnung nicht gelingt, erreicht man bei Tschechow schnell den Zustand
der Oberflächenversiegelung: zum Publikum dringt dann nichts mehr durch. Genau das passierte gestern - doch lag es in der Verantwortung des Regisseurs, daß das Potential der Schauspieler nicht ausgereizt wurde und der Text nicht zum Leben erweckt wurde. Jeder muß zu wenig aus seiner Rolle machen und darf vorrangig schnell verzweifeln. Es gab keinen schauspielerisch starken Moment, sondern nur grob gezeichnete Interpretationen ohne doppelten Boden. Die Distanz zum Bühnengeschehen wird dadurch verstärkt.
Eine Komödie?
Tschechow, der chronisch krank war und im Alter von 44 Jahren im südbadischen Kurort Badenweiler an Tuberkulose starb, lebte gezwungenermaßen ständig im Dennoch-Trotzdem Modus und musste seinem prekären Gesundheitszustand seine großen Werke abringen. Er nannte Die Möwe eine
Komödie. Der Hauptdarsteller begeht am Ende Selbstmord, das Stück endet im
Unglück - warum also eine Komödie? Alles Einseitige und Unbedingte ist
durchweg und ausnahmslos lachhaft und lächerlich! Tschechows Figuren
sind eindimensional und dadurch komisch. Man spricht und spielt falsch, man
hofft und liebt falsch. Tschechow zeigt mißlungenes,
vergeudetes und vergebliches Leben. Man wünscht
sich wie das Metaphern-Tier Möwe frei und ungebunden zu sein, doch sind
die Figuren durch sich selbst gebunden und gefesselt und können aus
ihren
selbst gezimmerten Käfigen nicht heraus. Wenn Fichtes Satz, daß das vernünftige Wesen nicht zum Lastträger
bestimmt ist zutrifft, dann zeigt Tschechow unvernünftige Wesen, über die man lachen darf. Der grausame Humor liegt in der Sinnlosigkeit ihres Handelns, Sterbens und im Weiterlebenmüssens. Die Möwe ist also laut Tschechow kein Drama, auch wenn es genug Ansätze dafür gibt, und jede Inszenierung macht es sich zu einfach, wenn sie nur um das deprimierende Unglück der Figuren kreisen würde und die Aspekte der Typenkomödie negiert. Doch die gestrigen hilflosen Versuche durch Typenklamauk lustig zu sein, enttäuschten stark. Auf der Bühne gab es eine wenig subtile und sehr grobe Komik und altmodische Slapstick-Einlagen, wie man sie vor über 30 Jahren im deutschen Fernsehen sah und die so gar nicht zum Rest der Geschichte passen wollte. In Großbritannien gilt Deutscher Humor als Oxymoron, also als etwas, das einen inneren Widerspruch beinhaltet. Seit letzter Spielzeit scheint das Karlsruher Schauspiel öfters angetreten, diesen Widerspruch aufzuzeigen und auch der gestrige Abend war dazu angetan, Dramaturgie und Regie zur Humor-Ausbildung nach England zu verfrachten.
Was wird gezeigt?
Der junge Regisseur Jan-Christoph Gockel
(*1982) sieht die Möwe als ein Psycho-Horror-Drama einer kaputten
Mutter-Sohn Beziehung mit Figuren aus dem psychologischen
Kuriostätenkabinett. Er nimmt die Rolle des unglücklichen Sohnes also bitterernst und treibt sie ins psychologische Extrem. Alle Figuren sind bei ihm zu einseitig, so daß die Urlaubsgesellschaft auf der Bühne unheimliche Züge bekommt. Grundsätzlich ist das nach dem oben gesagten durchaus ein legitimer Ansatz, der dann aber daran scheitert, daß die Möwe zu stark gegen den Strich gebürstet wird und man keinen Zugang mehr zur Personen-Komödie fand und zum oberflächlichen Situationsklamauk auswich.
