Peter Handkes neustes (und vielleicht altersbedingt letztes) Theaterwerk Immer noch Sturm wurde im August 2011 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt. In Karlsruhe erfolgte nun die zweite Inszenierung. Nach den vorangegangenen, eher durchwachsenen und mäßigen Reaktionen des Karlsruher Publikums auf die beiden Handke Stücke Das Spiel vom Fragen (2008) und Die Stunde da wir nichts voneinander wussten (2011) ist das eine mutige und verdienstvolle Entscheidung des Schauspielchefs Jan Linders, die -so viel schon vorab- durch viel Premierenapplaus belohnt wurde.
Handke ist kein Autor für das breite Publikum und spaltet die Meinungen: Tiefsinn oder Geschwafel – sein Stil berührt magisch oder langweilt unendlich. Sein problematisches politisches Auftreten wurde von vielen Kritikern dazu verwendet, um den Künstler Handke durch den Menschen Handke zu erledigen. Doch berechtigte persönliche Vorbehalte gegen den Autor als Ursache künstlerischer Diskreditierung konnten Handkes Stellenwert als herausragende literarische Existenz im deutschsprachigen Raum bisher nicht nachdrücklich beeinträchtigen.
Handke hat in seinen Büchern immer wieder Familienerlebnisse verarbeitet. Knapp 40 Jahre nachdem Handke in der Erzählung Wunschloses Unglück das triste Leben und den Selbstmord seiner Mutter thematisierte, wendet er sich mit seinem biographischen Theaterstück Immer noch Sturm wiederum der eigenen Familiengeschichte zu. Ort und Zeit der Handlung: das Grenzgebiet zwischen Österreich und Slowenien - das Kärtner Jaunfeld während des Zweiten Weltkrieges. Die Personen: der Autor Handke als „Ich“, seine Mutter, deren Schwester und Brüder sowie die Großeltern.
Handkes „Ich“ reflektiert die Familiengeschichte, spricht mit seinen toten Verwandten, erlebt die Zeit seiner Geburt aus der Sicht des gealterten Schriftstellers. Der älteste Schauspieler auf der Bühne spielt dieses „Ich“, das die jüngste Rolle bei diesem Familientreffen ist. Eine Mischung aus Nacherzählung und Fiktion, bei der die unterscheidbaren Grenzen verfließen. Handkes Mutter, eine Kärntner Slowenin hatte ihren Sohn mit einem deutschen Wehrmachtssoldaten (und NSDAP Mitglied) gezeugt [und noch vor Handkes Geburt einen anderen deutschen Soldaten geheiratet (Adolf Bruno Handke († 1988), des Autors Stiefvater). Von seinem wahren Vater erfuhr Handke erst nach dem Abitur. Das wird allerdings von Handke nicht thematisiert.] Handkes Familie bekam den Krieg erst spät zu spüren und dann um so härter: österreichische Slowenen kamen in KZs. Drei der vier Geschwister der Mutter starben gewaltsam im Krieg – auf Seiten des Reiches oder im Widerstand.
Der Titel ist eine Regieanweisung aus Shakespeares König Lear: „Still storm“, immer noch Sturm, steht der Szene voran, in der der vereinsamte und verwirrte Lear über die Heide läuft und seiner Verbitterung und Verzweiflung über das Ende aller familiären Verbindlichkeiten mit dem flehenden Ruf nach Vergeltung und Vernichtung aller Ausdruck verleiht. Handkes Rückblick auf die eigene Familie ist komplexer: wütend und versöhnend, ironisch, kritisch und liebend. Immer noch Sturm ist hier der Sturm der Zeitgeschichte, dem das Individuum ohnmächtig und hilflos gegenübersteht. Ein Gegenentwurf zur Lear‘schen Not.
Der Regisseur Dominik Günther stand vor der Aufgabe den sehr umfangreichen Text zu kürzen und einen noch quasi unbekannten Text dem Publikum zugänglich zu machen. Bis zur Pause gelang das hervorragend! Die Einführung der Charaktere und die Entwicklung der innerfamiliären Konfliktstrukturen sind kurzweilig, witzig, abwechslungsreich und spannend und werden von einer ausgezeichneten Schauspielerriege getragen, aus der man keinen hervorheben kann: alle geben ihrer Rolle ein unverwechselbares Gesicht.
Nach der Pause verliert die Inszenierung deutlich an Dichte. Der Kriegsverlauf wird episodisch erzählt ohne daß schauspielerisch Neues hinzukommt. Am Ende wird über den Sinn der Geschichte geredet, doch leider in sehr klischeehafter und nichtssagender Konstellation ohne Tiefenwirkung und Erkenntniswert.
Der seit acht Jahren als freier Regisseur arbeitende Dominik Günther hat dennoch eine Arbeit abgeliefert, die die Zuschauer erreicht. Heike Vollmers Bühnenbild zeigt, daß ein Sofa, Matrazen und Ventilatoren reichen, um eine stimmige Atmosphäre zu erschaffen. Jan S. Beyer und Jörg Wockenfuß haben als Musik-/Tonexperten ebenfalls einen wichtigen Beitrag zum Erfolg geleistet. Es gab langen und starken Beifall und eindeutigen Premierenjubel.
Schade, daß die Studio-Premieren am Sonntagabend stattfinden. Wer montags früh zur Arbeit muß, kann sich über das Angebot an der Premierenfeier teilzunehmen nur bedingt freuen.
Fazit: Na also, geht doch! Der erste Teil bis zur Pause bietet die besten und dichtesten zwei Theaterstunden seit ziemlich genau einem Jahr (damals Tracy Letts Eine Familie: Osage County in der Inszenierung von Donald Berkenhoff). Großartige Schauspieler und eine gute Inszenierung kompensieren die schwächere letzte Stunde. Schade, daß Immer noch Sturm nicht in den Abonnementvorstellungen läuft, sondern nur im freien Verkauf. Es ist etwas zu befürchten, daß es nicht die Anzahl Zuschauer bekommt, die es verdient
Die sehr gute Besetzung: Das Handkesche Ich spielt Ronald Funke, Handkes Mutter ist Cornelia Gröschel, Tante Ursula: Sophia Löffler, Großmutter: Lisa Schlegel, Großvater: Timo Tank, Gregor: Robert Besta, Valentin: Jonas Riemer, Benjamin: Thomas Halle
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.
Toller Blog! Vielen Dank für ihre super Beschreibungen. Ich werde mir für Immer noch Sturm Karten besorgen.
AntwortenLöschenVielen Dank für Ihre Nachricht! Es freut mich, daß der Blog so gute Resonanz erhält :-)
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