Tennessee Williams (1911-1983) ist ein Klassiker des 20. Jahrhunderts. Das 1957 am Broadway uraufgeführte Werk Orpheus steigt herab (Orpheus descending) steht in einer Reihe mit seinen berühmten Werken Die Glasmenagerie (1944), Endstation Sehnsucht (1947), Die Katze auf dem heißen Blechdach (1955), Süßer Vogel Jugend (1959), … Berühmte Verfilmungen (mit Schauspielern wie Elizabeth Taylor, Richard Burton, Paul Newman, Kirk Douglas) trugen zu Williams‘ Ruhm bei. Anna Magnani und Marlon Brando übernahmen die Hauptrollen in der Verfilmung dieses Stoffes. Wer diese Filme kennt, weiß um den speziellen Stil von Williams für den man starke Schauspieler benötigt, um die Rollen typgerecht auszufüllen.
In der griechischem Mythologie stieg Orpheus hinab in die Unterwelt, um seine tote Frau Eurydike zurückzuholen. Durch seinen Gesang konnte er Hades dazu bewegen, ihm seine verstorbene Gattin zurückzugeben, allerdings durfte er sich bei der Rückkehr in die Welt der Lebenden nicht nach ihr umdrehen. Doch er wendete sich um und verlor sie für immer. Orpheus stirbt einen brutalen Tod: er wird von den Mänaden zerrissen.
Orpheus steigt herab spielt im bigotten und rassistischen Milieu einer gewöhnlichen Kleinstadt der amerikanischen Südstaaten. Orpheus ist der junge Musiker Val Xavier, der auf der Suche nach einem Neuanfang in den Ort kommt, einen Aushilfsjob im Gemischtwarenladen des todkranken Jabe Torrance annimmt und dessen unglücklicher Frau Lady Torrance -Xaviers Eurydike- näher kommt. Das Haus der Torrances ist die Hölle und Jabe ist weniger ein mythologischer Hades, sondern ein hasserfüllter Teufel, der den Tod bringt und in sich trägt. Doch der Versuch der Trostlosigkeit zu entkommen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen hat fatale Folgen.
„Ich habe nur ein großes Thema für alles, was ich schreibe, und das ist der zerstörerische Einfluß der Gesellschaft auf das sensible, unangepasste Individuum", sagte Tennessee Williams. Darin liegt auch die Herausforderung bei der Inszenierung dieses Werks: angemessene und glaubwürdige Formen für Außenseitertum, Unangepassheit und Sensibilität zu finden; Rebellen auf die Bühne zu bringen, die der Stumpfsinnigkeit und Enge entkommen wollen.
Bei der gestrigen Premiere erlebte das Publikum eine ambivalente Produktion: interessant, aber mit Längen, in gewisser Weise spannend, aber klar missglückt.
Interessant und faszinierend ist immer noch der Tennessee Williams Sound: große Emotionen, große Gesten, große Sätze, die wie philosophische Thesen daherkommen und über die man im Deutsch-Leistungskurs freie Erörterungen schreiben kann. Doch wirkt diese Sprache in der Karlsruher Inszenierung nicht mehr authentisch und zeitgemäß, denn der Regisseur entwirft Charaktere, die zu klein und schwach sind für ihre Rollen. Bei ihnen sind die bekenntnishaften Aussagen nur aufgesagte Phrasen.
Schon in der Eingangsszene, in der man gehässig tratschende Nachbarinnen erwartet, wird die Vorgeschichte in melodramatischer Weise ausgebreitet. Man hört interessiert zu, und doch wirkt die erste Szene bereits zu langsam und im falschen Klang gespielt. Über weite Strecken plätschert dann der Abend vor sich hin, gibt es wenig Bewegung auf der Bühne und es gelingt den Akteuren nicht, innere Glaubwürdigkeit zu vermitteln. Man spürt das Unzeitgemäße an Williams Stil: die Szenen wirken konstruiert, die Situationen wie gestellt und mangels Personenregie sieht man Wirkungen ohne Ursachen. Die Personen bleiben Behauptung, seltsam fremd, leidenschaftslos und blutleer.
Der Regisseur Sebastian Schug verlässt sich über große Strecken auf den Text, unterstützt ihn aber nicht szenisch. Alle Nebenrollen bleiben dadurch blaß und sind nur Stichwortgeber ohne nennenswerte Beziehung zu den Hauptdarstellern. Das beengende, bigotte Milieu der Geschichte geht verloren. Die beiden Außenseiter Val Xavier und Carol Cutrere erscheinen als rebel without a cause, deren Antrieb unbestimmt bleibt.