Als Regisseur oder Dramaturg hat man es heute offensichtlich schwer. Man steht
ständig unter der Doppelanforderung kreativ zu sein, etwas Neues und
Originelles auf die Bühne zu bringen, aber gleichzeitig den Inhalt und
den Geist eines Stückes und die Erwartungen eines Publikums zu
erfüllen. Auch in Karlsruhe suchte man wohl nach einer Idee,
Tschechows Möwe auf ungewöhnliche Weise zu inszenieren und hatte den Einfall, die Rolle des
Kostja von zwei Schauspielern spielen zu lassen. Wieso? Man hatte
wohl beim Lesen den Verdachtsmoment gefunden, daß zwei Herzen in seiner
Brust schlagen, die des um Anerkennung kämpfenden Autors und die des
unglücklich Verliebten und diese Doppelanforderung an einen Schauspieler
zu stellen, die eigentlich den Reiz ausmacht, ist nun auf zwei Personen
verteilt. Das funktioniert grundsätzlich gut - das Konzept der Doppelbesetzung stört
nicht, bringt aber auch nichts Neues und nutzt sich schnell ab. Man kann nur hoffen, daß das nicht
der Mode-Kunstgriff der Zukunft ist.
Arkadinas Bruder -der Gutsbesitzer Sorin- ist in dieser Inszenierung
gestrichen und wird durch einen namenlosen alten Gutsbesitzer ersetzt.
Eine wichtige Bezugsperson geht also verloren, einen Mehrwert ist bei dieser neuen Konstellation leider ebenfalls nicht zu finden.
Der
Schriftsteller Trigorin ist charmant, erfolgreich, will eigentlich seine
Ruhe und nur angeln. Laut Tschechow ist er noch keine vierzig, wird
aber in Karlsruhe von einem Schauspieler dargestellt, der auf die
sechzig zugeht. Damit ergibt sich für die Zuneigung Ninas zu Trigorin
eine seltsame Konstellation: ihre Anhänglichkeit an einen Mann, der ihr
Großvater sein könnte, irritiert. Man fragt sich unweigerlich, was Nina
an ihm findet und wieso der Regisseur diese Besetzung wünschte. Ob die
Demütigung für Kostja größer ist, wenn Nina statt eines erfolgreichen Mannes einen
Greis liebt, ist nicht erkennbar. Auch Arkadinas Liebe zu Trigorin verliert dabei ihre Glaubwürdigkeit.
Tschechows Text ist zudem umgestellt, teilweise neu montiert und wird immer wieder durch nicht-Tschechowschen Text ergänzt: es ergibt sich ein inhomogenes Ganzes, dem die Tschechowsche Atmosphäre abhanden kommt.
Fazit: Eine große Enttäuschung und in keiner Hinsicht empfehlenswert. Statt vergeudetem Leben auf der Bühne wird die Lebenszeit des Publikums vergeudet. Eine langweilige Inszenierung mit aufdringlichen Momenten, die das Potential der Tschechowschen Figuren nicht ausreizt und deren unorigineller Retro-Klamauk langvergangener früherer Jahrzehnte wie ein Fremdkörper wirkt.
PS(1): Die letzte Inszenierung der Möwe hinterließ einen besseren Eindruck (1996 in der Regie von Istvan Bödy mit Friedhelm Becker als Schamrajew und Michael Rademacher als Dr. Dorn). Einige erinnern sich vielleicht noch an die meines Erachtens schönste Tschechow-Inszenierung der letzten zwei Jahrzehnte: Platonow (2006 in der großartigen Regie von Albert Lang) hatte unvergessliche Momente. Aber auch Drei Schwestern (Spielzeit 2000, Regie: Peter Hatházy und zuvor 1989, Regie: Istvan Bödy) hatte starke Szenen. Im Vergleich zu diesen beiden fiel der Kirschgarten (2010) deutlich ab, der trotz sehr guter Schauspieler inszenatorisch nicht funktionierte. Die neue Möwe ist in dieser Reihe die schwächste Inszenierung.
PS(2): Die Möwe wird auch als Silvester-Vorstellung das Jahr beenden. Na dann guten Rutsch, 2013 kann damit nur besser werden. Vielleicht kann man ja beim Badischen Staatstheater noch umdisponieren und die Studio-Produktion Der Vorname ins Kleine Haus verfrachten. Diese Möwe wird kein Publikumserfolg, sondern wird eher Publikum abschrecken.
TIPP: Wer in der ersten Reihe sitzt, sollte Handtücher mitnehmen oder wasserfeste Bekleidung anziehen. Es kann sehr naß werden.
PS(3): Das Bühnenbild ist übrigens einfallsreich, aber in den obigen Betrachtungen nicht berücksichtigt.
BESETZUNG und TEAM:
Irina Nikolajewna Arkadina: Ute Baggeröhr
Konstantin Gawrilowitsch Trepljew (Kostja): Thomas Halle / Matthias Lamp
Nina Michajlowana Saretschnaja: Sophia Löffler
Ilja Afanasjewitsch Schamrajew (Gutsverwalter): Klaus Cofalka-Adami
Mascha, seine Tochter: Cornelia Gröschel
Polina Andrejewna, seine Frau: Lisa Schlegel
Boris Alexejewitsch Trigorin: Ronald Funke
Jewgenij Sergejewitsch Dorn (Arzt): André Wagner
Semjon Semjonowitsch Medwedenko: Michel Brandt
Ein alter Mann: Kurt Meyer
REGIE Jan-Christoph Gockel
BÜHNE Julia Kurzweg
KOSTÜME Sophie Du Vinage
MUSIK Matthias Grübel
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.
Ja, ich teile Ihre Einschätzung des Premierenabends weitgehend. Mit Wehmut muss man daran denken, dass es einmal Regisseure gab, die richtige Seelenzergliederer waren und die Befindlichkeiten einsamer, verlorener Charaktere ohne Mätzchen auf euine Bühne zaubern konnten.
AntwortenLöschenIch habe lange überlegt, warum die Inszenierung für mich so uninteressant war: es wurden keine Zwischentöne inszeniert. Die Doppeldeutigkeiten des Textes gehen verloren. Dem regisseur fehlte das psychologische Feingefühl dafür. Lachen kann man nur aufgrund von Situationskomik, der sich aber nicht aus dem Text ergibt. Die Koffer-Szene war dann wirklich platter Klamauk und wirkte verzweifelt.
AntwortenLöschenVielen Dank für Ihre Kommentare. "Seelenzergliederung" und "Doppeldeutigkeiten" sind sehr gute Stichwörter für das, was dieser Tschechow-Inszenierung fehlt.
AntwortenLöschen@der Schneider
AntwortenLöschenVielen Dank, aber ich glaube hier liegt ein Mißverständnis vor: Der Adorno Satz bezieht sich auf die Figuren in Tschechows Möwe und soll auf diese anschaulich einstimmen, er bezieht sich nicht auf die Inszenierung oder andere Aspekte.
Ich stimme Ihnen zu: die Karlsruher Möwe zeigt, wie sehr sich die Menschen auf die Nerven gehen und wie unfähig sie sind, sich gegenseitig überhaupt noch zu beachten.
Ich bin auch ganz auf ihrer Seite bzgl. alter Kamellen, Dummdumm-Medien und Verblödungsstrategien.
@anonym
AntwortenLöschenIch sehe es entspannter als Sie: es ist NUR Theater und die Vorfreude auf die nächste Premiere lasse ich mir nicht nehmen. Es wird immer Produktionen geben, die einem besser oder schlechter gefallen und was wäre Theater ohne Auseinandersetzung und Diskussion?
@BuZ
AntwortenLöschenBitte beachten Sie: diese Texte sind keine Kritiken, sondern Stimmungsbilder, die unmittelbar nach dem Stück entstehen. Um eine Kritik zu schreiben, müsste ich mich zu den Einführungsveranstaltungen begeben und mich vorbereiten – mir geht es hier aber nur um den eigenen emotionalen Moment. Ich schreibe mir primär die Freude oder den Frust von der Seele. Wenn jemand daraus einen Erkenntnisgewinn zieht, freut mich das. Aber diese Text bedienen nur eine kleine Zielgruppe von Freunden, Bekannten und Familienangehörige. Wenn sich andere Leser dann animiert fühlen, sich selber ein Bild zu machen und sich Eintrittskarten kaufen, freut mich das umso mehr.
@anonym
AntwortenLöschenIch gebe Ihnen Recht: ich bin auch für neue Sichtweisen und gegen altbackene und starre Konstellationen. Wir differieren nur im Unterhaltungswert und Anspruch. Aber das ist ist ja nur individuelle Vorliebe und erfüllt die Redewendung: Über Geschmack lässt sich nicht streiten.