Der Regisseur muß erkannt haben, daß man mit zunehmender Länge des Stückes, diese immer deutlicher spürt und versucht durch Provokation Langeweile zu unterbinden und von der Ödheit des Bühnengeschehens abzulenken. So lässt er Ute Baggeröhr, die das schwarze Schaf des Dorfs Carol Cutrere spielt, minutenlang komplett nackt agieren. Nacktheit auf der Bühne ist immer problematisch und für Teile des Publikums provokativ und unangenehm. Das hat nichts mit Verklemmtheit zu tun, sondern beruht auf einem Feingefühl, das Intimität nicht thematisieren möchte. Diskret ist, wer weiß, was er nicht gesehen hat. Nacktheit auf der Bühne ist also eine inszenatorische Nötigung des Publikums, Intimes über einen Fremden erfahren zu müssen, doch ohne künstlerischen Mehrwert. Selbst Exhibitionismus lässt sich knapp bekleidet passend darstellen. In dieser Sicht bleibt Nacktheit die Kapitulation des Regisseurs und das Stilmittel der Verzweiflung, um von der dramaturgischen Einfallslosigkeit abzulenken. Sebastian Schug versucht mit weiteren leeren Gesten Verwirrung zu stiften. So lässt er den cool-lässigen Val Xavier zum Strichjungen werden, der sich auf der Bühne an einen Freier verkauft. Die dargestellte Sex-Szene ist dann aber ein Klischee und eine Geste ohne Mehrwert. Klischee bleibt auch die Liebesszene zwischen den Hauptdarstellern: hinter einem halbdurchlässigen Vorhang zu einer kitschigen Videoeinspielung und musikalischer Beschallung bemüht sie sich um Filmhaftigkeit, bleibt aber auch vorrangig bemüht. Das schwache Schlußbild wirkt ebenso mehr gewollt als gekonnt.
Von den Schauspieler muß man Ute Baggeröhr hervorheben, nicht weil sie den Mut hat, nackt auf der Bühne zu stehen, sondern weil sie ihrer Rolle das stärkste Profil gibt. Joanna Kitzl ist eine wunderbare Schauspielerin – als Lady Torrance kämpft sie weniger gegen ihr verunglücktes Leben als gegen die misslungene Personenregie. Benjamin Berger imitiert als Val Xavier Marlon Brandos lakonische Coolness, doch beide, Kitzl und Berger, geben ihrer Rolle ein einseitiges Profil.
Fazit: Nicht empfehlenswert! Das Publikum gab für die Premiere nur mäßigen Applaus und tatsächlich ist es ein mäßige und enttäuschende Inszenierung, die sich bemüht, aber das Ziel verfehlt. Zuschauer gewinnt man damit nicht, geschweige denn Abonennten.
Während der letzten Intendanz hat Donald Berkenhoff als Regisseur amerikanische Klassiker in Karlsruhe auf die Bühne gebracht: sehr gute Inszenierungen von Tod einen Handlungsreisenden (2004), Hexenjagd (2004), Wer hat Angst vor Virginia Woolf (2006), Arsen und Spitzenhäubchen (2006), Eines langen Tages Reise in die Nacht (2007) und auch eine sehr intensive und spannende Produktion von Osage County (Eine Familie, 2011) des amerikanischen Autors Tracy Letts. Schauspielchef Jan Linders führt die Reihe nun mit Tennessee Williams‘ Orpheus descending erfolglos fort. Diese Produktion kann das Niveau der Vorjahre nicht halten.
Besetzung: Carol Cutrere: Ute Baggeröhr, Val Xavier: Benjamin Berger, Lady Torrance: Joanna Kitzl, Jabe Torrance: Hannes Fischer, Vee Talbott: Ursula Grossenbacher, Sheriff Talbott: Georg Krause,David Cutrere/ Uncle Pleasant: André Wagner, Beulah Binnings: Antonia Mohr, Pee Wee Binnings: Paul Grill, Dolly Hama: Janina Zschernig, Dog Hama: Simon Bauer, Ms Porter, Nurse: Laura Machauer, Eva Temple: Eva Derleder, Schwester Temple: Maria Lampert-Füllbeck
REGIE Sebastian Schug BÜHNE Thimo Plath KOSTÜME Nicole Zielke MUSIK Johannes Winde VIDEO Nazgol Emami
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.