BITTE HABEN SIE DAFÜR VERSTÄNDNIS DAS ICH KEINE KOMMENTARE VERÖFFENTLICHE DIE GEGEN PERSONEN POLEMISIEREN ODER DEN HARMLOSEN BESTAND EINER UMSTRITTENEN THEATERPREMIERE ZUM ANLASS FÜR ABRECHNUNGEN ODER SCHULDZUWEISUNGEN NEHMEN.
AntwortenLöschenZwei weitere interessante positive Kommentare möchte ich noch in längeren Auszügen beifügen.
AntwortenLöschen@anonym: Für gewöhnlich ignoriere ich Bemerkungen, in denen ich aufgrund meines Alters als zu debil, zu unempathisch oder intellektuell zu kurz gekommen bezeichnet werde genau so konsequent wie die, in denen über die Ablösung der Schauspielleitung und Dramaturgie spekuliert wird.
Ich habe also nur die Stellen des Kommentars hier eingefügt, in denen es um das Theaterstück geht.
"... Hier wurde ein radikaler mutiger Neuzugang gesucht und gefunden. Das Schauspiel ging unter die Haut, die Musik tat ihr Übriges hinzu. Anstatt albackener und schon so oft gesehener Konstellationen und klassischer starrer Inszenierung, wurde dem Publikum ebenso viel abgefordert, wie manchen Schauspielern. Wenn man sich darauf einlassen wollte. Wer aber mit dem Wunsch der Unterhaltung in den Abend ging, der hatte nicht genug Empathie, die es hierfür brauchte. Die Schizophrenie des Kostja: genial in den zwei Figuren und intensiver, als in so mancher anderer Inszenierung der Möwe. Hinzu kommt das kluge Reflexionsmoment der Kunst/des Schreibens/des Theaters an sich - auch dies ein weiterer Boden, den es zu beachten gilt, ... Die Verzweiflung des Sinnsuchers und Künstlers (und dann eben auch des Schauspielers), genau diesen Dingen ausgeliefert zu sein ..... - spürbar und eindringlich bis ins Mark. Ebenso die innere Zerrissenheit, die als Geist immerzu dabei ist. Man könnte noch viel mehr hierzu schreiben. Mutig, zerrissen und unter die Haut gehend war die Inszenierung von Jan Christoph Gockel und Team, meiner Meinung nach. Aber: Man muss es annehmen wollen und fühlen wollen. Nur Schauen und warten, dass sich etwas einstellt dabei funktioniert nicht. Die innere Steigerung des Stückes, der Inszenierung, der Musik zieht hinein...es braucht Atem und Mut, sich darauf einzulassen, aber dann schmerzt es und genau das soll es auch."
Und dann will ich noch einen Kommentar von "Der Schneider" zur Möwe in einem längeren Ausschnitt zitieren:
"Es ist eine hervorragende Idee und ein ganz großer regielicher Wurf, den Kostja von zwei Darstellern spielen zu lassen. Und anders als der Herr Honigsammler meint, unterteilt sich dann die Figur nicht nur in den unglücklich Liebenden und den erfolgslosen Autor, sondern beide Teile sind widersprüchlich für sich selbst und miteinander und leben dennoch in einem großen Ganzen, was sich dann Mensch nennt. Und hier kämfpt das Brave mit dem nicht so Bravem, das Böse mit dem ganz Bösen und das Gute mit dem Besseren und, und, und.
Und genau so werden die feinen Verästelungen der Seele aufgezeigt, soweit, dass man daran zweifeln muss, ob ein Selbstmord überhaupt stattgefunden hat bzw. zeitgemäß ist, denn hat nicht einmal mehr der eine Teil der Seele auf den anderen eingedroschen. Und das war´s dann - ein Ende ist nicht absehbar. Hört sich gespalten an - ohne Frage, aber genau diese Gespaltenheit der Seele zum Ausdruck zu bringen - das gelingt der neuen Karlsruher Inszenierung absolut brilliant. In einer Zeit, wo die Liebe zur schönsten "Nebensache" der Welt erklärt wird, muss man eben auch mal mit sogenanntem Klamauk reagieren - slapstick oder einfach Wasserplantscherei. Wunderbar kann man nur sagen, denn mehr ist in der Moderne eben nicht drin. Wir gehen uns eben alle ziemlich auf die Nerven - da wird getobt, geschrien und herumgehüpft und Beziehungen verschwinden oft so schnell wie sie gekommen sind. Das wirkt dann nicht selten unfreiwillig komisch und genau das setzt das Ensemble um Jan-Christoph Gockel hervorragend um. Da fragt man sich am Ende - wie soll man denn wohl einen Begründer der Moderne moderner inszenieren und das im Herbst 2012. Empfehlung - hingehen und anschauen. Man kann viel lernen und trotz der Ernsthaftigkeit des Lebens sich köstlich amüsieren."
Die Möwe ist also ein wunderbares Beispiel, um ins Theater zu gehen und sich selbst ein Urteil zu bilden ...
Ich möchte mich erst mal für diesen Blog bedanken, den ich seit einige Zeit regelmäßig lese und den ich sehr informativ, unterhaltend und förderlich halte.
AntwortenLöschenIch fand die Möwe nicht toll, aber auch nicht so schlecht wie Sie. Mir ist aufgefallen, dass Sie in ihrer umfangreiche Besprechung gar nicht auf die Schauspieler eingehen. Ich hatte eine interessante Erfahrung bei der premiere – ich fand besonders die jungen Schauspieler sehr gut. Andere bekannte Schauspieler waren gut, hatten aber auch wenig Chancen ihr Können zu zeigen. Viel zu wenig zeigten Funke und Baggeröhr, die wirklich viel zu einseitig waren. Ich bin gespannt wie andere Zuschauer die Möwe beurteilen und denke, dass es weder ein Hit noch ein Misserfolg wird, sondern Durchschnitt
Vielen Dank für Ihren Kommentar!
LöschenJa, das stimmt: ich bin mit den jungen Schauspielern sehr glücklich: Cornelia Gröschel, Sophia Löffler, Matthias Lamp und Thomas Halle sind ein Gewinn für das Theater!
Daß André Wagner und Lisa Schlegel mit ihren Rollen nicht überfordert wurden und viel mehr zu bieten haben, ist bei den Karlsruher Theaterfreunden auch bekannt.
Und auch da stimme ich Ihnen zu: gerade für die Rollen der Mutter (Ute Baggeröhr) und Trigorins (Roland Funke) hätte ich viel mehr erwartet.
Diese entstaubte und moderne Möwe ist ein Glücksfall für das Schauspiel im Bad. Staatstheater. Mit einer Bühne, die die Möglichkeiten der schwierigen Spielstätte zu ihrem Vorteil nutzt, lebendiger Tontechnik unter Einbeziehung nachwirkender Bühnenmusik von Matthias Grübel und Kostümen, die die Protagonisten klar charakterisieren. Die aktuelle Sprache der neuen Übersetzung (ca. vor drei Jahre alt, für eine berliner Inszenierung) und die dramaturgischen Einfälle taten ein Übriges, Ich empfand das der russichen Schwermut und von dem 100 jahre alten Plüsch entfernten und in eine regional nicht einzuordnende Gegenwart zugänglich. Die slapstickartigen Proll Elemente und komischen Mätzchen, das Reduzieren der Nebenhandlungen entzerrte dea Blick auf die wesentliche Tragik, die in der Sinnsuche junger Menschen liegt - was ja ein sehr aktuelles Thema ist - An dem sehr gut durch den Dramaturgen Tobias Schuster begleitenden 3. Aufführungsabend wurden in der Einführung und im Publikumsgespräch wissenswerte Hintergrundinforamtionen geboten. Das anwesende Mit-Publikum teile meine Ansicht über den Glücksfall der Regieverpflichtung von Jan-Christoph Gockel. Ich würde mich freuen, bald wieder etwas von ihm in Karlsruhe zu sehen, auch wenn die lokale Theaterkritik nach wie vor nichts mit den aktuellen Inszenierungen anfangen kann (oder WILL ).
LöschenIn keinem meiner bisherigen Worte bin ich bis jetzt auf die darstellerischen Leistungen meines Lieblings-Ensembles eingegangen. Diese sind durchweg zu loben. Das sollten aber andere übernehmen, da ich vor Begeisterung nicht kritikfähig bin.
Ich empfehle diese Theaterstück gerade dem jungen Publikum nahezulegen, das bisher einen Bogen um die Kulturtempel macht. Zeigt es doch die grossartigen emotionalen Möglichkeiten der Bühne und kann als "Einstiegsdroge" wirken.
@Martin
LöschenIch kann Kommentare in keiner Hinsicht verändern, verschieben oder bearbeiten. Ihr Kommentar ist also oben als "Anonym 1. November 2012 23:58" als Antwort auf "Theatralikus 23. Oktober 2012 08:53" zu finden.
Ich kann Ihnen mehrfach Recht geben, z.B. bei dieser Ausage: "Ich empfand das der russichen Schwermut und von dem 100 jahre alten Plüsch entfernten und in eine regional nicht einzuordnende Gegenwart zugänglich."
Stimmt, historische Inszenierungen lehne ich ebenfalls ab und Plüsch ist mir ein Grauen. Aber das wurde meines Wissens auch von niemand kritisiert.
"Ich empfehle diese Theaterstück gerade dem jungen Publikum nahezulegen "
Noch besser hätte ich es gefunden, wenn man diese Möwe nur im Jugendtheater gespielt hätte. Sie hat viel unreife Momente und wenn man schon für Jugendliche inszeniert, sollte man sie nicht einem erwachsenen Abo-Publikum zeigen, das halt Vergleichsmöglichkeiten hat mit der Qualität anderer Inszenierungen.
Dann noch einige Anmerkungen zu Ihren Aussagen
- "...schwierigen Spielstätte..." Das höre ich unter dieser Schauspielleitung öfters und zum ersten Mal. Ich habe in über 20 Jahren als Zuschauer noch nie den Eindruck gehabt, daß das Kleine Haus problematisch ist und das lasse ich als "Ausrede" auch nicht gelten. Zum Glück scheint es von Stadt und Land bereitwillig viel Geld für ein neues Schauspiel- und Probenhaus zu geben. Nur Probebühnen hätten meines Erachtens ausgereicht.
Gar nicht übereinstimmen kann ich mit dieser Aussage:
"die wesentliche Tragik, die in der Sinnsuche junger Menschen liegt"
Die Möwe hat viel mehr zu bieten als einen jämmerlich-quengelnden Kostja, der über seine Pubertät noch nicht hinweggekommen ist.
Sie loben die Übersetzung. Ich habe sie mir teilweise durchgelesen und mir einer anderen verglichen. Auf den ersten 40 Seiten konnte ich keine relevanten Modernismen finden. Teilweise war sie sogar holpriger als die Übersetzung bei dtv, die m.W. ebenfalls relativ neu ist.
Auf Kolonos war für mich bisher die langweiligste Theatererfahrung meines Lebens. Dafür haben Sie ja damals deutliche Worte gefunden. Ist die Möwe vergleichbar?
AntwortenLöschenSchwere Frage! Damals war ich gelangweilt, bei der Möwe mehr enttäuscht. Tschechow gehört zu meinen Lieblingsautoren, ich kenne die Möwe und ich habe Ansprüche daran und Vorstellungen davon, die für mich hier in keiner Weise erfüllt wurden. Meine eigene Erwartungshaltung, die in der Regel der meiner Zielgruppe entspricht (Familie, Freunde und Bekannte) muß nicht mit Ihrer übereinstimmen. Besorgen Sie sich also eine Karte, sagen Sie mir wie Sie es fanden und entscheiden Sie dann, ob mein Stimmungsbild auch wiederholt mit Ihrem übereinstimmt.
LöschenFür mich wars Zeitverschwendung und ich war froh, als ich gehen konnte. Als Student hält sich der finanzielle Verlust im Rahmen.
LöschenGuten Tag! Ich bin durch die Homepage des Staatstheaters zu ihnen gelangt und merke, dass Sie gerne Tschechow lesen und sehr enthusiastisch über ihn schreiben. Können Sie eine Übersetzung aus einem bestimmten Verlag enpfehlen?
AntwortenLöschenIch habe mir nach Vergleichen mit anderen Versionen die Gesamtausgabe der Erzählungen und Dramen bei dtv zugelegt, die zum 150. Geburtstag Tschechows 2010 erschien und moderne Übersetzungen beinhaltet. Damit war ich bisher sehr zufrieden.
LöschenDanke:-)
AntwortenLöschenHallo Honigsammler.
AntwortenLöschenIch war gestern in der Möwe und auch ziemlich gelangweilt. Für diese Inszeneierung ist Publikums-Ignoranz ein Segen - wer gut inszenierten Tschechow nicht kennt, wird kaum bemerken was er alles an Zwischentönen verpasst.
Ich will Ihnen auch für den Blog ein großes Kompliment mache. ich finde es toll, dass sich jemand so intensiv um das Theater Gedanken und Mühe macht und immer wieder schöne Besprechungen abliefert (super was Sie bei Verrücktes Blut analysiren) und versucht das Theater im Gespräch zu halten.
Wie ich sehe, waren Sie gestern parallel in der Oper. Entschuldigen Sie die ignorante Frage: Sind Sie als Vorzeige-Besucher bekannt bzw. in welcher beziehung stehen Sie zum Staatstheater? Kennt man Sie oder kann man mit Ihnen auch mal bei einer Vorstellung diskutieren? So wie Sie schreiben haben Sie mehr zu sagen als all die geltungsbedürftige Wichtigtuer, Schulterklopfer oder Dauernörgler, die sich sonst in den Vordergrund drängen und bei Künstlern und Verantwortlichen aufdrängen wollen.
Viele Grüße
GeoBIX
Herzlichen Dank für Ihre freundlichen Worte!
LöschenZu Ihren Fragen: Ich habe beruflich nichts mit dem Badischen Staatstheater zu tun, sondern bin ein ganz gewöhnlicher privater Besucher und Abonnent, der lieber regelmäßig ins Theater geht, als Abende vor dem Fernseher zu verbringen. Für mich ist Theater also wahrnehmungsreiche Unterhaltung und Entspannung. Ich schreibe danach lieber, als daß ich währenddessen darüber rede und bin an Vorstellungsabenden nicht sehr ergiebig im Gespräch. Ich suche keine Öffentlichkeit oder Bekanntheit und habe auch keine "Insider-Informationen".
Ich stimme Ihnen und den anderen Enttäuschten zu: ich war entsetzt, wie einseitig man die Figuren gezeichnet hat: lauter unsympathische Jammerlappen, mit denen man nicht die geringste Anteilnahme fühlt. Die Inseznierung ist unreif, unrund und unheimlich langweilig. Nichts daran ist modern oder mutig - wie oben falsch behauptet. Es ist einfach nur schlecht - ein Regisseur für den Tschechow zu hoch ist und ihn deswegen trivialisiert. Es geht hier nicht um modern oder altmodisch, auch nicht um radikal oder gemäßigt, sondern nur um Qualität - und die stimmt nicht. Kein Wunder will keiner mehr in Karlsruhe ins Schauspiel!
AntwortenLöschenNachdem Sie meinen ersten Kommentar zur Möwe nicht veröffentlicht haben, möchte ich mich noch mal gemäßigter zu Wort melden. Die Möwe ist wieder eine herbe Enttäuschung für viele langjährigen und regelmäßigen Theaterbesucher. Ich finde es unverschämt, das gute Inszenierungen als altmodisch bezeichnet werden und man beim Schauspiel versucht mangelnde emotionale und intellektuelle Durchdringung hinter Worten wie "mutig" oder "radikal" zu verstecken. An dieser Möwe ist nur modern, daß die Personen auf der Bühne vulgär und platt sind. Ob man die Leute vom Fernseher ins Theater lockt, in dem man sich Dieter Bohlen als Charakter- und Subtilitätsolymp als Vorbild nimmt, ist doch stark zu bezweifeln.
AntwortenLöschenTK
@TK
LöschenVielen Dank für ihren zweiten Versuch. Ich kann die Richtung Ihres Kommentars gut nachvollziehen und glaube, daß es Ihnen wirklich um das Karlsruher Schauspiel und seine Qualität geht und sie die Enttäuschung der Möwe deshalb auch persönlich nehmen.
Allerdings will einwenden, daß man die in Ihren Worten "mangelnde emotionale und intellektuelle Durchdringung" nur dann feststellen könnte, wenn man ausführlich mit dem Regisseur gesprochen hätte. Bitte haben Sie auch zukünftig dafür Verständnis, daß ich das für grenzwertige Polemik halte, der ich auf meiner Seite keine Eskalationsbasis bieten will. Gegen oder für eine Inszenierung können Sie mit mir gerne diskutieren.
GENUG DER WORTE - BITTE BEACHTEN SIE: WEITERE KOMMENTARE WERDEN NUR NOCH VERÖFFENTLICHT, WENN SIE NEUE ASPEKTE BIETEN.
AntwortenLöschen